Der Streit über die Umbenennung von Straßen in Krywyj Rih
Mit dem 2015 beschlossenen Dekommunisierungsgesetz verschwanden viele Statuen kommunistischer Persönlichkeiten, aber auch Stationen, Plätze und Straßen sollten im Zuge dessen umbenannt werden. In der zentralukrainischen Stadt Krywyj Rih löste das neue Gesetz und vor allem dessen Implementierung gemischte Gefühle bei Administration und Bevölkerung aus. Von Viktor Savinok
Krywyj Rih (auch Kriwoi Rog) ist eine kreisfreie Stadt im Oblast Dnipropetrowsk. Die wichtigste Unternehmensgruppe ist Krywbas (auch Kriwbass), zu der Eisenerzabbau‑, Metallurgie‑, Maschinenbau- und Chemiebetriebe gehören, unter anderem einer der größten Stahlerzeugers des Landes, das Kombinat Kryworischstal (auch ArselorMittal Krywyj Rih AG). Krywyj Rih gehört zu den längsten Städten Europas – die Distanz zwischen den Endpunkten der Stadt im Süden und im Norden beträgt 67 km. Etwas mehr als 600.000 Menschen leben hier.
Das Amt des Bürgermeisters hat seit November 2010 Dr. Jurij Wilkul (69) inne. Wilkul war Mitglied der ehemaligen Kommunistischen Partei der Sowjetunion sowie der ehemaligen Partei der Regionen. Seit 2014 ist er Mitglied der Partei „Oppositionsblock“ (seit Juni 2019 – Partei „Oppositionsblock – Partei des Friedens und der Entwicklung“). Bei der vorgezogenen Bürgermeisterwahl im März 2016 wurde Wilkul im Amt bestätigt. Sein Sohn Oleksandr Wilkul (45) war von 2006 bis 2010 und von 2014 bis 2019 Abgeordneter des ukrainischen Parlaments, der Werchowna Rada, von Dezember 2012 bis Februar 2014 bekleidete er den Posten des Stellvertretenden Ministerpräsidenten. Auch Oleksandr Wilkul war Mitglied der Partei der Regionen und gehört zu den Spitzenpolitiker des Oppositionsblocks (seit Juni 2019 – „Oppositionsblock – Partei des Friedens und der Entwicklung“).
Ursachen der Umbenennungen der Straßen in Krywyj Rih
Wichtigster Grund für die Umbenennung von Straßen in Krywyj Rih war die sogenannte „Dekommunisierung“ nach der Maidanrevolution. Am 9. April 2015 beschloss die Werchowna Rada der Ukraine das Gesetz Nr. 317-VIII „Über Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen (nazistischen) totalitären Regime in der Ukraine und das Verbot der der Verbreitung ihrer Symbole“.
Im Artikel 1 des erwähnten Gesetzes sind unter anderem Begriffe festgeschrieben wie „kommunistische Partei“, „Propaganda der kommunistischen und nationalsozialistischen totalitären Regime“, „Symbolik des kommunistischen totalitären Regimes“ und andere.
Zur letzteren gehören laut Punkt 5 des Artikels auch „Bezeichnungen der … Stadtteile, Parks, Boulevards, Straßen, Gassen, Steige, Nebenstraßen, Prospekte, Plätze, Ufer, Brücken und anderer Objekte der Ortschaften“, die benannt waren nach der Oktoberrevolution von 1917, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, deren Parteitagen und Leitern, den Machtorganen und Sicherheitsbehörden des Sowjetstaates oder prominenten Ideologen des Kommunismus. Auf Grund des Punkts 6 des Artikels 7 des Gesetzes waren die lokalen Behörden verpflichtet, binnen sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes es am 21. Mai 2015 die entsprechenden Bezeichnungen abzuändern. Zwei Jahre später reichten 46 Abgeordneten des ukrainischen Parlaments, hauptsächlich von der Fraktion des Oppositionsblocks, Einspruch gegen das Gesetz ein, doch im Juli 2019 bestätigte die Große Kammer des ukrainischen Verfassungsgerichts seine Verfassungsmäßigkeit. Einer Abgeordneten war der Sohn des Bürgermeisters von Krywyj Rih, Oleksandr Wilkul.
Als Bürgermeister von Krywyj Rih weigerte sich Jurij Wilkul, die Bestimmungen des Dekommunisierungsgesetzes zu implementieren. Er meinte, die Frage der Umbenennungen hätte eine lokale Volksabstimmung lösen müssen, obwohl die ukrainische Gesetzgebung eben bis jetzt keine Bestimmungen bezüglich lokaler Referenzen enthält. Deswegen ordnete der Vorsitzende der Staatlichen Administration des Oblast Dnipropetrowsk an, insgesamt 252 Bezeichnungen von Stadtbezirken, Straßen, Plätzen, Boulevards, Stationen des öffentlichen Nahverkehrs, Parks und eben Stauseen im Ergebnis der öffentlichen Beratungen zu ändern.
