Selen­skyjs abso­lute Mehr­heit: Gefahr für den ukrai­ni­schen Parlamentarismus?

© Shut­ter­stock

Die große Anzahl junger und ver­meint­lich pro­west­li­cher Gesich­ter in der neuen ukrai­ni­schen Regie­rung sollte den Westen nicht täu­schen: Die junge ukrai­ni­sche Demo­kra­tie steht vor einer großen Her­aus­for­de­rung. Die Macht­kon­zen­tra­tion in den Händen von Prä­si­dent Selen­skyj – unab­hän­gig davon, welche Pläne er für seine Politik hat – trans­for­miert die poli­ti­sche Land­schaft zu einer gefähr­li­chen, unaus­ge­wo­ge­nen Macht­py­ra­mide mitsamt einer eigenen Dynamik. Diese Dynamik der Macht­kon­zen­tra­tion gefähr­det neben der Judi­ka­tive und den Medien vor allem die Legis­la­tive: Die Wer­chowna Rada.

Portrait von Sumlenny

Sergej Sum­lenny ist geschäfts­füh­ren­der Gesell­schaf­ter des Euro­pean Resi­li­ence Initia­tive Center in Berlin.

In den letzten Jahren ent­wi­ckelte sich die Ukraine zu einer par­la­men­ta­risch-prä­si­den­ti­el­len Repu­blik, welche die Kom­pe­ten­zen des Prä­si­den­ten durch ein starkes Par­la­ment begrenzte. Das aus vielen unter­schied­li­chen Frak­tio­nen bestehende Par­la­ment genoss zwar wenig Ver­trauen in der Bevöl­ke­rung, konnte aber mehr­fach die Macht­an­sprü­che des Prä­si­den­ten blo­ckie­ren. So ist es im Novem­ber 2018 Prä­si­dent Poro­schenko nicht gelun­gen, das Kriegs­recht im ganzen Land für zwei Monate zu ver­hän­gen (was de facto eine Ver­schie­bung der Prä­si­dent­schafts­wah­len bedeu­tet hätte), weil das Par­la­ment dem Prä­si­den­ten einen Kom­pro­miss abrang und sich seinem Macht­an­spruch wider­setzte. Diese Rolle einer »demo­kra­ti­schen Bremse« ver­liert das Par­la­ment in den letzten Wochen. Es besteht die Gefahr, dass das Par­la­ment zu einem Sta­tis­ten degra­diert wird, wenn die »Diener des Volkes« den Willen des Prä­si­den­ten nur noch abseg­nen, ohne Fragen zu stellen.

Diese Ent­wick­lung kommt nicht über­ra­schend. Schon Mitte Juni äußerte Ruslan Ste­fant­schuk, damals noch Berater von Prä­si­dent Selen­skyj und nun Vize­Spre­cher des Par­la­ments, dass »Diener des Volkes« eine »Mono­par­tei« werden solle, die über die Hälfte der Sitze im Par­la­ment kon­trol­lie­ren und »die volle Ver­ant­wor­tung für das Gesche­hen im Lande« über­neh­men werde. Dieses Ziel scheint erreicht zu sein. Mit rund 56 Prozent der Sitze im Par­la­ment wählten die »Diener des Volkes« gleich in der ersten Par­la­ments­sit­zung Mit­glie­der ihrer Frak­tion zu Prä­si­dent und Vize-Prä­si­dent des Par­la­ments sowie zu Vor­sit­zen­den von 19 der 23 par­la­men­ta­ri­schen Aus­schüsse. Der abso­lute Macht­an­spruch der »Diener des Volkes« mani­fes­tiert sich auch in der neuen Sitz­ver­tei­lung. So wurden quer durchs Plenum alle ersten Reihen durch die »Diener des Volkes« besetzt, während die anderen Frak­tio­nen in die hin­te­ren Sitz­rei­hen ver­drängt wurden. Offen­bar soll dadurch die regie­rende Partei im Notfall das Red­ner­pult einfach phy­sisch blo­ckie­ren können, um Oppo­si­tio­nelle nicht zu Wort kommen zu lassen. Diese Befürch­tun­gen wurden am 30. August befeu­ert, als Gruppen männ­li­cher Abge­ord­ne­ter der »Diener des Volkes« alle Durch­gänge während der Abstim­mung über die Auf­he­bung der poli­ti­schen Immu­ni­tät blo­ckier­ten und so jeg­li­chen Versuch der Oppo­si­tion, zum Red­ner­pult zu gelan­gen, im Keim unterbanden.

