Der Weg in den Osten. Ukrainische Arbeiter in Russland nach 2014
Die Geschichten postsowjetischer Arbeitsmigranten in russischen Großstädten ähneln sich häufig: durch Geldnot gezwungen verlassen sie ihre Heimatländer, um für einige Zeit in Russland zu arbeiten. Dort angekommen bleiben sie häufig, werden sesshaft und holen ihre Familien nach. Das gilt auch für viele Ukrainer. Doch was erwartet gerade sie in Russland und wird mit ihnen seit dem Kriegsbeginn 2014 anders umgegangen? Das journalistische Projekt „Auf den Spuren der Arbeit“ geht diesen Fragen nach.
„Ich bin keine Migrantin, ich bin Gastarbeiterin, zudem illegal beschäftigt“, erzählt mir eine Frau, Mitte 40, während sie einen weiteren Löffel Haferbrei für ein dreijähriges Kind schöpft, um das sie sich seit einigen Jahren beruflich kümmert. Das erste Mal kam Ljuba vor langer Zeit nach Russland – lange bevor ihr Geburts- und Heimatdorf zu einem „nicht von der Regierung kontrollierten Gebiet“ wurde. Ihre Geschichte ist – wie die von vielen anderen – nicht ungewöhnlich: Zuhause war sie nicht in der Lage, für sich selbst, ihren Sohn und andere geliebte Menschen, um die sie sich durch eine Fügung des Schicksals kümmern musste, zu sorgen. Also packte sie ihre Habseligkeiten und fuhr (wie einige ihrer Bekannten aus dem Dorf auch) zum Arbeiten nach Moskau. Wie sich herausstellte, hatte die Stadt viele Gesichter: sie war dreckig und sauber, schlecht und gut – vor allem jedoch bot sie die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Den Beruf, den sie gelernt hatte, musste sie an den Nagel hängen, und jede Arbeit annehmen, die Gott ihr sandte. Es scheint, als hätte er ihr erträgliche Tätigkeiten geschickt, und Ljuba sah keinen Grund zur Beschwerde. So sind zehn Jahre vergangen. Der Sohn ist erwachsen geworden, die Mutter gealtert, doch Ljuba arbeitet nach wie vor in Moskau, obwohl sie davon träumt, nach Hause zurückzukehren, sobald dort Ruhe einkehrt.
Die Geschichten über das Leben postsowjetischer Arbeitsmigranten in russischen Großstädten ähneln sich sehr. Die Story geht folgendermaßen: in ihrem Heimatland, ihrer Heimatstadt sind die Menschen außerstande, sich auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, und sehen sich daher gezwungen, woanders nach Verdienstmöglichkeiten Ausschau zu halten. Dabei nehmen sie häufig eine Tätigkeit, für die sich die lokale Bevölkerung zu schade ist, sei es als Krankenschwester, Kindermädchen, Maler, Bauarbeiter, Handwerker, oder als Koch. Viele bewahren sich ihre nationale Identität und sagen, dass sie gerne zurückkehren würden, tatsächlich jedoch bleiben sie im Gastland und holen ihre Kinder und Verwandten nach.
Die Arbeitsmigration aus der Ukraine nach Russland weist eine Reihe von Besonderheiten auf. Erstens kommen die Ukrainer in ein Land, in dem das Gros der ausländischen Arbeitnehmer aus dem „Osten“ kommt, aus dem Nordkaukasus oder aus Zentralasien.
Diese Regionen werden häufig als „rückständig“ und in religiöser Hinsicht als „feindselig“ empfunden. Vor diesem Hintergrund könnte man annehmen, dass den Ukrainern mehr Sympathie entgegengebracht wird, gelten sie doch als „slawisches Brudervolk“, lassen sich äußerlich nicht von den Russen unterscheiden, und sprechen häufig Russisch als Muttersprache. Hin und wieder versagen diese kulturellen Marker, und es kommt vor, dass die Ukrainer als „Fremdlinge“, „Außenseiter“ oder „Migranten“ gebrandmarkt wer-den.
