Corona in der Ukraine: Die Welle der Ungeimpften

Foto: Medizinisches Personal des Regionalen Klinischen Krankenhauses für Infektionskrankheiten des Regionalrates von Saporischschja, wo derzeit 99 Prozent der Betten mit Corona-Infizierten belegt sind. @ Dmytro Smoliyenko / Imago Images
Die Ukraine hat eine der niedrigsten Impfquoten in Europa und kämpft gerade gegen die bisher schwerste Covid-Welle. Die Einführung der Impfpflicht für einige Berufe sowie Freiheiten für Geimpfte sollen nun die Lage verbessern. Dies scheint zu funktionieren, aber gefälschte Impfausweise sind ein Risiko. Von Denis Trubetskoy
Seit Wochen befindet sich die Ukraine in der dritten Corona-Welle, die bisher deutlich ernster verläuft als die beiden vorherigen. So starben allein am 21. Oktober 614 Menschen an Komplikationen nach einer Corona-Erkrankung, der höchste Tageswert seit Pandemiebeginn. In der Woche vor dem 18. Oktober stieg die Zahl der Krankenhauseinweisungen Experten zufolge um 21 Prozent, während die Sterblichkeit um 17 Prozent wuchs – und die Tendenz bleibt stark steigend.
Nach Angaben der Referenz-Webseite Worldometer lag die Ukraine vergangene Woche mit 3.239 Toten auf Platz zwei bei den absoluten Todeszahlen in Europa, und mit knapp 94.000 Neuinfektionen auf Platz drei.
Während die Ukraine Anfang des Jahres schlicht nicht genügend Impfstoff zur Verfügung hatte, sind inzwischen auch die Präparate von Pfizer/BioNTech und Moderna frei zugänglich. Aktuell besteht zumindest in großen Städten kein Problem, sich quasi von heute auf morgen für eine Impfung anzumelden. Nach offiziellen Angaben hatte die Ukraine mit Stand vor einer Woche rund 14 Millionen Dosen zur Verfügung.
Wie auch in Deutschland gilt die neue Covid-Welle, für deren Heftigkeit die Delta-Variante des Virus verantwortlich gemacht wird, vor allem als Welle der Ungeimpften. Stand 24. Oktober waren in der Ukraine knapp sieben Millionen Menschen vollständig geimpft, rund 17 Prozent der Gesamtbevölkerung von rund 40 Millionen. Mindestens eine Impfung haben fast 22 Prozent erhalten.
Unter der erwachsenen Bevölkerung liegt die Impfquote laut Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko bei rund 30 Prozent.
Hier konkurriert die Ukraine mit Ländern wie Bosnien, Moldau und Bulgarien um die niedrigste Quote auf dem Kontinent.
Mit Cherson, Odessa, Saporischschja, Donezk, Dnipro und Sumy befinden sich seit 25. Oktober gleich sechs ukrainische Regionen in der so genannten roten Zone. Am 26. Oktober kommen noch Mykolajiw und Riwne dazu, in der Hauptstadt Kyjiw wird die Entscheidung über die Verhängung des „Rot“-Status von Tag zu Tag erwartet. Anders als bei früheren Lockdowns können diesmal jedoch Einschränkungen wie die Schließung von Gastronomie oder Kinos umgangen werden – wenn alle Besucher und Mitarbeiter geimpft sind oder einen frischen, nicht mehr als 72 Stunden alten PCR-Test vorweisen können. Anders als in Deutschland spielt es keine Rolle, ob man genesen ist.
Ähnliche Regeln gelten seit dem 21. Oktober landesweit für den Fernverkehr. Züge, Flugzeuge und Busse dürfen nur von Geimpften oder von Bürgern mit negativem Tst genutzt werden. Für eine Reise von einer rote-Zone-Region in eine andere „rote“ Region muss man vollständig geimpft sein, sonst reicht eine Impfung. Während etwa Impfzertifikate in Flugzeugen und Zügen tatsächlich kontrolliert werden, ist das in Fernbussen offenbar nicht mehr der Fall.
Die Regeln für den Nahverkehr werden dagegen von lokalen Behörden bestimmt. So müssen Fahrgäste im ostukrainischen Saporischschja einen Impfnachweis oder einen frischen Test vorweisen. In anderen Regionen ist das bisher nicht der Fall, in Kyjiw ist eine solche Maßnahme ebenfalls nicht geplant.
