„Diener des Volkes“ in der Krise: Machtkampf, Bestechung und Prostituierte
Am Sonntag wählte die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ ihren neuen Chef. Doch die Wahl von Olexander Kornijenko als neuen Parteivorsitzenden sorgte für einen Aufschrei. Denn die Skandale rund um die Selenskyj-Partei häufen sich.
„Die Partei muss sexy werden“, betonte Olexander Kornijenko, nachdem er am Sonntag im schicken Kongresszentrum Parkowyj, wo sich auch das Wahlquartier von Wolodymyr Selenskyj immer wieder befand, einstimmig zum Parteivorsitzenden von „Diener des Volkes” wählen ließ. Der bisherig Parteichef Dmytro Rasumkow wurde zu Beginn der neuen Legislaturperiode zum Parlamentsvorsitzenden gewählt. Deswegen musste die so wichtige Stelle auf einem Parteitag neu besetzt werden. Trotz der einstimmigen Wahl Kornijenkos verlief diese nicht reibungslos. Denn der Machtkampf innerhalb des „Diener des Volkes“ spitzt sich immer weiter zu. Und auch die Skandale rund um die Präsidentenpartei, die eigentlich alles anders als die Vorgänger machen wollte, mehren sich.
Sexskandal
Ob „sexy werden“ wirklich die angemessene Wortwahl Kornijenkos war, ist fraglich. Zumal der Sexskandal um den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses Bohdan Jaremenko zuletzt die ganz großen Schlagzeilen machte. Jaremenko hat nämlich im Sitzungssaal der Werchowna Rada mehr als einmal mit Prostituierten getextet, was Journalisten aus dem Pressebereich von oben abfotografieren konnten. Dies ist eine übliche, wenn auch moralisch fragwürdige Praxis im ukrainischen Journalismus, die in diesem Parlament bereits für einige Skandale gesorgt hat. Dass Jaremenko trotzdem im Parlamentssaal Preise mit Prostituierten vereinbart hat, ist jedoch vor allem durch Fahrlässigkeit zu erklären. Daher war es sicher etwas ungeschickt von ihm, von der Parlamentstribüne aus den Journalisten mit einer Haftstrafe wegen der Verletzung seines Privatlebens zu drohen. Trotzdem hat Jaremenko seinen Rücktritt als Vorsitzender des Ausschusses angeboten.
Kolomojskyj-Fraktion
Doch ist der Skandal um Jaremenko wohl eines der kleinsten Probleme, die “Diener des Volkes“ zurzeit hat. Dass der Einzug der 254 Politikneulinge ins Parlament, die gleich die absolute Mehrheit quasi als Zusatz bekommen haben, nicht völlig glatt läuft, war vorauszusehen. Die gute Nachricht ist: der Einfluss des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der als Eigentürmer des wichtigen Fernsehsenders 1+1 Selenskyj zu seinem Wahlsieg stark verholfen hat, ist wohl nicht so groß wie befürchtet, obwohl sein ehemaliger Anwalt Àndrij Bohdan als Chef des Präsidentenbüros eine wichtige Stellung hat – und auch trotz des Rücktritts des Sekretärs des Sicherheitsrates Olexander Danyljuk, der weder mit Bohdan noch mit Kolomojskyj selbst etwas anfangen konnte.
Zumindest die Partei und die Parlamentsfraktion scheinen eher von den persönlichen Freunden des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinen Ex-Kollegen von der Produktionsfirma Kwartal 95 sowie von den prowestlichen Politikern wie Fraktionschef Dawid Arachamija kontrolliert zu werden. Zu den Präsidentenfreunden soll unter anderem der Unternehmer Ilja Pawljuk aus Czernowitz gehören, der Medienberichten zufolge einen großen Einfluss auf den ukrainischen Zoll hat und eine Abgeordnetengruppe anführt, die mit der informellen Gruppe der Kolomojskyj-Abgeordneten innerhalb der Fraktion stark konkurriert. Der neue Parteichef Kornijenko soll Pawljuk nahestehen, das führte zu einem Aufschrei innerhalb der Partei.