Soziologische Umfragen aus dem Jahre 2016 zeigten, dass eine deutliche Mehrheit der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger die Umbenennungen von Straßen ablehnte, 57 Prozent. Lediglich 35 Prozent der Befragten unterstützten die vorgenommenen Veränderungen.
Wahrnehmung der Umbenennungen
Die Bewohner der Stadt nahmen die Umbenennungen unterschiedlich wahr.
Viele unterstützen generell die vorgenommenen Umbenennungen und den gesamten Prozess der Dekommunisierung. Diese Personen sind der Meinung, dass zu Sowjetzeiten in der Ukraine ein totalitäres Regime herrschte.
Der stellvertretende Direktor des Städtischen Museums in Krywyj Rih Oleksandr Melnyk meinte, dass die Dekommunisierung eine Chance sei, mehrere mit der Geschichte der Stadt verbundene Erscheinungen und Personen mit Straßenbezeichnungen zu würdigen. Er unterstützte beispielsweise die Wiederherstellung der historischen Bezeichnung der ältesten Straße von Krywyj Rih – des Poschtowyj Prospekts, der zu Sowjetzeiten Karl Marx Prospekt hieß. Zugleich waren die sich für die Dekommunisierung einsetzenden Aktivist*innen mit einigen vorgenommen Umbenennungen nicht einverstanden. Zum Beispiel schlugen die Aktivist*innen vor, den nach dem kommunistischem Revolutionär Fjodor Sergejev benannten Platz nach dem 40. Freiwilligenbatallion zu benennen, das an der Antiterroristischen Operation im Osten des Landes teilnahm. Der Vorschlag wurde auch bei öffentlichen Beratungen unterstützt. Die Staatliche Administration unterstützte das Vorhaben aber nicht. Der Platz wurde nach dem Fürsten Wolodymyr den Großen benannt.
Die zweite Gruppe der Meinungen vertraten die Bürgerinnen und Bürger, die mit der Dekommunisierung in der Stadt generell oder mit den Umbenennungen von Straßen unzufrieden waren.
Die Argumente der Gegner lauteten, dass die Dekommunisierung zwangsweise erfolgt und eine „Revision der Geschichte“ sei. Die Sowjetzeiten gehören, ihrer Meinung nach, zur Geschichte der Ukraine, die in entsprechenden Straßenbezeichnungen bewahrt sei.
Die Dekommunisierung gefährde das Gedenken an Helden des „Großen Vaterländischen Krieges“. Zudem sei die Dekommunisierung nicht die erste Priorität für das Land in Zeiten des bewaffneten Konflikts und der schwierigen wirtschaftlichen Situation. Der Sekretär des Staatsrates Serhij Malarenko (Oppositionsblock)meinte, die Dekommunisierung sei zu aufwändig und die Stadt könne die Geldsummen anders investieren. Die Opponenten der Umbenennungen argumentierten auch häufig, die Veränderungen von Bezeichnungen haben keinen Sinn, weil die Personen oder Geschehnisse, nach den die Straßen neu benannt wurden, wenig bekannt seien. Bei den öffentlichen Beratungen waren auch die Argumente zu hören, dass die neuen Straßennamen nicht lange bleiben werden, weil neue Entwicklungen in der Ukraine zu einer neuen Welle von Umbenennungen führen könne. Alltag.
Und zur dritten Gruppe können die Menschen gezählt werden, die zu dem Thema keine Meinungen hatten. Dabei spielt auch die Tatsache eine Rolle, wie die Personen informiert waren. Viele fürchteten, dass die Bewohner der umbenannten Straßen gezwungen werden, die Eintragungen in ihren Dokumenten abzuändern oder ihre Papiere auszutauschen. Dies geschah aber nicht. Der Stadtrat erklärte, der Umtausch von Dokumenten oder Eintragungen von neuen Straßenbezeichnungen seien für natürliche Personen unnötig. Juristische Personen und Einzelunternehmer mussten aber ihre Adressen neu eintragen. Die Zeit für solche Eintragungen blieb aber unbefristet.
Eine weitere Gruppe von Bewohnern schätzte den Prozess der Umbenennungen als undemokratisch ein. Ihre Argumente stützten sich darauf, dass es in lokalen Medien praktisch keine oder zu wenige Informationen über öffentliche Beratungen gab.
Noch heute sind auf umbenannten Straßen alte Schilder mit sowjetischen Bezeichnungen vorhanden, weil die Stadtverwaltung oder die Bewohner die Schilder nicht ausgetauscht haben. Zudem verwenden manche Bewohner der Stadt nach wie vor die alten Bezeichnungen der Straßen, Plätze oder Stadteile.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.