Gang durch die Hölle

Foto: Sergei Bobylev /​ Imago Images

Die Jour­na­lis­tin Nadiya Suk­horu­kova hat die ersten Wochen der rus­si­schen Bela­ge­rung von Mariu­pol mit­er­lebt. Hier erzählt sie von ihrem Alltag zwi­schen Angst, Ver­ges­sen und Verlust.

Wissen Sie, was für eine Angst ich habe, das Haus zu ver­las­sen, auch wenn es nur einige Minuten dauert? Ich muss mir immer wieder klar­ma­chen, dass ich nicht mehr in der Hölle bin. Doch ich höre wei­ter­hin den Lärm der Flug­zeuge. Ich zittere wei­ter­hin bei jedem lauten Geräusch. Ich ziehe meinen Kopf ein. Ich habe Angst, wenn jemand hin­aus­geht. In der Hölle von Mariu­pol sind nämlich nicht alle, die gegan­gen sind, auch wieder zurückgekehrt.

Bis das Haus unserer Freunde zer­bombt wurde, haben sich dort viele Men­schen ver­sam­melt. Sie kamen zwi­schen den Beschüs­sen vorbei und haben erzählt, was sie in anderen Straßen gesehen haben. Die zier­li­che Anja aus dem fünf­zehn­stö­cki­gen Haus kam jeden Tag. Ihre Eltern wohnten neben der Schule in der Kirow-Straße und sie hat sich große Sorgen um sie gemacht. Sie konnte sie nicht zu sich holen. Für die Eltern war die Distanz von zwei Hal­te­stel­len unüber­wind­bar. Ihre Wohnung befand sich unter dem Dach. Die Flug­zeuge, die die Stadt zer­bomb­ten, flogen – so schien es – direkt über der Zimmerdecke.

Jeden Tag ging Anja unter Beschuss zu ihren Eltern. Die Schüsse pfiffen ihr um die Ohren, Bomben schlu­gen neben ihr auf dem Boden ein. Sie warf sich nieder und bedeckte ihren Kopf mit den Händen. Sie hatte große Angst. Hätte sie den Weg in fried­li­chen Zeiten zurück­ge­legt, wäre er nicht so lang gewesen. Aber während der Bom­bar­die­run­gen wurde der Gang fast unmög­lich. Anja ging diesen Weg zweimal pro Tag. Auf dem Rückweg sah sie die Ver­än­de­run­gen. Häuser, die am Tag zuvor noch ganz dastan­den, wurden über Nacht zu Ruinen. Die schwar­zen Löcher in den aus­ge­brann­ten Fens­tern wirkten wie dunkle Augen.

Jeder Tag machte sie durchsichtiger

Für mich war Anja eine Heldin. Sie besuchte ihre Eltern und kam zu uns ins Haus in der Osi­penko-Straße. Um durch­zu­at­men, bevor sie in ihre eigene Wohnung ging. Sie trank Wasser, stand im Zim­mer­ein­gang und schwieg. Manch­mal brachte sie wert­volle Dinge wie Windeln oder Creme für Nikita mit. Nikita war erst eine Woche alt und lebte seit seiner Geburt im Keller des Hauses. Er sah aus wie ein gelbes Küken. Ihm fehlte das Sonnenlicht.

Jeden Tag ver­än­derte sich Anja mehr, genauso wie unsere Stadt. Sie wurde immer durch­sich­ti­ger, und die schwar­zen Ringe unter den Augen wurden immer größer. Anja aß nichts. Sie sagte: „Ich kann nichts zu mir nehmen, es geht nicht rein.“ Über das, was sie auf ihren Wegen durch die Stadt sah, hat sie nicht gespro­chen. Unter uns befan­den sich viele Kinder und sie wollte nie­man­dem einen Schreck einjagen.

Als die rus­si­sche Armee mit dem unun­ter­bro­che­nen Beschuss unseres Bezirks begann, ging Anja nur noch alle paar Tage zu ihren Eltern. Ich stellte mir vor, dass sie so zier­lich und durch­sich­tig ist, dass die Split­ter sie einfach nicht treffen konnten.

