Lifeline Ukraine – eine Hotline zur Suizidprävention
Nach mehr als fünf Jahren Krieg leben in der Ukraine mehr als 370.000 Veteranen. Aber noch immer werden ihre psychischen Probleme stigmatisiert und Kriegstraumata tabuisiert. Nun versucht eine Hotline, den Betroffenen zu helfen.
Paul Niland sieht aus, als habe er wenig Schlaf gehabt. Er trinkt Tee aus einer Tasse mit der Aufschrift „Fuck you Putin“. Der 47-jährige ist Mitbegründer von „Lifeline Ukraine“, der ersten Suizid-Präventionshotline des Landes. Das Pilotprojekt richtet sich an die mehr als 370.000 Veteranen, die noch bis vor kurzem im Osten gegen von Russland unterstützen Separatisten kämpften.
Seit Mitte Oktober 2019 sind die Telefone im Kyjiwer Büro rund um die Uhr besetzt, vor allem nachts, denn dann gehen die meisten Anrufe ein. Das Konferenzzimmer, in dem ein Bücherregal und einige Topfpflanzen stehen, wurde längst zu einem Schlafraum umfunktioniert. An der Wand lehnen zwei Klappbetten. „Die sind für die Mitarbeiter, wenn sie eine Pause brauchen“, sagt Niland.
Die Entstehung der Hotline
Der gebürtige Ire lebt seit Jahren in der Ukraine, er ist eigentlich Schriftsteller. Doch als seine Bekannte, die ehemalige ukrainische Gesundheitsministerin Ulana Suprun, ihn darum bat, das Projekt zu übernehmen, sagte Niland zu. „Ich hatte keine Erfahrung in diesem Bereich, genauso wenig wie die meisten, die hier arbeiten.“
Niland und sein 30-köpfiges Team haben sich monatelang eingelesen und internationale Workshops besucht. „Die israelischen Experten, mit denen wir uns ausgetauscht haben, sagten: Ihr seid noch nicht soweit. Aber gleichzeitig gibt es niemanden in diesem Land, der unseren Job zu diesem Zeitpunkt besser oder überhaupt machen würde.“ Immerhin: Die Hälfte der Mitarbeiter sind Veteranen und wissen, was die Anrufer erlebt haben.
Es haben bereits Menschen angerufen, die kurz davorstanden, sich das Leben zu nehmen. „In so einer Situation haben wir ein Zeitfenster von 15 Minuten. Wenn diese Person dann noch immer dran ist, haben wir ein Leben gerettet, das wissen wir aus dem internationalen Vergleich“, sagt Niland.
Das Ziel eines jeden Telefonats sei es, den Anrufenden bewusst zu machen, dass sie nicht alleine sind. Sie werden an ihre Eltern, Freunde, Kinder und Geschwister erinnert, die sie im Falle eines Selbstmordes traumatisiert zurücklassen würden. „Jemand, der sich das Leben nehmen will, sieht nur noch schwarz-weiß. Wir versuchen im Gespräch, dieses Schema zu durchbrechen: Ja, es ist gerade Winter. Aber auf den Winter folgt der Frühling.“
Jedes Gespräch beginnt und endet auf dieselbe Art, mit den Worten: „Lifeline Ukraine, ich höre Ihnen zu“ und „Wenn dieses Gespräch nun endet, kann ich davon ausgehen, dass Sie sich nichts antun?“ Wird diese Frage mit ja beantwortet, antwortet der Mitarbeiter: „Rufen Sie uns so oft an, wie sie möchten.“ – „Lautet die Antwort „Nein“, haben wir unseren Job noch nicht erledigt“, sagt Niland.
Während der ersten Monate wurde die Nummer „7333“ mehr als 800 Mal gewählt. Nicht alle Anrufer waren suizidal. Manche leiden unter Depressionen oder sind alleine und suchen einfach jemanden zum Reden. Aber Niland sagt, die Anzahl der Selbstmorde wird weiter zunehmen, eine ähnliche Entwicklung sei in den USA zu beobachten. Er geht davon aus, dass es seit Kriegsausbruch 1.000 Suizide gab. „Es ist schon tragisch, dass wir jede Woche ein paar Fälle haben. In einigen Jahren könnte das zu einer nationalen Tragödie werden.“
Suizidfälle unter Veteranen kaum erfasst
Aus dem Ministerium für Veteranenangelegenheiten heißt es, dass es keine valide Selbstmord-Statistik gibt, schlichtweg deshalb, weil in der Ukraine niemand diese Suizidfälle zähle oder als solche kategorisiere. Vor kurzem hat das Ministerium gemeinsam mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) eine von der EU-finanzierte Studie durchgeführt, wofür 1.780 Veteranen und 750 Familienmitglieder interviewt wurden.
Etwa 30 Prozent der Befragten gaben an, sich von der Gesellschaft ausgeschlossen zu fühlen. Und als die Partner der Veteranen gefragt wurden, wie oft sie gemeinsam über die Erinnerungen und das Erlebte im Krieg sprächen, gaben 55 Prozent an: nie oder fast nie. Etwa 26 Prozent der Veteranen erklärten, dass sie ihren Stress mit Alkohol bewältigen. Beinahe die Hälfte der Befragten gab an, auf psychosoziale Unterstützung und Beratung ganz zu verzichten.
„Leider fehlt in der Ukraine das Bewusstsein für psychische Erkrankungen“, sagt Anton Kolumbet, der stellvertretende Minister für Veteranenangelegenheiten. „Vielen Ukrainer fällt es schwer, um Hilfe zu bitten, mit diesem Tabu zu brechen. Psychische Krankheiten werden nicht als echte Krankheiten verstanden.“ Dazu komme, dass sich die meisten Therapeuten und Ansprechpartner in den großen Städten befinden, nicht in den Dörfern.
Wenn Kolumbet gefragt wird, was in der Ukraine gut funktioniere für die Veteranen, sagt er: „Nichts.“ Der 33-jährige hat selbst im Osten gekämpft und ist erst vor einigen Monaten aus dem NGO-Sektor ins Ministerium gewechselt hat, um die Gesetze und das Sozialsystem aus den 90er Jahren zu reformieren.
Alle Länder, die Soldaten in einen Krieg schicken, müssen nach deren Rückkehr ähnliche Schwierigkeiten bewältigen. Für jemanden, der im Krieg gedient hat, ist es sehr schwierig in ein „normales“ Leben zurückzukehren, plötzlich wieder Ehepartner oder Elternteil zu sein. Der Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk erklärte in einem Interview mit der Autorin sogar, dass unverletzte Soldaten 24 Stunden nach ihrer Entlassung wieder arbeiten gehen müssen. Doch gerade im Umgang mit Veteranen könne man viel von anderen Ländern lernen, sagt Niland. Lifeline Ukraine hat ihre Konzeption an der gleichnamigen Hotline in Australien orientiert. „Man muss das Rad nicht neu erfinden“, sagt Niland.
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