„Mein Name stand auf ihrer Liste“
Ihor Todorow ist Professor für internationale Beziehungen an der westukrainischen Universität Uschhorod. Bis 2014 lehrte er an der Nationalen Universität Donezk. Für unsere Reihe „Fluchtgeschichten“ blickt er sieben Jahre nach seiner Flucht auf die Ereignisse in seiner ostukrainischen Heimat zurück.
30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit sind ein Grund zum Feiern. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass Krieg und Besetzung in Teilen des Landes weitergehen. Seit nunmehr sieben Jahren gibt es knapp 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine, deren Hoffnung, in ihre Heimatregion zurückzukehren, stetig schwindet. Ukraine verstehen veröffentlicht deshalb ausgewählte Essays von Geflüchteten, die an die Ereignisse von 2014 erinnern.
Die Stadt Donezk sowie die Oblaste Donezk und Luhansk waren, anders als jüngst von Russlands Präsident Wladimir Putin in einem Aufsatz behauptet, niemals Teil der Russischen Sowjetrepublik. Vielmehr hatte der benachbarte russische Bezirk Taganrog in den 1920er Jahren zur Ukrainischen SSR gehört. Doch die Eigenart der Bevölkerungsentwicklung der großen Städte des Südens und des Ostens (nicht nur des Donbas) standen der Verbreitung einer ukrainischen Identität entgegen. Mehr als 20 Jahre Unabhängigkeit haben daran wenig geändert, auch wenn mehr als 80 Prozent der Einwohner beider Oblaste Donezk und Luhansk in einer Volksabstimmung am 1. Dezember 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine befürworteten.
Der bereits in den 1990er Jahren proklamierte Kurs in Richtung europäischer Integration war für den Donbas eine echte Chance zur Modernisierung. Auf einer Konferenz in Donezk im Sommer 2013 habe ich in Gegenwart des deutschen Generalkonsuls Klaus Zillikens und der damaligen Bundestagsabgeordneten Viola von Cramon gesagt, dass der Donbas die Lokomotive der europäischen Integration der Ukraine ist. Doch das Fehlen einer ukrainischen Identität unter seinen Einwohnern bremst ihre Fahrt. Gleichwohl gibt es keinen Anhaltspunkt für einen Donbas-spezifischen Separatismus. Seit 2006 existierte eine nicht-registrierte zivilgesellschaftliche Organisation namens „Republik Donezk“, die mit Symbolen der heutigen „Volksrepublik Donezk“ auftrat. Bei ihren Aktionen kamen 40 bis 50 Männer zusammen. Einheimische betrachteten diese Gruppe als Sammelbecken für Durchgeknallte.
In Donezk zeigte sich ein zwiespältiges Verhältnis zum Kyjiwer Euromaidan. Vermutlich verurteilte die Mehrheit die Aktionen in der Hauptstadt. Nichtsdestotrotz stießen die Donezker Euromaidan-Aktivisten bis Mitte Januar 2014 auf keinen nennenswerten Widerstand. Ab Ende November hatten sich vor dem Taras-Schewtschenko-Denkmal täglich mehrere dutzend, sonntags bis zu einhundert, Menschen versammelt. Man organisierte sogar eine Vorlesungsreihe („Maidan-Universität“). Ich selbst hielt eine Vorlesung über die europäische Integration der Ukraine. Interessanterweise waren meine Zuhörer mehrheitlich fortgeschrittenen Alters.
Ein Großteil der Bildungselite der Region blickte mit Hoffnung und sogar Euphorie auf die Revolution der Würde in Kyjiw. Die Mehrheit der Bevölkerung aber verhielt sich abwartend, nennenswerter Widerstand gegen die neue Regierung in Kyjiw kam nicht auf. Dies änderte sich abrupt am 1. März: Plötzlich schien es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, der den so genannten russischen Frühling auslöste. Und zwar in acht Städten im Süden und Osten der Ukraine gleichzeitig. Das Ausmaß der „Proteste“ war unterschiedlich – je näher die russische Grenze war, desto stärker wurden sie.
Damals sah ich zum ersten Mal die russische Trikolore in meiner Heimatstadt, verbunden mit einer Menschenmenge, die an einen Haufen Zombies erinnerte. Und ich sah die Organisatoren der Demonstrationen gegen den Staat und der Besetzung von Verwaltungsgebäuden. Man nannte sie „russo turisto“ (ein geflügeltes Wort aus dem sowjetischen Film „Brilliantowaja Ruka“ („Der Brillianten-Arm) von 1969, Anm des Übersetzers“).