Interne Dis­zi­plin scheint inner­halb der größten Frak­tion im Par­la­ment eine her­aus­ra­gende Rolle zu spielen: Ende Juni wurde ein spe­zi­el­les Trai­ning für alle neu gewähl­ten »Diener des Volkes« orga­ni­siert. Laut einer gele­ak­ten Audio­auf­nahme erklärte der erfah­rene Polit­coach Mykyta Poty­ra­jew den Abge­ord­ne­ten mehr­fach, diese seien »niemand« und säßen nur dank Prä­si­dent Selen­skyj im Parlament.

Auch wurde viel Gewicht auf die Ent­mach­tung der ein­zel­nen Abge­ord­ne­ten und auf die Stär­kung der Par­tei­dis­zi­plin gelegt. Binnen einer Woche ver­ab­schie­dete das Par­la­ment die Auf­he­bung der poli­ti­schen Immu­ni­tät – eine For­de­rung, die schon viele Jahre auf der Agenda des Par­la­ments stand, über die aber nie abge­stimmt wurde. Par­al­lel dazu stimmte das Par­la­ment in erster Lesung für einen Gesetz­ent­wurf des Prä­si­den­ten, der Abge­ord­ne­ten ihr Mandat ent­zieht, wenn sie aus ihrer Frak­tion aus­tre­ten oder wenn sie mehr als ein Drittel der Par­la­ments- oder Aus­schuss­sit­zun­gen »ohne trif­ti­gen Grund« ver­pas­sen. Solche Maß­nah­men sind zwar in der Bevöl­ke­rung aus nach­voll­zieh­ba­ren Gründen populär, schrän­ken aber die Unab­hän­gig­keit von Abge­ord­ne­ten dras­tisch ein.

Weiter sollten in der Frak­tion »Diener des Volkes« interne Regeln aus­ge­ar­bei­tet werden, welche ein Verbot vor­se­hen, ohne Geneh­mi­gung der Partei mit der Presse zu spre­chen. Ein gene­rel­les Recht, mit der Presse zu spre­chen, wurde nur drei Per­so­nen erteilt: dem Par­la­ments­prä­si­den­ten Dmytro Raz­um­kow, dem Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Dawid Aracha­mia und seinem ersten Stell­ver­tre­ter Olex­andr Kor­ni­jenko. Weitere 50 Abge­ord­nete aus der Frak­tion dürfen in begrenz­tem Maße in Talk­shows auf­tre­ten, sollen dafür aber mit fer­ti­gen Ant­wor­ten vor­be­rei­tet werden. Ob und wie die rest­li­chen knapp 200 Abge­ord­ne­ten der Frak­tion mit Medien spre­chen dürfen, bleibt unklar.

Erheb­li­cher Druck auf die Par­la­men­ta­rier, von denen mehr als 80 Prozent erst­mals im Par­la­ment sitzen und poli­tisch uner­fah­ren sind, kommt auch vom Prä­si­den­ten. In seiner Rede während der kon­sti­tu­ie­ren­den Sitzung des neuen Par­la­ments drohte er den Abge­ord­ne­ten mit der Auf­lö­sung der Rada in einem Jahr, sollten sich die Par­la­men­ta­rier »unver­ant­wort­lich« beneh­men – er habe schon erfah­ren, so Selen­skyj, dass die Auf­lö­sung des Par­la­ments »gar nicht so schlimm« sei. Dabei wäre eine solche Auf­lö­sung des Par­la­ments nach einer »Pro­be­zeit« ver­fas­sungs­recht­lich gar nicht vor­ge­se­hen. Einen Abge­ord­ne­ten der oppo­si­tio­nel­len Poro­schenko-Partei, der auf eine Ver­let­zung der Sit­zungs­ord­nung durch Par­la­ments­prä­si­dent Raz­um­kow hinwies, schrie Selen­sky an mit den Worten: »Warum heulen Sie so?«.

