Gang durch die Hölle
Die Journalistin Nadiya Sukhorukova hat die ersten Wochen der russischen Belagerung von Mariupol miterlebt. Hier erzählt sie von ihrem Alltag zwischen Angst, Vergessen und Verlust.
Wissen Sie, was für eine Angst ich habe, das Haus zu verlassen, auch wenn es nur einige Minuten dauert? Ich muss mir immer wieder klarmachen, dass ich nicht mehr in der Hölle bin. Doch ich höre weiterhin den Lärm der Flugzeuge. Ich zittere weiterhin bei jedem lauten Geräusch. Ich ziehe meinen Kopf ein. Ich habe Angst, wenn jemand hinausgeht. In der Hölle von Mariupol sind nämlich nicht alle, die gegangen sind, auch wieder zurückgekehrt.
Bis das Haus unserer Freunde zerbombt wurde, haben sich dort viele Menschen versammelt. Sie kamen zwischen den Beschüssen vorbei und haben erzählt, was sie in anderen Straßen gesehen haben. Die zierliche Anja aus dem fünfzehnstöckigen Haus kam jeden Tag. Ihre Eltern wohnten neben der Schule in der Kirow-Straße und sie hat sich große Sorgen um sie gemacht. Sie konnte sie nicht zu sich holen. Für die Eltern war die Distanz von zwei Haltestellen unüberwindbar. Ihre Wohnung befand sich unter dem Dach. Die Flugzeuge, die die Stadt zerbombten, flogen – so schien es – direkt über der Zimmerdecke.
Jeden Tag ging Anja unter Beschuss zu ihren Eltern. Die Schüsse pfiffen ihr um die Ohren, Bomben schlugen neben ihr auf dem Boden ein. Sie warf sich nieder und bedeckte ihren Kopf mit den Händen. Sie hatte große Angst. Hätte sie den Weg in friedlichen Zeiten zurückgelegt, wäre er nicht so lang gewesen. Aber während der Bombardierungen wurde der Gang fast unmöglich. Anja ging diesen Weg zweimal pro Tag. Auf dem Rückweg sah sie die Veränderungen. Häuser, die am Tag zuvor noch ganz dastanden, wurden über Nacht zu Ruinen. Die schwarzen Löcher in den ausgebrannten Fenstern wirkten wie dunkle Augen.
Jeder Tag machte sie durchsichtiger
Für mich war Anja eine Heldin. Sie besuchte ihre Eltern und kam zu uns ins Haus in der Osipenko-Straße. Um durchzuatmen, bevor sie in ihre eigene Wohnung ging. Sie trank Wasser, stand im Zimmereingang und schwieg. Manchmal brachte sie wertvolle Dinge wie Windeln oder Creme für Nikita mit. Nikita war erst eine Woche alt und lebte seit seiner Geburt im Keller des Hauses. Er sah aus wie ein gelbes Küken. Ihm fehlte das Sonnenlicht.
Jeden Tag veränderte sich Anja mehr, genauso wie unsere Stadt. Sie wurde immer durchsichtiger, und die schwarzen Ringe unter den Augen wurden immer größer. Anja aß nichts. Sie sagte: „Ich kann nichts zu mir nehmen, es geht nicht rein.“ Über das, was sie auf ihren Wegen durch die Stadt sah, hat sie nicht gesprochen. Unter uns befanden sich viele Kinder und sie wollte niemandem einen Schreck einjagen.
Als die russische Armee mit dem ununterbrochenen Beschuss unseres Bezirks begann, ging Anja nur noch alle paar Tage zu ihren Eltern. Ich stellte mir vor, dass sie so zierlich und durchsichtig ist, dass die Splitter sie einfach nicht treffen konnten.
Nachdem eine Granate ins Haus unserer Bekannten eingeschlagen war, zogen wir in ein anderes Haus. Danach haben wir Anja nicht mehr gesehen. Sie ist immer noch in Mariupol. Sie hat kein Auto, ihre Eltern sind schon alt und sie besitzt ein paar Katzen.
Ein letztes Versprechen
Am 11. März ist der Ehemann einer guten Freundin von mir umgekommen. Am Tag zuvor waren sie beide noch bei uns und wir haben gemeinsam davon geträumt, wie wir uns alle nach dem Krieg wiedersehen. Viktor, der Ehemann meiner Freundin, ein talentierter Kameramann, der sonst sehr schweigsam ist, versprach mir, dass wir uns auf jeden Fall nach dem Sieg treffen würden. Er konnte sein Versprechen nicht halten.
Am Tag darauf, als alles um uns herum donnerte und klapperte, so als würde man eine gigantische Glasscheibe mit einer Stahlsäge schneiden, hörten wir den Lärm eines Flugzeugs ganz in der Nähe. Die Älteren lagen auf einem langen Sofa und haben sich die Köpfe mit Kopfkissen zugedeckt. Ich kniff noch dazu die Augen zu. Bis jetzt weiß ich nicht, warum. Mir schien, als könnte mich das Kissen vor der Bombe retten. In diesem Moment rannte der 13-jährige Sascha ins Haus. Er schrie: „Ich bin es, Sascha! Gerade eben flog etwas in unser Haus. Das ist das Ende.“
Wir fragten ihn, wo seine Mama war und ob alle am Leben waren? Er sagte, alle seien am Leben, sein Papa liege unter den Trümmern und seine Mama versuche ihn auszugraben. Kurz darauf stellte sich heraus, dass sein Papa für immer vergraben sein würde. Einer der besten Kameramänner, eine leuchtende Gestalt, ein liebender Vater und Ehemann, ein ruhiger Mensch mit einem guten Herzen, lag nun mit zertrümmerten Kopf und mit einem unnatürlich verdrehten Bein in seiner eigenen Wohnung im neunten Stock. Ihn zu beerdigen oder gar herauszuholen war nicht möglich.
Ein paar Tage später brannte der ganze Hausaufgang zusammen mit Viktor aus. Wieder hatte eine Bombe direkt ins Haus getroffen.
Wir haben vergessen
In Mariupol verlor vieles an Wichtigkeit. Wir haben von einem Teller gegessen, damit wir kein Wasser für den Abwasch verschwenden mussten. Wir schliefen alle zusammen auf Matratzen, weil es so wärmer war. Wir trugen Mützen und stürzten uns auf jeden, den wir trafen, um Neuigkeiten aus dem Nachbarhof zu erfahren. Wir haben vergessen, dass es Supermärkte gibt. Dass man den Fernseher anmachen kann. Dass man über sozialen Medien kommunizieren kann. Dass man duschen und in einem richtigen Bett schlafen kann.
Heute habe ich erfahren, dass in der gesamten Zeit der Blockade weniger als 40.000 Menschen aus der Stadt fliehen konnten. [Stand 20. März]
Noch immer befinden sich hunderttausende Menschen in der Hölle von Mariupol. Mit jedem Tag sinkt ihre Überlebenschance.
Bitte helfen Sie ihnen. Verbreiten Sie die Wahrheit über meine Stadt.
Nadiya Sukhorukova ist Journalistin und kommt aus Mariupol, wo sie die ersten 20 Tage der russischen Belagerung erlebte. Ein komplettes Tagebuch ihrer Erlebnisse veröffentlichte das Ukraine-Journal in deutscher Sprache. Unser Text umfasst ihren Eintrag vom 20. März, übersetzt von Oleksandra Bienert und Sven Schapeler.
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