Nachdem eine Granate ins Haus unserer Bekann­ten ein­ge­schla­gen war, zogen wir in ein anderes Haus. Danach haben wir Anja nicht mehr gesehen. Sie ist immer noch in Mariu­pol. Sie hat kein Auto, ihre Eltern sind schon alt und sie besitzt ein paar Katzen.

Ein letztes Versprechen

Am 11. März ist der Ehemann einer guten Freun­din von mir umge­kom­men. Am Tag zuvor waren sie beide noch bei uns und wir haben gemein­sam davon geträumt, wie wir uns alle nach dem Krieg wie­der­se­hen. Viktor, der Ehemann meiner Freun­din, ein talen­tier­ter Kame­ra­mann, der sonst sehr schweig­sam ist, ver­sprach mir, dass wir uns auf jeden Fall nach dem Sieg treffen würden. Er konnte sein Ver­spre­chen nicht halten.

Am Tag darauf, als alles um uns herum don­nerte und klap­perte, so als würde man eine gigan­ti­sche Glas­scheibe mit einer Stahl­säge schnei­den, hörten wir den Lärm eines Flug­zeugs ganz in der Nähe. Die Älteren lagen auf einem langen Sofa und haben sich die Köpfe mit Kopf­kis­sen zuge­deckt. Ich kniff noch dazu die Augen zu. Bis jetzt weiß ich nicht, warum. Mir schien, als könnte mich das Kissen vor der Bombe retten. In diesem Moment rannte der 13-jährige Sascha ins Haus. Er schrie: „Ich bin es, Sascha! Gerade eben flog etwas in unser Haus. Das ist das Ende.“

Wir fragten ihn, wo seine Mama war und ob alle am Leben waren? Er sagte, alle seien am Leben, sein Papa liege unter den Trüm­mern und seine Mama ver­su­che ihn aus­zu­gra­ben. Kurz darauf stellte sich heraus, dass sein Papa für immer ver­gra­ben sein würde. Einer der besten Kame­ra­män­ner, eine leuch­tende Gestalt, ein lie­ben­der Vater und Ehemann, ein ruhiger Mensch mit einem guten Herzen, lag nun mit zer­trüm­mer­ten Kopf und mit einem unna­tür­lich ver­dreh­ten Bein in seiner eigenen Wohnung im neunten Stock. Ihn zu beer­di­gen oder gar her­aus­zu­ho­len war nicht möglich.

Ein paar Tage später brannte der ganze Haus­auf­gang zusam­men mit Viktor aus. Wieder hatte eine Bombe direkt ins Haus getroffen.

Wir haben vergessen

In Mariu­pol verlor vieles an Wich­tig­keit. Wir haben von einem Teller geges­sen, damit wir kein Wasser für den Abwasch ver­schwen­den mussten. Wir schlie­fen alle zusam­men auf Matrat­zen, weil es so wärmer war. Wir trugen Mützen und stürz­ten uns auf jeden, den wir trafen, um Neu­ig­kei­ten aus dem Nach­bar­hof zu erfah­ren. Wir haben ver­ges­sen, dass es Super­märkte gibt. Dass man den Fern­se­her anma­chen kann. Dass man über sozia­len Medien kom­mu­ni­zie­ren kann. Dass man duschen und in einem rich­ti­gen Bett schla­fen kann.

Heute habe ich erfah­ren, dass in der gesam­ten Zeit der Blo­ckade weniger als 40.000 Men­schen aus der Stadt fliehen konnten. [Stand 20. März]
Noch immer befin­den sich hun­dert­tau­sende Men­schen in der Hölle von Mariu­pol.  Mit jedem Tag sinkt ihre Überlebenschance.

Bitte helfen Sie ihnen. Ver­brei­ten Sie die Wahr­heit über meine Stadt.

Nadiya Suk­horu­kova ist Jour­na­lis­tin und kommt aus Mariu­pol, wo sie die ersten 20 Tage der rus­si­schen Bela­ge­rung erlebte. Ein kom­plet­tes Tage­buch ihrer Erleb­nisse ver­öf­fent­lichte das Ukraine-Journal in deut­scher Sprache. Unser Text umfasst ihren Eintrag vom 20. März, über­setzt von Olek­san­dra Bienert und Sven Schapeler.

Textende

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