Einem Bericht des ukrainischen Dienstes der BBC zufolge sind rund 97 Prozent der Covid-Patienten in den Krankenhäusern ungeimpft.
Doch wo liegen die eigentlichen Wurzeln der großen Impfskepsis der Ukrainer? Im August ergab eine Umfrage der Stiftung Demokratische Initiativen gemeinsam mit dem Zentrum für Politische Soziologie, dass sich mehr als 56 Prozent der Ukrainer nicht impfen wollen. Als Hauptgrund wird das niedrige Vertrauen der Bevölkerung in den Staat vermutet. Genannt werden aber auch zwei andere Gründe: die Menschen halten Impfstoffe für unzureichend getestet und haben Bedenken über mögliche Folgen und Nebenwirkungen – auch wenn Serhij Dubrow, Präsident des ukrainischen Anästhesistenverbandes versichert, dass seit Beginn der Impfkampagne nur etwas mehr als 100 schwere Komplikationen aufgetreten seien – wohlgemerkt bei knapp 7 Millionen Impfungen.
Aber auch die Motivation der Geimpften und der Impfwilligen ist ein Hinweis auf die grundlegende Impfskepsis.
Für über 45 Prozent dieser Gruppe ist vor allem der Wunsch ausschlaggebend, während eines neuerlichen Lockdowns arbeiten zu können, während „nur“ 42 Prozent tatsächlich glauben, dass die Impfung vor dem Coronavirus schützt.
Zudem fällt auf, dass die großen ukrainischen Fernsehsender und Prominente wie der früher durchaus impfskeptische TV-Journalist Dmytro Gordon zuletzt massiv für die Impfung geworben haben. Gleichzeitig verabschiedete die Regierung eine Impflicht für bestimmte Berufe, die im November in Kraft treten soll. Zunächst betroffen sind Mitarbeiter im Bildungswesen sowie in der öffentlichen Verwaltung. Gesundheitsminister Ljaschko hat bereits angekündigt, die Liste zu erweitern.
Eine Impfpflicht wird von der ukrainischen Bevölkerung grundsätzlich abgelehnt: Laut der Umfrage vom August sind fast 52 Prozent dagegen. Dennoch fährt die Regierung einen klaren Kurs und die partielle Impflicht sowie die Aufhebung der Einschränkungen für Geimpfte in roten Zonen sorgen tatsächlich für einen Impfanstieg.
An der Echtheit zumindest einiger gemeldeter Impfungen gibt es aber berechtigte Zweifel. Letzte Woche etwa sorgte die ehemalige Parlamentsabgeordnete Nadija Sawtschenko für Aufregegung, als sie und ihre Schwester mit offensichtlich gefälschten Impfnachweisen am Kyjiwer Flughafen Boryspil erwischt wurden. Zudem sind dem Autor zwei voneinander unabhängige Fälle in Kyjiw bekannt, wo offenbar Personendaten in elektronische Impfdatenbanken eingetragen wurden, ohne dass Impfungen durchgeführt wurden. Der Preis dafür soll bei etwas mehr als umgerechnet 200 Euro gelegen haben.
Nach Angaben der stellvertretenden Gesundheitsministerin Marija Kartschewytsch wurden in mindestens 15 Gesundheitseinrichtungen möglicherweise medizinische Daten gefälscht. Bis 5. Oktober waren deswegen 486 Verfahren eingeleitet und 85 Personen zu Verdächtigen erklärt worden.
Zudem macht im Moment noch eine Nachahmung der staatlichen Corona-App Dija die Runde. Mit der Fake-App kann man zum Beispiel Restaurant-Personal leicht täuschen, wenn dieses den QR-Code nur anschaut, aber nicht scannt – was etwa in Odesa tatsächlich in vielen Restaurants der Fall ist.
Wie weit solche Fälschungen verbreitet sind, lässt sich schwer einschätzen – insgesamt dürfte die Zahl echter Impfungen deutlich über der Zahl gefälschter Nachweise liegen. Jüngste Gesetzesverschärfungen zeigen aber, dass die Regierung das Problem ernst nimmt: Inhabern gefälschter Impfausweise drohen nun theoretisch bis zu zwei Jahren Haft.
So oder so stehen der Ukraine schwere Wochen und Monate bevor: Experten sind sich einig, dass der Höhepunkt der aktuellen Pandemie-Welle das Land noch nicht erreicht hat.
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