Zweitens wirken sich die politischen Beziehungen der beiden Länder auf die Migrationsbewegungen aus. Der eine fährt seit 2014 nicht mehr nach Russland, sondern nach Polen, um Geld zu verdienen; im Gegensatz dazu hat der andere beschlossen, für immer nach Russland auszuwandern.
Und drittens wäre da die lange Tradition der Migration aus der Ukraine nach Russland. Diese findet nicht erst seit zwei, auch nicht erst seit zehn Jahren zwischen den beiden Ländern statt. Die Migrationsbewegungen haben ihre Wurzeln in der Zeit der Sowjetunion. Viele Personen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft kamen aus den weit entfernten Regionen des damaligen Sowjetrusslands. Viele Ukrainer haben Freunde und Verwandte im „Feindesland“.
Was erwartet die ausländischen Arbeitnehmer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter der Ukraine, in Russland?
Bei seiner Ankunft in Russland hat ein ukrainischer Staatsbürger dieselben Rechte wie auch die Einwohner der postsowjetischen Länder Zentralasiens oder anderer Republiken, die ein Abkommen zur Visafreiheit mit Russland geschlossen haben.
Die Möglichkeit, eine Arbeit aufzunehmen, wird über ein sogenanntes „Patent“ erteilt. Das Patentsystem wurde 2014 eingeführt und ersetzt das bis dato geltende, komplizierte Prozedere, das auf zwei Anträgen basierte. Um für ein Unternehmen tätig zu werden, brauchte es früher eine Arbeitserlaubnis, eine Tätigkeit für eine Privatperson war an ein Patent geknüpft. Dies sorgte für Chaos und Scherereien, da eine Person über ein Patent nach Russland gekommen und gearbeitet haben konnte, aber – etwa bei vorzeitiger Entlassung – nicht die Möglichkeit hatte, danach auf einer Baustelle zu arbeiten, da hierfür eine Arbeitserlaubnis notwendig war – und umgekehrt.
2014/15 wurde die Arbeitserlaubnis abgeschafft und durch ein Patent ersetzt, das für sämtliche Beschäftigungsformen gilt. Es wird dem Arbeitnehmer und nicht dem Unternehmen erteilt. Dabei legt die Regionalverwaltung per Quote die Höhe der erteilten Patente fest. Das Dokument wird von den regionalen Servicecentern für staatliche Dienstleistungen vergeben, wo sich genau aus diesem Grund häufig lange, mehrtätige Warteschlangen bilden. Die Kosten für ein Patent haben sich nach der Reform von 2014 verdreifacht und belaufen sich mittlerweile auf 1.200 Rubel (derzeit knapp 17 Euro) im Monat.
Jede Region weist einen eigenen Koeffizienten auf, mit dem diese Summe multipliziert werden muss (in Moskau beträgt er 2,28); hinzu kommt ein Preisindex-Koeffizient, der Jahr für Jahr angepasst wird (derzeit beträgt er 1,73). Für einen ausländischen Arbeiter in Moskau klettern die Kosten dadurch auf 4.750 Rubel (rund 67 Euro) pro Monat. Darüber hinaus ist eine Person dazu verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen, was etwa 1.800 Rubel (oder ca. 25 Euro) im Jahr kostet, und eine kostenpflichtige Prüfung in russischer Sprache, Geschichte und Literatur (rund 4.000 Rubel bzw. 56 Euro) abzulegen. Somit muss ein ausländischer Arbeitnehmer aus dem postsowjetischen Raum, der legal in Moskau arbeiten will, jährlich 62.800 Rubel (oder knapp 890 Euro) hinblättern.
