Weshalb eine europäische Perspektive für die Ukraine im Interesse Deutschlands ist
Während der Triell-Debatte zur außenpolitischen Agenda der deutschen Kanzlerkandidat:Innen fragte der ukrainische Präsident Selenskyj diese nach der EU-Beitrittsperspektive der Ukraine – und erhielt von den meisten Teilnehmenden der Runde eine eher ernüchternde Antwort: im Vordergrund stehe eine Reform der Entscheidungsverfahren der EU sowie eine Integration der Länder des westlichen Balkans. Doch es gibt eine Reihe von Argumenten, warum die kommende deutsche Regierung die Eröffnung einer europäischen Perspektive in Anspruch nehmen soll. Von Dmytro Shulga
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Zumindest brachte Selenskyj’s Frage für die politischen Entscheidungsträger aus der Ukraine eine sehr unbequeme Realität zum Vorschein. In der gesamten EU-Nachbarschaft bleiben die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien die einzigen demokratischen Länder mit EU-Ambitionen. Dennoch ist diesen Ländern bislang noch nicht einmal eine potenzielle Mitgliedschaftsperspektive für die EU angeboten worden.
Im Jahr 2004 – dem Jahr der EU-Osterweiterung – begründete die EU unter dem Grundsatz „alles außer Institutionen“ die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP). Als Reaktion auf den friedlichen Verlauf der demokratischen “Orangen Revolution“ und die daran anschließenden demokratischen Wahlen in der Ukraine Ende 2004 unterbreitete die EU ein konkreteres Angebot, indem sie Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen (AA) inklusive einer vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) aufnahm – zunächst mit der Ukraine, später mit der Republik Moldau und mit Georgien.
2014 ratifizierte die EU diese Abkommen mit der Ukraine, der Republik Moldau sowie Georgien. In den Präambeln “erkennt” die EU “die auf Europa gerichteten Bestrebungen an“ und „begrüßt [ihre] Entscheidung für Europa“, gleichzeitig lassen die Abkommen „künftige Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der EU“ und den jeweiligen Ländern zueinander zu. Seitdem haben sich die Beziehungen tatsächlich deutlich weiterentwickelt. Mit Unterstützung der EU sind die drei Länder die Modernisierung ihrer Volkswirtschaften angegangen, haben die Handelsströme diversifiziert, die Energiesicherheit erhöht, die Mobilität (visafreies Reisen), die Zivilgesellschaft sowie den politischen Pluralismus gestärkt.
Der russischen Aggression zum Trotz erlebte die Ukraine in den vergangenen Jahren nicht nur eine „Revolution des Volkes“, sondern auch freie und faire Wahlen, friedliche demokratische Regierungswechsel sowie anhaltende Reformen zur Gewährleistung von guter Regierungsführung und Rechtstaatlichkeit – die natürlich bei weitem noch nicht abgeschlossen sind. Dennoch ist eine EU-freundliche Regierung an der Macht, und das strategische Ziel des EU-Beitritts ist in den Verfassungen der Ukraine und Georgien verankert. Auf diese Weise hat die Ukraine “Europa” und seine demokratischen Grundwerte als Teil ihrer modernen nationalen Identität angenommen.
Daher ist in den ukrainischen, moldauischen und georgischen Gesellschaften die Erwartung weitverbreitet, dass die EU einen Schritt weitergeht und diesen Ländern eine langfristige Beitrittsperspektive zugesteht. Dies wird weithin als langfristiges Unterfangen verstanden, deren Verwirklichung viele Jahre oder gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird und von der Erfüllung strenger Kriterien abhängt.
Dies bedeutet nicht die unmittelbare Verleihung eines Kandidatenstatus. Zuerst müssen die Beitrittskandidaten nachweisen, dass sie die politischen Kriterien erfüllen: Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten. Es liegt auf der Hand, dass es noch viele weitere Jahre dauern wird, bis diese Länder die Kriterien erfüllen und Beitrittskandidaten werden können. Zum Zeitpunkt der Kandidatur und der Beitrittsverhandlungen werden sowohl die EU als auch die jeweiligen Länder sich von ihrem aktuellen Zustand erheblich unterscheiden.