Die Gruppe von Kolomojskyj, angeführt vom umstrittenen Journalisten und 1+1‑Moderator Olexander Dubinskyj, soll angeblich erst am Sonntag aus dem Internet von dem Parteitag erfahren haben. Das hat die Partei durch die Nichtmitgliedschaft von Dubinskyj und Co, die meist als Direktkandidaten in den Regionen ins Parlament gewählt, erklärt. Die Partei „Diener des Volkes“ hat die Gruppe zwar auf dem Parteitag formell als Mitglieder aufgenommen, aber erst nach der Wahl des Parteivorsitzenden, bei der nur knapp 50 Delegierten stimmberechtigt waren. Dennoch hat kurz zuvor Dubinskyj alle dazu aufgerufen, Kornijenko zu wählen; eine gewisse Unzufriedenheit war trotzdem deutlich zu spüren.
Die öffentliche Beilegung des Streits ist wohl dadurch zu erklären, dass andere Forderungen von Kolomojskyj womöglich erfüllt wurden. Für ihn sind angeblich lokale Strukturen sehr wichtig. Am 22. und 29. Dezember finden in einigen Kommunen Wahlen statt, „Diener des Volkes“ sollte 90 Kandidaten für die Ämter der Kommunenchefs aufstellen. Die Kolomojskyj-Gruppe hätte offenbar gerne ein Drittel der Regionen des Landes für sich beansprucht.
Doch sind es auch die Kolomojskyj-Leute, die in der Regel für die größten Skandale sorgen. Bemerkenswert zuletzt: der von Dubinskyj angeführte Finanzausschuss blockierte ein wichtiges Antikorruptionsgesetz im Immobilienbereich, das die Bewertung von Immobilien erleichtert. Von der bisherigen Gesetzgebung profitierte vor allem ein Kolomojskyj-naher Abgeordneter, der in diesem Bereich quasi eine Monopolstellung besitzt. Elf von 16 der “Diener des Volkes“-Abgeordneten stimmten gegen das Gesetz. Ex-Abgeordneter Serhij Leschtschenko warf ihnen im Nachhinein vor, dafür jeweils bis zu 30.000 US-Dollar erhalten zu haben. Fraktionschefs Arachamija und Dubinskyj absolvierten auf Vorschlag des Präsidenten Selenskyj eine Überprüfung mit dem Lügendetektor, die allerdings mehr für Show als für brisante Aussagen sorgte.
Streit innerhalb der Fraktion
Auch führt die Kolomojskyj-Gruppe einen halboffenen Streit gegen den Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka. Als die Rada vor kurzem über die Möglichkeit der von Rjaboschapka geforderten Festnahme des umstrittenen Abgeordneten Jaroslaw Dubnewytsch abstimmte, fehlten 44 Stimmen der Fraktion „Diener des Volkes“. Die eigentliche Größe der Kolomojskyj-Gruppe könnte also ungefähr in dem Bereich liegen.
Die Skandale rund um den „Diener des Volkes“ betreffen den Präsidenten Selenskyj bisher nicht persönlich. Dennoch: Je mehr es davon geben wird, desto mehr werden auch die Beliebtheitswerte des Staatsoberhauptes darunter leiden. Es sind aber nicht nur die Skandale, die hier wesentlich sind. Mit jeder Plenarwoche des Parlaments wird deutlicher, dass „Diener des Volkes“ aus mehreren Gruppen besteht, die zum Teil völlig unterschiedliche Interessen pflegen. Das könnte heißen: die absolute Mehrheit der Selenskyj-Partei ist eigentlich eine große Illusion, was die Dubnewytsch-Abstimmung bereits illustrierte. Im schlimmsten Fall könnte das jederzeit zu Neuwahlen des Parlaments führen. Die daraus resultierende Instabilität kann sich die Ukraine aber nicht leisten.
„Es war ein Risiko, nur die politisch unerfahrenen Kandidaten bei der Parlamentswahl aufzustellen, aber es war ein notwendiges Risiko“, sagte Wolodymyr Selenskyj neulich in einem seiner seltenen PR-Interview, traditionell in einem Tesla-Auto durchgeführt. Es passierten Fehler, die Richtung sei aber in Ordnung, ist das Urteil Selenskyjs zur Arbeit des neuen Parlaments. Doch viele Abläufe scheinen sich denen in vorherigen Parlamenten zu ähneln. So wurde der Bericht der durch die Verbindung zur prorussischen Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ umstrittenen Nachrichtenseite strana.ua, wonach die Abgeordneten des „Diener des Volkes“ „Zusatzgehälter“ von der Partei quasi in Briefumschlägen bekommen würden, durch den Schriftwechsel des Unternehmers und Abgeordneten Mykola Tyschtschenko mit einem Pranker indirekt bestätigt. Also doch alles wie bisher?
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