Wenn eine Person nicht binnen drei Monaten die erforderlichen Unterlagen ausfüllt, die seinen Aufenthaltstitel bestätigen, so ist er laut Gesetz zur Ausreise verpflichtet und darf für drei Monate nicht nach Russland reisen. Erst nach Ablauf dieser Zeit kann er zurückkehren. In der Praxis sieht es jedoch so aus, dass die Leute unverzüglich nach ihrer Ausreise zurückkehren. Dadurch können die Migranten wesentlich länger am Stück arbeiten, sofern sie illegal, ohne Papiere, tätig sind. Doch wenn sie dann erwischt werden, drohen die Abschiebung und eine Einreisesperre von drei bis fünf Jahren.
„Im Grunde genommen verhalten sie sich hier tadellos gegenüber uns Chocholen“
Ungeachtet der Tatsache, dass die Ukrainer gegenüber Neuankömmlingen bequeme Distinktionsgewinne einfahren, sind sie de facto häufig in den allgemeinen Migrationsdiskurs und die Migrantengemeinschaft eingebunden. Auf der Arbeit und in ihren Wohnstätten unterhalten sie Kontakte zu anderen Migranten, knüpfen Freundschaften und eignen sich Kommunikationsmodi an, die es ihnen ermöglichen, über das Leben in Russland zu sprechen.
Ljuba habe ich über Freunde kennengelernt. Sie ist eine stämmige Frau, mit gutmütigen Augen, um die 45 Jahre alt. Wir sitzen in der Küche, wo sie über ihr Leben erzählt, darüber, wie sie stürzte und sich das Bein brach, und wie sie eine Freundin in Luhansk besuchte.
Ein Thema, über das wir sprechen, ist der Austausch mit den Menschen in Moskau. Bisweilen lernen die Ukrainer andere ausländischer Arbeitnehmer kennen, mit denen sie sich lange austauschen, telefonisch in Verbindung setzen und in Kontakt bleiben. Dies geschieht etwa über den gemeinsamen Lebensalltag (in Wohnheimen oder „migrantisch geprägten“ Gegenden), durch ähnliche Formen der Beschäftigung (Haushälterin, Krankenschwester, Bauarbeiter…) oder auch durch ähnliche Widrigkeiten (etwa Probleme, eine Unterkunft zu finden oder eine Anmeldung oder ein Patent zu erhalten). Solche Beziehungen werden im Nahverkehr oder am Arbeitsplatz geknüpft. Derzeit mietet Ljuba ein Zimmer in einem Wohnheim. Einige ihrer Nachbarn kommen aus zentralasiatischen Ländern. Sie erzählt:
Ich habe außerhalb der Stadt gearbeitet. Dort haben Usbeken und Tadschiken Häuser gebaut. Wir mussten den Rasen mähen, und sie fragten uns, ob wir einen Job hätten. Einige Usbeken arbeiteten als Hausmeister. Sie haben uns oft geholfen, wenn wir etwas Schweres hinaustragen mussten. Einmal trafen wir eine tadschikische Frau, die als Haushälterin bei einer Familie arbeitete. Manchmal telefonieren wir miteinander. Ich habe auch eine usbekische Mitbewohnerin im Wohnheim.
Hin und wieder werden auch romantische Beziehungen geknüpft. Eine Zeit lang lebte Ljuba mit einem Mann aus Tadschikistan zusammen, doch dann ist er spurlos verschwunden. Wahrscheinlich kehrte er in seine Heimat und zu seiner Familie zurück.
Etwas anders sieht die Sozialisation der Arbeiter aus, die im Wohnheim ausschließlich mit anderen Ukrainern zusammenleben: sie haben weniger Kontakt mit der migrantischen Außenwelt, doch werden spätestens am Arbeitsplatz damit konfrontiert.
Durch die gemeinsame migrationsspezifische Sozialisation werden auch Werturteile internalisiert, etwa darüber, dass Russland die Neuankömmlinge sehr gut aufnehme und diese nicht erniedrigt würden. Dieses Motiv tauchte immer wieder auf in den Geschichten der Migranten, mit denen ich zu tun hatte.
