„Indem wir Hin­der­nisse über­win­den, werden wir stärker“

© Pri­va­tes Archiv /​​ Stu­ka­now

Der Jour­na­list Serhij Stu­ka­now arbei­tet derzeit als Mode­ra­tor beim öffent­li­chen Radio­sen­der Sus­pilne und als Experte in einer Medi­en­be­ra­tungs­firma. Außer­dem enga­giert er sich in der Zivil­ge­sell­schaft. Vor seinem Weggang aus seiner Hei­mat­stadt Donezk hatte der stu­dierte His­to­ri­ker dort einen Klub für Ukrai­nisch­spre­cher gegrün­det. Für unsere Reihe „Flucht­ge­schich­ten“ ana­ly­siert er seine Erfah­run­gen nach 2014.

30 Jahre ukrai­ni­sche Unab­hän­gig­keit sind ein Grund zum Feiern. Dabei sollten wir aber nicht ver­ges­sen, dass Krieg und Beset­zung in Teilen des Landes wei­ter­ge­hen. Seit nunmehr sieben Jahren gibt es knapp 1,5 Mil­lio­nen Bin­nen­flücht­linge in der Ukraine, deren Hoff­nung, in ihre Hei­mat­re­gion zurück­zu­keh­ren, stetig schwin­det. Ukraine ver­ste­hen ver­öf­fent­licht deshalb aus­ge­wählte Essays von Geflüch­te­ten, die an die Ereig­nisse von 2014 erinnern.

Die Krim-Anne­xion und das Ent­fa­chen des Krieges im Donbas durch die Rus­si­sche Föde­ra­tion im Jahr 2014 teilen nicht nur die Geschichte der unab­hän­gi­gen Ukraine in ein Vorher und Nachher. Sie stellen eine Her­aus­for­de­rung für die gesamte west­li­che Zivi­li­sa­tion dar, weil es sich um eine grobe Ver­let­zung des inter­na­tio­na­len Rechts handelt. Doch über die Men­schen, von geschicht­li­chen Ereig­nis­sen solchen Aus­ma­ßes betrof­fen sind, wird kaum geredet. Ihr Leben ver­än­dert sich von Grund auf, ob sie dies wollen oder nicht. Dabei ist es egal, ob sie aktive Teil­neh­mer an den schick­sal­haf­ten Umbrü­chen sind, oder nur passive Beob­ach­ter, oder gar Opfer.

Die Beset­zung des öst­li­chen Teils des Donbas ist das Ergeb­nis einer Reihe von Fak­to­ren, zual­ler­erst der mili­tä­ri­schen Aggres­sion Russ­lands mit Bei­hilfe und Lan­des­ver­rat durch lokale „Eliten“ und Sicher­heits­or­gane. Trotz­dem muss man auch akzep­tie­ren, dass ein Teil der lokalen Bevöl­ke­rung sich jubelnd ins Unge­wisse stürzte, ohne die Folgen zu bedenken.

Im Früh­jahr 2014 sah ich wie schein­bar intel­li­gente Leute, die an der Uni­ver­si­tät arbei­te­ten, wie gebannt auf ein „Krim­sze­na­rio“ im Donbas war­te­ten. Dabei hofften sie, dass ihnen der Anschluss an Russ­land rus­si­sche Renten besche­ren würde. Dies geschah, als in der Nähe von Slo­wjansk bereits Kämpfe tobten und sich Donezk langsam in ein von illegal bewaff­ne­ten Kräften besetz­tes Lager ver­wan­delte. Sich einmal die Augen zu reiben, das Gehirn ein­zu­schal­ten und nach­zu­den­ken, um zu ver­ste­hen, dass ein Anschluss an Russ­land „ohne einen ein­zi­gen Schuss“ a priori nicht funk­tio­nie­ren könnte, war für diese Men­schen offen­bar zu schwer. Viele konnten nicht ver­ste­hen, dass sie durch ihr Handeln die Ver­wand­lung der Region in eine „Grau­zone“ ohne poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Per­spek­ti­ven auf Jahr­zehnte, ermöglichen.

