76 Jahre der Depor­ta­tion der Krim­ta­ta­ren: Eine neue Runde der Ver­fol­gung und Vertreibung

© Mykhailo Markiv

Am 18. Mai 1944 wurden die Krim­ta­ta­ren als ver­meint­li­che “Lan­des­ver­rä­ter”, “Kol­la­bo­ra­teure” und “anti­so­wje­ti­sche Pro­pa­gan­dis­ten” aus ihrer Heimat Krim ver­schleppt. Kurz nach dem 76. Jah­res­tag erin­nert Vik­to­ria Savchuk an das sowje­ti­sche Verbrechen.

In der Geschichte der Ukraine gibt es viele Ereig­nisse, die im Ausland weit­ge­hend unbe­kannt sind. Die sowje­ti­sche Epoche bis zur Pro­kla­mie­rung der Unab­hän­gig­keit im Jahre 1991 war für das Land beson­ders tra­gisch. Dieser Zeit­raum war eine Ära der mas­si­ven Repres­sio­nen, der poli­tisch moti­vier­ten Ver­fol­gun­gen Anders­den­ken­der und der soge­nann­ten “eth­ni­schen Säu­be­run­gen” von Volks­grup­pen, die dem sowje­ti­schen Regime gegen­über nicht loyal waren. An eines dieser von der sowje­ti­schen Macht began­ge­nen Ver­bre­chen erin­nern sich Krim­ta­ta­ren, das indi­gene Volk auf der ukrai­ni­schen Halb­in­sel Krim, immer noch sehr gut. Die Rede ist von der Depor­ta­tion von über 200.000 Krim­ta­ta­ren vor fast genau 75 Jahren. Im Jahre 2015 wurde diese Depor­ta­tion vom ukrai­ni­schen Par­la­ment sogar als Genozid am krim­ta­ta­ri­schen Volk anerkannt.

Am 18.  Mai 1944 wurden die Krim­ta­ta­ren als angeb­li­che “Lan­des­ver­rä­ter”, “Kol­la­bo­ra­teure” und “anti­so­wje­ti­sche Pro­pa­gan­dis­ten” ent­spre­chend der Ver­ord­nung des Staat­li­chen Ver­tei­di­gungs­ko­mi­tees der UdSSR zur “drin­gen­den Aus­sied­lung der Krim­ta­ta­ren” aus ihrem Hei­mat­ge­biet Krim in ent­le­gene Gegen­den Zen­tral­asi­ens, nach Sibi­rien und in den Ural ver­schleppt. Ver­trie­ben wurden alle Krim-Ein­woh­ner krim­ta­ta­ri­scher Her­kunft: Frauen, Kinder und alte Men­schen bil­de­ten dabei keine Ausnahme.

Die aktive Phase der geziel­ten Ver­schlep­pung war außer­or­dent­lich kurz: An einem ein­zi­gen Tag wurde die Ver­ord­nung  durch sowje­ti­sche NKWD-Truppen gewalt­sam voll­zo­gen. Bewaff­nete Sol­da­ten stürm­ten zumeist in der Nacht oder am frühen Morgen die Häuser der Krim­ta­ta­ren, durch­such­ten sie, erzwan­gen die Räumung und beschlag­nahm­ten ver­blie­be­nes Ver­mö­gen. Erin­ne­run­gen der Über­le­ben­den zufolge fürch­te­ten viele Men­schen damals, erschos­sen zu werden.

“Nachts weckten uns die Sol­da­ten mit Waffen und befah­len, das Haus zu ver­las­sen. Mein Vater dachte, wir würden erschos­sen. Unter Bewa­chung wurden wir zu einem Güter­zug gebracht.” – Munire, 96 Jahre alt, Bacht­schis­sa­raj, Krim, Ukraine. 

Die Depor­tier­ten wurden in unmensch­li­cher Weise in über­füll­ten Güter­wag­gons trans­por­tiert. Sie litten unter Hunger, Durst und unhy­gie­ni­schen Bedin­gun­gen. Ins­ge­samt starben etwa 46 Prozent der krim­ta­ta­ri­schen Bevöl­ke­rung bei der Ver­trei­bung selbst und in den ersten Jahren danach.

“Wir wurden in Güter­wa­gen gewor­fen, überall war es sehr dreckig. Zwei Men­schen starben neben uns. Wir sahen, wie die Leichen aus anderen Wagen auf dem Weg liegen gelas­sen wurden. Am 6. Juni 1944 wurden wir zur Haku­labad Station im Naman­gan Oblast gebracht. Es war sonst niemand in der Nähe, als ob das Dorf aus­ge­stor­ben wäre.” – Khalide, 92 Jahre alt, Jalta, Krim, Ukraine. 