Ljuba spricht lange darüber, wie gut sie es in Russland habe („Mir geht es hier nicht schlecht, ja sogar sehr gut“) und wie gut die Ukrainer hier behandelt würden („Im Grunde genommen verhalten sie sich hier tadellos gegenüber uns Chocholen“). Sie betont die gute und kostenlose medizinische Versorgung:
„Ich bin hier zweimal operiert worden, und beide Male habe ich die beste medizinische Versorgung erhalten. […] [Sie erzählt, wie sie gestürzt ist und sich das Bein gebrochen hat]. Ich rief an und wollte mir ein Taxi zum Krankenhaus bestellen. Sie sagten: „Bleiben Sie wo Sie sind, wir schicken einen Krankenwagen, kommen Sie nicht auf die Idee, selbständig irgendwo hinzufahren“. Ich erklärte ihnen, dass ich ukrainische Staatsbürgerin sei und keine Auslandskrankenversicherung habe. Sie entgegneten, dass dies nicht von Bedeutung sei. Der Krankenwagen kam schnell, sie fuhren mich ins Krankenhaus und brachten mich überall mit dem Rollstuhl hin. Ich musste für nichts bezahlen.“
Obwohl Ljuba sagt, dass sie die Ukraine vermisst, dass sie sich häufig Volkslieder in Erinnerung ruft und dass bei der Nachbarin die Musik von „Okean Elzy“ in Dauerschleife gespielt wird, so betont sie doch die natürliche „Durchlässigkeit“ kultureller Grenzen, die gegenseitige Durchdringung von Kulturen, und hält es für falsch, solchen Dynamiken einen Riegel vorzuschieben.
Ljuba hat das Glück, in Moskau zu wohnen, wo Migranten seit einiger Zeit eine „humane“ Behandlung erfahren. In anderen Regionen kann es jedoch anders aussehen. Fabrikarbeiter etwa, die aufgrund ihres Arbeitsplatzes weniger in die lokale Kultur und das Gemeindeleben eingebettet sind, können die Dinge etwas anders sehen. Ein Arbeiter, den ich im Bus auf der Route „Moskau-Odessa“ getroffen habe, äußerte sich etwa folgendermaßen:
„In Moskau ist es derzeit schwierig. Krieg. Die Bullen machen sich an dich ran, fordern Schmiergeld. Du bist Kriegspartei, du hast nichts zu melden.“
„Welcher Krieg? Zwischen wem?“
Es scheint, als hätte der Krieg nur geringen Einfluss auf diejenigen, die in Russland arbeiten möchten. Die Migrationsbewegungen haben sich vor langer Zeit herausgebildet, und temporäre Schwankungen werden sie nicht ändern oder die ökonomischen Motive für die Arbeitsmigration aus der Welt schaffen. Die Daten auf der Homepage des statistischen Bundesamts machen deutlich, dass die Zahl der Migranten aus der Ukraine im Zeitraum 2013/14 sprunghaft angestiegen ist – und sich von 55.037 auf 126.819 Personen pro Jahr fast verdreifacht hat. Heißt das, dass seit 2014 jedes Jahr rund 100.000 weitere Ukrainer nach Russland gekommen sind? Die Zahlen beinhalten möglicherweise auch die Geflüchteten aus den nichtkontrollierten Gebieten, die überhaupt nicht die Absicht hatten, Arbeitsmigranten zu werden. Gleichzeitig ist die Zahl der Arbeitsgenehmigungen im Zeitraum zwischen 2014 und 2015 stark gefallen (siehe Tabelle), was mit dem inkrementellen Wechsel des alten Systems der Arbeitsgenehmigungen zusammenhängt. Die Anzahl der erteilten Patente ist nicht gestiegen. Dies deutet darauf hin, dass die Zahl der illegal beschäftigten Ukrainer zugenommen hat, ebenso wie die Zahl derjenigen, die eine Aufenthaltsgenehmigung samt Einbürgerungserlaubnis erhalten haben und daher kein Patent benötigen.