Dabei ist Grau­zone längst nicht das einzige Problem. Denn selbst wenn sich im Donbas das Krim-Sze­na­rio auf wun­der­same Weise wie­der­holt hätte, hätte dies kata­stro­phale Folgen, etwa eine totale Ver­nich­tung des gesell­schaft­li­chen Lebens. Alle, die die Ideo­lo­gie der „Rus­si­schen Welt“ nicht teilen, wären Repres­sio­nen aus­ge­setzt, so wie dies heute auf der von Russ­land annek­tier­ten Krim zu beob­ach­ten ist.

Ich gehörte natür­lich zu jenen, die unter keinen Umstän­den in einem von Russ­land besetz­ten Donezk wohnen wollten. Deshalb beob­ach­tete ich die Dynamik der Ereig­nisse und dachte bereits ab April über einen Umzug nach, der mit jedem Tag unaus­weich­li­cher schien. Bis zu einem gewis­sen Punkt ver­such­ten wir ja noch zu kämpfen und unser Ziel einer geein­ten und unteil­ba­ren Ukraine durch fried­li­chen Protest zu errei­chen. Die erste Mas­sen­de­mons­tra­tion fand am 4. März statt, die letzte am 28. April. Doch fast jede Zusam­men­kunft endete mit einem Angriff pro­rus­si­scher Kräfte, die unter den Augen der Polizei die fried­li­chen und unbe­waff­ne­ten Demons­tran­ten mit Knüp­peln, Fäusten und Stöcken ver­prü­gel­ten. Par­al­lel dazu begann eine Hetz­jagd auf pro-ukrai­ni­sche Akti­vis­ten, meis­tens Orga­ni­sa­to­ren des Don­ze­ker Euro­mai­dan. Im April und Mai mussten sie buch­stäb­lich aus der Stadt fliehen, um nicht getötet zu werden, wie es zum Bespiel mit dem Stadt­rat Wolo­dymyr Rybak aus dem benach­bar­ten Hor­liwka geschah.

Obwohl ich nicht zu den Euro­mai­dan-Orga­ni­sa­to­ren gehörte und deshalb nicht vor­der­grün­dig im Blick­feld der pro-rus­si­schen Ban­di­ten war, waren meine pro-ukrai­ni­schen Akti­vi­tä­ten in Donezk bekannt. Nicht zuletzt wegen meiner Leitung des Ukrai­nisch-Sprach­clubs genau ein Jahr vor der Revo­lu­tion der Würde, schien mir ein Platz unter den poten­zi­el­len Opfern der zweiten Reihe sicher. 

Mein Kyjiwer Bekann­ter Taras rief mich deshalb seit April dazu auf, Donezk zu ver­las­sen. Zu jenem Zeit­punkt arbei­tete ich jedoch als Phi­lo­so­phie­do­zent an einer Donez­ker Hoch­schule und empfand meine Arbeit als wichtig und ent­schied, bis Semes­ter­ende zu bleiben. Noch im Juni nahm ich Prü­fun­gen ab und hatte ver­schie­dene Lehr­do­ku­men­ta­tio­nen und andere For­ma­li­tä­ten zu erle­di­gen. Neben­bei berei­tete ich aber meinen Umzug vor und schickte Bewer­bun­gen an Hoch­schu­len in Lwiw und Kyjiw. Da ich mein ganzes Leben in einer Mil­lio­nen­stadt gelebt hatte, konnte ich mir keinen Umzug in einen klei­ne­ren Ort vor­stel­len. Gleich­zei­tig wollte ich nicht eine rus­si­fi­zierte Stadt gegen eine andere tau­schen. Wenn ich schon umzie­hen sollte, dann zumin­dest in eine Stadt, in der über­wie­gend Ukrai­nisch (Lwiw), oder zumin­dest in zivil­ge­sell­schaft­li­chen Bereich vor­nehm­lich Ukrai­nisch (Kyjiw) gespro­chen wurde. Andere ukrai­ni­sche Mil­lio­nen­städte wie Dnipro, Odesa oder Charkiw, die der Größe nach gepasst hätten, fielen durch das Sprach­kri­te­rium aus.