Dem Appell des Prä­si­den­ten bei der kon­sti­tu­ie­ren­den Sitzung des Par­la­ments, nun schnell Gesetze zu ver­ab­schie­den, folgten die »Diener des Volkes« umge­hend: Par­la­ments-Vize-Prä­si­dent Ste­fant­schuk sagte in einem Video­in­ter­view, dass bereits 465 Ver­fas­sungs­än­de­run­gen vor­be­rei­tet worden sein sollen (bei 161 Arti­keln der Ver­fas­sung). Wich­tige Geset­zes­vor­ha­ben wurden noch am ersten Sit­zungs­tag abge­stimmt und an die ent­spre­chen­den Aus­schüsse gelei­tet – ohne, dass die Abge­ord­ne­ten die Ent­würfe über­haupt vorher ein­se­hen konnten. So wurden bei der ersten Sitzung des Par­la­ments Gesetz­ent­würfe über die Jus­tiz­re­form, über einen »Neu­start der Staats­macht«, über die Unter­ord­nung der Natio­nal­garde unter den Prä­si­den­ten sowie viele weitere ver­ab­schie­det. Dabei kam es zu kurio­sen Argu­men­ta­tio­nen: So soll die Zustim­mung zur umstrit­te­nen Kan­di­da­tur von Innen­mi­nis­ter Awakow laut einer gele­ak­ten SMS einer Abge­ord­ne­ten der »Diener des Volkes« damit begrün­det worden sein, dass Ex-Prä­si­dent Poro­schenko für Dezem­ber einen »Putsch« plane und es des­we­gen wichtig wäre, Awakow im Amt zu belassen.

Die Bereit­schaft, ohne Rück­spra­che und Dis­kus­sio­nen für Geset­zes­ent­würfe des Prä­si­den­ten zu stimmen, kann eine gefähr­li­che Ent­wick­lung bedeu­ten. Viele der durch­ge­wun­ke­nen Refor­men erwei­tern die prä­si­dia­len Kom­pe­ten­zen enorm: So soll der Prä­si­dent u. a. das Recht bekom­men, die Leitung des Natio­na­len Anti­kor­rup­ti­ons­bü­ros der Ukraine (NABU) und des wich­ti­gen Unter­su­chungs­gre­mi­ums DRB zu ernen­nen und zu ent­las­sen. Der Prä­si­dent soll auch das Recht erhal­ten, neue Organe zur Regu­lie­rung und Kon­trolle der Wirt­schaft zu schaf­fen und zu beset­zen, was ihm auch im Bereich der Wirt­schaft, eigent­lich einer Kern­kom­pe­tenz des Pre­miers, großen Ein­fluss geben würde. Auch andere Gesetz­ent­würfe sehen weit­rei­chende Ver­fas­sungs­än­de­run­gen und die Aus­wei­tung der Kom­pe­ten­zen des Prä­si­den­ten vor.

Mit der hohen Zahl von Ver­fas­sungs­än­de­run­gen ist die Ent­wick­lung des ukrai­ni­schen Par­la­men­ta­ris­mus in eine gefähr­li­che Phase geraten. Eine Aus­höh­lung des Par­la­ments, eine Umver­tei­lung der Kom­pe­ten­zen zuguns­ten des Prä­si­den­ten und die offen­sicht­li­che poli­ti­sche Uner­fah­ren­heit der neuen Abge­ord­ne­ten bringen das bis­he­rige Macht­sys­tem ins Wanken. Die west­li­chen Partner der Ukraine sind daher ange­hal­ten, die ukrai­ni­sche Politik vor diesen Gefah­ren zu warnen, und sich nicht mit der bloßen Hoff­nung abzu­ge­ben, dass die gegen­wär­tige Umver­tei­lung »für Refor­men not­wen­dig« sei.

Dieser Artikel erschien zuerst in den Ukraine-Ana­ly­sen Nr. 221 vom 12.09.2019. 

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