Man sollte die grundlegende Tatsache nicht vergessen, das gemäß Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union jeder europäische Staat einen Antrag auf Mitgliedschaft bei der EU stellen kann, sofern er die demokratischen und rechtstaatlichen Standards der EU einhält. Es gibt also keinen objektiven Grund, weshalb die EU der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien eine solche potenzielle und langfristige Beitrittsperspektive verwehrt.
Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass sich das Europäische Parlament, welches die EU-Bürger repräsentiert, bereits wiederholt für eine solche Beitrittsperspektive dieser drei Länder ausgesprochen hat. Diese Forderungen fanden die Unterstützung einer überwältigenden Mehrheit aller Europaabgeordneten quer durch alle großen Fraktionen – inklusive der Christ- und Sozialdemokraten, der Liberalen und der Grünen.
Somit ist der einzige Grund dafür, dass eine solche europäische Perspektive noch nicht von der EU anerkannt wurde, im fehlenden Konsens unter den EU-Mitgliedstaaten zu suchen. Während die östlichen Mitglieder (wie Polen und weitere) den potenziellen Beitritt ihres Nachbarn unterstützten, zeigen sich andere Mitglieder – insbesondere Deutschland, aber auch Frankreich und die Niederlande – bisher zurückhaltend.
Argumente für die Eröffnung einer EU-Beitrittsperspektive
Es gibt jedoch eine Reihe von guten Argumenten, warum die kommende deutsche Regierung es als in ihrem ureigenen Interesse und dem politischen Kalkül ihres Landes entsprechend bewerten könnte, ihre Haltung gegenüber der Eröffnung einer europäischen Perspektive für die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien zu überdenken.
Vor allem wäre eine vertiefte Integration der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens die beste politische Antwort Europas auf die russische Aggression in der Region und darüber hinaus – effektiv, ohne provokativ zu sein. Dies würde die Widerstandsfähigkeit der drei Länder stärken und gleichzeitig eine eskalierende Konfrontation mit Russland vermeiden.
Darüber hinaus könnte die Integration in die EU und andere westliche Institutionen diesen Ländern auf lange Sicht bei der Modernisierung helfen und so ihre Soft Power (verstanden als Attraktivität gegenüber der Bevölkerung in den aktuell von Russland besetzten Regionen) stärken – ähnlich, wie dies einst für Westdeutschland der Fall gewesen ist.
Andernfalls würde die EU, sofern sie sich als wenig ambitioniert erweist, anderen Mächten direkt in die Hände spielen bei ihren Versuchen, ihren Einfluss in der Region zu vergrößern. Während die Rolle Russlands bei der Verletzung von international anerkannten Grenzen durch militärische Gewalt offensichtlich ist, setzt die chinesische Politik in der Region vor allem auf wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auf diese Weise ist China seit kurzer Zeit zum Handelspartner Nr. 1 dieser Länder geworden.
Der jüngste Abschluss eines Abkommens zwischen der Ukraine und China zur Kooperation bei Infrastrukturmaßnahmen sollte jedoch ein echter Weckruf für die EU sein. In diesem Zusammenhang schrieb die chinesische Presse unverhohlen, dass „die Ukraine China nur deshalb so sehr umgarnt, da die EU und die NATO kein großes Interesse an einem Betritt der Ukraine gezeigt haben“. Diese Trends haben weitreichende Folgen für die zentralen Interessen und Werte der EU in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und auf globaler Ebene.