Ich muss betonen, dass ein Wegzug aus Donezk für mich keine lebens­be­droh­li­che Tra­gö­die war. Viel­mehr gaben mir die dama­li­gen Umstände einen lang ersehn­ten Impuls zu handeln, der mir vorher gefehlt hatte. Die Erkennt­nis, dass mir Donezk zu „eng“ und „stickig“ war und ich früher oder später ohnehin ins mir mental nähere Kyjiw oder Lwiw umzie­hen wollte, war mir schon einige Jahre vor Beginn des Krieges klar­ge­wor­den. Doch eine gewisse Träg­heit und der Unwille, die eigene Kom­fort­zone zu ver­las­sen sowie lokale Kon­takte und Ver­pflich­tun­gen ließen mich in Donezk aus­har­ren. 2014 zwangen mich die Ent­wick­lun­gen dazu, mich von meinem alten Leben zu ver­ab­schie­den. Zwar machte ich mir Sorgen, doch ich han­delte im Ver­trauen, dass es so sein musste und richtig war. Ich wurde gerade 30 und durch­schritt dabei die Über­gangs­pe­ri­ode vom Jugend­li­chen zum Erwach­se­nen. Aiußer­dem war das ein Alter, in dem man mutig noch einmal von vorn begin­nen konnte.

Unbe­streit­bar fiel mir als 30-jäh­ri­gen Jung­ge­sel­len der Umzug ungleich leich­ter als zehn­tau­sen­den anderen Bin­nen­flücht­lin­gen, die sich mit ver­schie­dens­ten Schwie­rig­kei­ten kon­fron­tiert sahen. 

Ich nahm also meine halb­volle Tasche, kaufte mir eine Zug­fahr­karte nach Kyjiw und verließ Donezk am 4. Juli in Rich­tung Haupt­stadt. Mit den Jahren schei­nen die Worte von der halb­vol­len Tasche den Ein­druck von Leicht­sinn zu ver­mit­teln, doch in jenem Moment hatte ich nicht das Gefühl, die Stadt für immer zu ver­las­sen. Immer­hin begann unter dem neu­ge­wähl­ten Prä­si­dent Petro Poro­schenko Anfang Juli die aktive Phase der Anti­ter­ror­ope­ra­tion (ATO), und die ukrai­ni­sche Armee eroberte zusam­men mit Frei­wil­li­gen­ver­bän­den bis Mitte August einen Ort nach dem anderen zurück. Bis zu den Ereig­nis­sen, die als Schlacht von Ilo­wa­jsk bekannt wurden, blieb die Hoff­nung, dass Donezk befreit würde.

In das Dunkel von Angst und Trauer warf die Tat­sa­che, dass mir eine Frau, um die ich damals schon mehr­mals gewor­ben hatte, mich unver­mit­telt auf­for­derte, sie mit­zu­neh­men. Also ver­lie­ßen wir gemein­sam Donezk und blieben zusam­men in Kyjiw und anschlie­ßend in Lwiw. Auch wenn sich unsere Wege vor andert­halb Jahren end­gül­tig trenn­ten, war der Sommer 2014 dank dieser Bezie­hung heller und fröh­li­cher für mich. Die andert­halb Monate in Kyjiw ver­brach­ten wir bei meinem bereits erwähn­ten Bekann­ten Taras, der meiner Freun­din und mir seine Wohnung über­ließ, während er mit seiner Familie ver­reist war.

Als ich dann das Angebot bekam, an einer Hoch­schule in Lwiw zu arbei­ten, war klar, dass es keinen Weg zurück nach Donezk gab – wir zogen weiter in den Westen.

Der ver­reg­nete Herbst in Lwiw 2014 war psy­cho­lo­gisch eine Her­aus­for­de­rung, doch gab es gleich­zei­tig fan­tas­ti­sche Erfah­run­gen des Ein­le­bens und der Anpas­sung: Woh­nungs­su­che, Arbeits­su­che und die Bekannt­schaft mit neuen Men­schen. Der Versuch sich selbst in einer neuen Stadt zurecht­zu­fin­den. Zusam­men mit der unglaub­li­chen Atmo­sphäre des mit­tel­al­ter­li­chen Lwiw erzeugte das eine Stim­mung, die ich nie ver­ges­sen werde. Die Hürden mobi­li­sier­ten unge­ahnte Kräfte in mir. Denn wenn wir Schwie­rig­kei­ten und Hin­der­nisse über­win­den, werden wir stärker. Genau das fühlte ich, damals im Herbst 2014.

Über­set­zung aus dem Ukrai­ni­schen von Simon Muschick.

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