Der Konflikt im Osten hatte keine großen Auswirkungen auf die Einstellung einfacher ukrainischer Arbeitsmigranten gegenüber Russland. Wadym kommt gebürtig aus dem Dorf Pylypez in der Region Transkarpatien. Um die Familie ernähren und die Heirat seiner Tochter bezahlen zu können, ging er in den 2000er Jahren zum Geld verdienen nach Russland. Er hatte einen Kumpel in Moskau, der ein erfolgreiches Unternehmen gründete und bis heute leitet. Dieser Freund lud ihn ein, für ihn als Bodyguard zu arbeiten. Bis heute arbeitet er in dieser Funktion für ihn und sendet das Geld nach Hause. Im Gegensatz zu Ljuba, die ihren Sohn und ihre Mutter nach Russland geholt hat, sind Wadyms Verwandte in seinem Heimatdorf geblieben. Wadym erzählt, dass sich die Arbeit in Russland mehr lohne als in Polen, da man hier weniger ausgebeutet würde (im Sinne von Überstunden) und persönliche Absprachen immer möglich seien. Aus diesem Grund fährt er – im Gegensatz zu vielen anderen Einwohnern aus seiner Region – nicht in den „Westen“, auch nicht nach 2014. Wadym betont, dass er nicht der Einzige ist, und der Strom von Arbeitskräften ungeachtet der politischen Lage nicht abflaut – auch aus der Westukraine.
Auch Ljubas Sohn, Witja, kam aus wirtschaftlichen Beweggründen nach Russland, obwohl es einige Zeit gedauert hat, bis er seiner Mutter nachgefolgt ist, da er glaubte, dass man auch in der Ukraine einen guten Job finden könne. Er kam erst 2018, als er erkannte, dass die „Revolution“ ihre Versprechen nicht eingelöst hatte. Ljuba schildert:
Als der Krieg ausbrach, ging mein Sohn nach Charkiw und fand dort Arbeit. Er war nicht offiziell angestellt, sie sagten ihm, das sei nicht nötig. Er arbeitete dort mehrere Monate lang. Die Arbeit war die Hölle, und er wurde nicht bezahlt. Dann ließen sie ihn fallen und fertig. Drei Tage vor Neujahr wurde er krank. Er kam mit Fieber zur Arbeit und sagte: „Ich habe Fieber“. Wäre er offiziell angestellt gewesen, hätte er Krankengeld erhalten. So aber war es sinnlos, zum Arzt zu gehen. Sein Vorgesetzter versprach, dass er nach Neujahr ausgezahlt wird. Im neuen Jahr ging er hin und bekam nichts. Nicht nur, dass er in seinem Heimatland weniger verdienen konnte als in Russland – nein, hier konnte er überhaupt kein Geld verdienen!
Ein anderes Beispiel betrifft eine Gruppe von Arbeitern, die bei Nowosibirsk Gewächshäuser bauen. Die meisten von ihnen kommen gebürtig aus einem kleinen Dorf in der Region Winnyzja, wo es ihnen zufolge schwierig sei, auch nur an ein bisschen Geld zu kommen, während sie in Russland mehr als 800 Dollar im Monat verdienen. So lässt es sich aushalten, ungeachtet der Überstunden, der Schichtarbeit, und der fehlenden Freizeit. Manche von ihnen arbeiten seit mehr als 15 Jahren auf diese Art, andere haben die Arbeit erst kürzlich aufgenommen. In der Regel verbringen sie über ein Jahr in Russland (der Mindestaufenthalt beträgt sechs Monate) und besuchen ihre Familien in dieser Zeit nur sehr selten.
Alle, mit denen ich gesprochen habe, versicherten, dass weder sie selbst noch ihre Verwandten sich dafür, dass sie im „Aggressorstaat“ arbeiten, durch die Dorfgemeinschaft oder die Nachbarn unter Druck gesetzt fühlen. Ihre Meinung muss jedoch nicht zwangs-läufig übereinstimmen mit dem, was die Nachbarn wirklich denken. In einer Umfrage des Internationalen Institutes für Soziologie in Kijiw ließen 63 Prozent der Befragten eine positive Einstellung zur Arbeit in Russland erkennen. Im Westen des Landes sinkt der Wert zwar auf 49 Prozent, liegt damit aber immer noch auf einem relativ hohen Niveau.