Die EU sollte keine Zeit mehr verlieren. Es gibt keinen Grund, bis zur vollständigen Integration der Länder des westlichen Balkan zu warten, bevor man den osteuropäischen Partnern eine Beitrittsperspektive in Aussicht stellt. Einer aktuellen Untersuchung des in Brüssel ansässigen Centre for European Policy Studies (CEPS) zufolge lassen sich die Ukraine, die Republik Moldau sowie Georgien in Hinblick auf ihre Anpassung an den Acquis communautaire schon jetzt mit den Ländern des westlichen Balkan vergleichen. Der Ansatz der EU muss objektiv und diskriminierungsfrei sein und den Wettbewerb um die Erfüllung der Kriterien ankurbeln.
Deutschland und die EU müssen die jungen Demokratien in Europa unterstützen. Eine EU-Perspektive würde den proeuropäischen Reformern in diesen Ländern ein machtvolles Instrument in die Hand geben. Umgekehrt würde ein ausbleibendes Entgegenkommen seitens der EU anti-europäischen innenpolitischen Kräften, Oligarchen, Nationalisten sowie regionalen Neo-Autoritären dabei helfen, den Kurs dieser Länder umzukehren.
Eine EU-Integration dieser drei Länder steht auch in Einklang mit der deutschen Klimapolitik, da sie dabei helfen würde, die langfristigen Ziele des European Green Deals der Dekarbonisierung und eines klimaneutralen europäischen Kontinents zu verwirklichen – und das nicht nur durch notwendige Anpassungen der energieintensiven Industrien, sondern auch durch eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung neuer Technologien für grünes Wachstum. So definiert beispielsweise die EU-Wasserstroffstrategie für ein klimaneutrales Europa die Ukraine schon jetzt als vorrangigen Partner der EU bei der Entwicklung der dafür notwendigen Technologie.
Das steht auch in Einklang mit den wirtschaftlichen Interessen Europas. Die Implementierung der AAs/DCFTAs hat sowohl diesen Ländern als auch der EU bereits wirtschaftliche Erfolge und Vorteile beschert. Eine umfassende wirtschaftliche Integration würde den Binnenmarkt der EU um 50 Millionen Verbraucher erweitern und die Möglichkeit bieten, das industrielle Potenzial, die natürlichen Ressourcen und das Humankapital dieser Länder zur Stärkung der EU zu nutzen.
Einiger möglicher Wahrnehmungen zum Trotz dürfte die öffentliche Meinung in Deutschland kein großes Hindernis darstellen. Laut einer aktuellen Umfrage, die im September 2020 von der Agentur für angewandte Sozialforschung (Kantar Profiles Division) im Auftrag des in Kyjiw ansässigen „Zentrum Neues Europa“ erstellt wurde, sprechen sich 47 Prozent der Deutschen für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU aus (wobei die jüngeren Generationen eher zu dieser Position neigen: 60,7 Prozent der 18- bis 25-Jährigen). Weitere Untersuchungen sind notwendig, doch es scheint, dass die deutsche Öffentlichkeit die Bürger dieser Länder, die in den vergangenen Jahren visafreies Reisen in die EU genossen haben, als nicht sonderlich entfernt in Bezug auf Kultur oder Identität wahrnimmt.
Europäische politische, sicherheits‑, klima- und wirtschaftliche Interessen machen es somit erforderlich, eine EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien in Aussicht zu stellen. Dies entspricht deutschen Interessen zur Stärkung der regionalen und globalen Stellung der EU und ihrer transformativen Macht.
Insbesondere für Deutschland bietet sich dadurch die Chance, innerhalb der EU eine Führungsrolle zu übernehmen – und zwar durch die Formulierung einer Vision zur Zukunft der EU, durch die Positionierung als treibende Kraft der EU und als Generator von Konsens zwischen den Mitgliedstaaten mit gegensätzlichen Ansichten. Dies ist auch eine Chance für Deutschland und die EU, zum Wiederaufbau der transatlantischen Beziehungen beizutragen, indem die EU mehr Verantwortung übernimmt und an ihrer verwundbarsten Flanke in die Stabilität Europas investiert.
Übersetzt aus dem Englischen von Johann Zajaczkowski.
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