Sie fragten nach dem Weg zum Lenin-Platz – was Einheimische nie tun würden – und auf die Frage: „Wie spät ist es?“, antworteten sie mit der Moskauer Zeit, die zwei Stunden vor der Donezker lag. Sie zerrissen Symbole des für die meisten Donezker heiligen Fußballvereins „Schachtar“ und fielen durch ihre für den Donbass untypische klare russische Aussprache auf.
Richtig wild wurden die Außenseiter und angereisten Russen beim 200-jährigen Jubiläum Taras Schewtschenkos. Autos mit ukrainischen Flaggen wurden demoliert. Eine meiner Studentinnen wurde vor der orthodoxen Kathedrale verprügelt, weil sie ein kleines gelb-blaues Bändchen an der Jacke trug. Ihr Versuch in der Kirche, die dem Moskauer Patriarchat untersteht, Schutz zu suchen, blieb erfolglos.
Es war klar, dass die Aktivitäten dieser „Gäste“ vom Staatsschutz toleriert wurden. Mit der Zeit wurde daraus offener Verrat durch einen Großteil der Polizei und des Geheimdienstes SBU. Sie schützten die proukrainischen Demonstrationen nicht, sondern förderten ihre Zerschlagung durch die von den Moskauer Geheimdiensten organisierten Außenseiter. Nach der Ermordung des Swoboda-Aktivisten Dmytro Tschernjawskyj auf dem Lenin-Platz am Morgen des 14. März fragte meine Frau einen Polizisten, ob er denn kein ukrainischer Polizist sei und weshalb er die russische Flagge nicht von der Säule entferne. Der antwortete, dass er sie nicht dort aufgehängt habe und sie daher auch nicht abhängen müsse. Nach Ausrufung der „Volksrepublik Donezk“ wurde das SBU-Gebäude inklusive Munitionslager gestürmt. Ein mir bekannter Offizier gab offen zu, dass sein Vorgesetzter befohlen hatte, nicht zur Arbeit zu gehen, denn die Büros seien ja besetzt.
Im April 2014 herrschte in Donezk ein Gefühl der kognitiven Dissonanz. Auf dem Platz vor dem Regionalregierungsgebäude hielten die Außenseiter eine permanente Demonstration ab, eine Art Kirmes für die Gäste der Stadt. Ein Viertel weiter ging das alltägliche Leben weiter. Die Menschen saßen in schicken Cafés und junge Mütter gingen mit ihren Kindern spazieren. Doch im Mai änderte sich die Lage. Auf den Straßen erschienen mehr und mehr Bewaffnete, darunter auch Kämpfer aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien, sogenannte Kadyrowzy. Ein sogenanntes Referendum über die Unabhängigkeit der „Volksrepublik“ wurde durchgeführt. Die Präsidentschaftswahlen der Ukraine am 25. Mai fanden hier nicht statt. Donezk war faktisch besetzt. Es tauchten Plakate auf, die die „Helden Strelkows“ rühmten, die Männer des russischen Geheimdienstoffiziers Igor Girkin (genannt Strelkow), der zu jener Zeit über Slowjansk herrschte.
Für proukrainisch eingestellte Menschen wurde es in der Stadt zunehmend gefährlich. An meiner Arbeitsstelle in der Universität wurde bekannt, dass Listen mit den Namen derer kursierten, die als erstes „in den Keller“ mitgenommen werden sollten. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass auf einer von ihnen auch mein Name stand.
Heute ist mir klar, dass ich damals mit meinem Leben spielte. Wir verließen Donezk erst am 4. Juli.
Im Frühling 2014 hatte ich noch die naive Hoffnung, dass man im Westen versteht, was hier vor sich geht (immerhin wurden zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa wieder Ländergrenzen auf gewaltsame Weise verschoben), und dass man Putin mit vereinten Kräften stoppen kann. Ich habe europäischen, amerikanischen und japanischen Medien dutzende Interviews zu diesem Thema gegeben. Doch abgesehen von „tiefer Beunruhigung“ und den Sanktionen hat sich seither in der Sache nichts bewegt. Stattdessen verbringe ich, wie 1,5 Millionen meiner Landsleute, nun bereits das achte Jahr als Umsiedler, faktisch als Flüchtling im eigenen Land. Eine Rückkehr ist leider nicht in Sicht. Vielmehr wächst die Gefahr einer weiteren russischen Expansion. Und im Westen schenkt man den Preisschildern währenddessen weiterhin mehr Aufmerksamkeit als den realen Werten.
Übersetzung aus dem Ukrainischen von Dario Planert.
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