Damit verknüpft ist ein weiteres, eher politisches Thema: die Sichtweise der in Russland arbeitenden Ukrainer selbst auf den Konflikt. Sie sind fast einstimmig der Ansicht, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ein Elitenkonflikt sei, und die einfachen Menschen keinen Bezug dazu haben — und auch keinen Bezug haben sollten. Überleben und ein Mindestmaß an Wohlstand ist für sie bei weitem wichtiger als „jegliche Politik“. Als ich mit demselben Bus fuhr wie die Arbeiter, die in der Nähe von Nowosibirsk Gewächshäuser bauen, entspann sich folgender Dialog:
- Wie stehen Sie zum Krieg?
- Welcher Krieg? Zwischen wem?
- Sagen Sie selbst, zwischen wem.
- Zwischen den politischen Führungen! [deutet mit dem Finger nach oben.] Uns geht das nichts an.
Es wird in den Bus eingestiegen. Von hinten ist folgender Ausruf vernehmbar: „Welcher Krieg, wovon redet sie da?!“.
Dabei haben die Kinder einiger dieser Menschen an der Front gedient! Es scheint, als wären persönliches Wohlergehen und Politik zwei unterschiedliche Fragen, die in keinster Weise miteinander verbunden sind.
Mir fiel auf, dass die ukrainischen Arbeitnehmer es vermeiden, untereinander über Politik zu sprechen. Wahrscheinlich hat jeder eine andere Meinung, und es wäre durchaus möglich, auf dieser Grundlage zu streiten, würden sie nicht im selben Team arbeiten und im selben Wohnheim leben. Deshalb wird eine Atmosphäre des Schweigens bevorzugt. Dem Widerwillen nach zu urteilen, mit dem die Jungs, die in der Nähe von Nowosibirsk arbeiten, ihre Ansichten zum Thema Präsidentschaftswahlen mitteilten, hatten sie das Thema in ihrer Runde bis dahin noch nie offen diskutiert.
- Wem werden Sie Ihre Stimme geben?
Schweigen. Eine einsame Stimme:
- Für Poroschenko.
Was ist wichtiger: Essen auf dem Tisch oder „Wischiwanka“?
Entgegen des mitunter in ukrainischen Medien zu vernehmenden Vorwurfs des Verrats kommt für die ukrainischen Arbeitsmigranten das Fressen nicht vor der Moral – oder, in diesem Fall: vor der Kultur. Die Liebe zu Kultur und Sprache bleibt bestehen, sie wird einfach von der Politik getrennt, und der vordergründig unauflösbare innere Konflikt so scheinbar reguliert. Materielle Werte und das eigene Überleben sowie das der Familie sind für die in Russland arbeitenden Ukrainer nicht wichtiger als Kultur oder ukrainische Identität, sondern wichtiger als Politik.
Indem die ukrainischen Arbeitnehmer ihren Alltag dem Leben der politischen Eliten gegenüberstellen, kultivieren sie ein umfassendes Misstrauen. Sie haben eine Idee davon, was sowohl im russischen als auch im ukrainischen Fernsehen berichtet wird, und werden konfrontiert mit Meinungen von Russen, von Verwandten und Freunden in der Ukraine (sowohl auf kontrolliertem und unkontrolliertem Gebiet), sodass sie es vorziehen, eine gewisse Neutralität zu wahren, sich so weit wie möglich von der Politik zu distanzieren und ein positives Bild beider Länder und deren Einwohnern zu bewahren.
Und weiterhin Geld nach Hause zu schicken.
Alle Namen und Ortsbezeichnungen wurden geändert.
Ein Projekt der Ukrainian Political Critique.
Es handelt sich um die gekürzte Übersetzung eines Textes, der im Rahmen des journalistischen Projektes „Auf den Spuren der Arbeit “ mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg- Stiftung in der Ukraine realisiert wurde.
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