1956 wurden viele Krim­ta­ta­ren vom „Son­der­sied­ler­sta­tus“ befreit und durften inner­halb der Sowjet­union umzie­hen, aller­dings nicht in die ursprüng­li­che Heimat. Erst 1988 wurde das Verbot, sich wieder auf der Krim anzu­sie­deln, auf­ge­ho­ben. Nur einige krim­ta­ta­ri­sche Akti­vis­tIn­nen hatten es trotz­dem geschafft, vor 1988 auf die Krim zurückzukehren .

“Meine Eltern wurden im Exil geboren. Sie hätten wie ich auf der Krim geboren werden sollen, aber im Jahre 1968, dem Geburts­jahr meiner Eltern, gab es noch keine offi­zi­el­len Mög­lich­kei­ten zur Rück­kehr. Nur einem kleinen Pro­zent­satz der Krim­ta­ta­ren gelang es, trotz der Schwie­rig­kei­ten früher nach Hause zurück­zu­kom­men. Dies waren im Grunde genom­men aktive Mit­glie­der der krim­ta­ta­ri­schen Natio­nal­be­we­gung.” – Muslim, 25 Jahre alt, Kyjiw, Ukraine. 

Auch nach der erträum­ten Rück­kehr in die Heimat blieben die Zeiten mehr als tur­bu­lent. Die Immo­bi­lien der Krim­ta­ta­ren, die sie vor der Depor­ta­tion beses­sen hatten, waren vom Staat beschlag­nahmt worden, oder sie waren von neuen Eigen­tü­mern besetzt. Als soge­nannte Kom­pen­sa­tion wurden von der sowje­ti­schen Regie­rung  leere und unfrucht­bare Step­pen­ge­biete bereit­ge­stellt, wo die Rück­keh­rer ver­su­chen mussten, sich ohne Finanz­mit­tel, Gas, Strom und Wasser irgend­wie nie­der­zu­las­sen. Die schwie­rigste Her­aus­for­de­rung bestand zudem in einem jah­re­lan­gen Kampf der Krim­ta­ta­ren gegen die sowje­ti­sche Propaganda.

Nach der Depor­ta­tion wurden Krim­ta­ta­ren aus­schließ­lich als Lan­des­ver­rä­ter und Feinde des großen sowje­ti­schen Volkes wahr­ge­nom­men. Das von der Sowjet­union geschaf­fene nega­tive Bild des krim­ta­ta­ri­schen Volkes wurde in der Gesell­schaft inner­halb und außer­halb der Krim so tief ver­wur­zelt, dass es auch noch nach Jahr­zehn­ten das Schick­sal der Qirimli [Ursprüng­li­cher Name der Krim­ta­ta­ren auf Krim­ta­ta­risch – Anm. der Redak­tion] bestimmt. Ein Bei­spiel muss man nicht lange suchen – es reicht, die aktu­el­len Nach­rich­ten über die repres­si­ven Maß­nah­men der Okku­pa­ti­ons­macht gegen die krim­ta­ta­ri­sche Bevöl­ke­rung auf der von Russ­land wider­recht­lich beset­zen Halb­in­sel Krim zu verfolgen.

Das, was mit dem krim­ta­ta­ri­schen Volk jetzt auf der besetz­ten Krim pas­siert, bezeich­nen viele ukrai­ni­sche His­to­ri­ker als latente Depor­ta­tion. Dies ist der Beginn einer neuen Runde der Ver­fol­gung des Volkes der Krimtataren.

Mit der Anne­xion der Krim im Jahre 2014 und dem ersten Mord an einem Krim­ta­ta­ren, Reschat Ametow, hat Russ­land sich in die Kon­ti­nui­tät mit den vorher began­ge­nen sowje­ti­schen Ver­bre­chen begeben. Es bleibt zu hoffen, dass die inter­na­tio­nale Gemein­schaft nicht weg­sieht, sondern das Unrecht offen benennt. Ver­trei­bung – auch die sub­ver­sive – ist und bleibt ein Ver­bre­chen gegen die Menschlichkeit.

Textende

Portrait von Alya Shandra

Vik­to­ria Savchuk ist Refe­ren­tin der Geschäfts­füh­rung beim Zentrum Libe­rale Moderne. Als Juris­tin und Advo­cacy Exper­tin war sie mehrere Jahre bei der NGO „Cri­me­a­SOS“ in Kyjiw (Ukraine) tätig.

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