Land der Balkons
In der Ukraine gilt: Zeig mir deinen Balkon und ich sag dir, wer du bist. Ein heilloses Neben- und Übereinander von Verglasungen, Eisengittern, Betonbrüstungen, bunt verzierten und von Efeu überwachsenen Fassaden prägt das Bild der Städte überall im Land. Die schönsten, seltsamsten und innovativsten Exemplare hat der 37-jährige Architekt und Künstler Oleksandr Burlaka in einem Fotoband dokumentiert. Was es mit diesem Bauphänomen auf sich hat, erklärt er im Interview mit Daniela Prugger für Ukraine verstehen.
Herr Burlaka, was fasziniert Sie an den Balkons in der Ukraine?
Die Architektur in der Ukraine ist mehr oder weniger dieselbe wie in anderen europäischen Ländern: Es gibt neobarocke und moderne Bauten und welche im Jugendstil. Aber die Balkons sind einzigartig. Sie können an der Fassade desselben Gebäudes völlig unterschiedlich aussehen. Die Formen und Farben erzählen nicht nur die Geschichte des Hauses, sie sagen auch viel über den sozialen Status der Eigentümer aus. In den meisten Ländern schaut man sich die Wohnungen der Menschen an. In der Ukraine sind es die Balkons.
Es wirkt so, als seien die Balkons zu einem Statussymbol geworden.
Ja. Es ist verrückt, dass die Leute denken, man muss einen Balkon haben. Ein Auto, und einen Balkon.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
In den vergangenen 100 Jahren haben sich die politischen Verhältnisse in der Ukraine ständig verändert und es gab einige schwere Finanzkrisen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich mehrere Familien gemeinsam eine Wohnung geteilt und die Menschen zusammen in einem Zimmer gewohnt. Das Treppenhaus, der Korridor, die Küche – alles wurde geteilt. Wer den Zugang zu einem Balkon hatte, hatte mehr Platz und einen zusätzlichen privaten Bereich. Das war ein Privileg.
In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass der Balkon noch weitere Funktionen hatte.
Im 19. Jahrhundert sollte der Balkon das Wohlbefinden der Menschen fördern. Wenn man so will, hat er die Sonne zu den Menschen gebracht. Und die frische Luft. Aber auch historisch gesehen spielen Balkons eine symbolische Rolle. In der Vergangenheit haben viele Diktatoren und Präsidenten von ihren Balkons aus zum Volk gesprochen, Verordnungen erklärt und Kriege ausgerufen.
Sie haben mehr als 2.000 Balkons dokumentiert. Was ist Ihnen bei der Recherche aufgefallen?
Egal wo ich war, im Westen oder im Osten, im Süden oder im Norden, es gibt einen Unterschied zwischen den Balkons im Zentrum der Städte und denen in der Peripherie. Man kann den Klassenunterschied ganz klar ablesen.
In Kyjiw findet man Balkons, die zu einer Art Wintergarten umfunktioniert wurden. Andere dienen als Wohnungseingang. Welche Ursprünge hat dieses Bauphänomen?
In den 90er Jahren wurden mit dem Ende der Sowjetunion die meisten Bewohner zu den Eigentümern ihrer Wohnungen, und zu diesem Zeitpunkt wurde auch die sogenannte „Euro Renovierung“ populär. Die Menschen haben günstige Materialien dafür verwendet, ihre Wohnungen zu modernisieren und den Balkon gleich mit. Plastik, Kunststoff, Holz, Gummi, alles wurde verwendet. Die Devise lautete: „do it yourself“. Und den Ideen, was man mit einem Balkon alles machen kann, hat nur das Material selbst Grenzen gesetzt.
Was lernt man denn über die ukrainische Gesellschaft, wenn man sich die Balkons der Menschen ansieht?
Dass die Leute ihr Leben verbessern wollen. Dass sie die Kontrolle über ihr Eigentum übernommen haben und dass ihnen Ästhetik nicht so wichtig ist wie Funktionalität. Wenn es um den Wohnraum geht, denken die Ukrainer leider nicht an die Stadt und an ihr Land, sondern vor allem an sich selbst.
Wie meinen Sie das?
Viele Balkonbesitzer, mit denen ich für das Buch gesprochen habe, wollen, dass die Dinge in unserem Land geregelt werden. Sie finden es gut, dass es in der EU Gesetze und Regulierungen für den öffentlichen Raum gibt. Und dass man dort zum Beispiel nicht einfach überall parken kann. Gleichzeitig machen sie in der Ukraine einfach weiterhin alles so, wie vor zehn Jahren. Wenn es um Balkons geht, dann ist das hier der Wilde Westen. Die meisten wurden nicht legal gebaut, aber die Strafen sind auch nicht besonders hoch. Die Balkons sind ein Teil von jener Freiheit, die die Menschen hier nicht mehr aufgeben, nach all den Jahrzehnten der Unterdrückung. Ich liebe und hasse das alles gleichermaßen.
Was machen denn die Ukrainer auf ihren Balkons?
Während der Recherche bin ich auf Balkons gestoßen, wo Pilze gezüchtet wurden. In Poltawa hat jemand ein Schwein auf dem Balkon gehalten. In Dnipro hat jemand vor einigen Jahren ein kleines Schwimmbad auf seinem Balkon aufgebaut. Es gibt Tontechniker, die den Balkon als Soundstudio einrichten. Ich habe Balkons gesehen, die Schlafzimmer waren. Interessant sind die Balkons im Erdgeschoss der Häuser. Viele wurden zum Eingang für kleine Shops oder Friseurläden. Und an manche wurde eine Rollstuhlrampe angebaut, weil die meisten Gebäude in der Ukraine noch immer nicht barrierefrei sind.
Was manifestiert sich denn in dieser „do it yourself“-Philosophie?
Ich glaube, dass man an diesen Ideen den anarchistischen Charakter unserer Gesellschaft ablesen kann. Die Leute hier glauben der Regierung nicht. Sie glauben aber auch nicht an die Idee des Staates, schon gar nicht an die eines Sozialstaates, der für sie sorgt. Deshalb versuchen die Leute ihre Leben selbst zu verbessern und fangen damit in ihrer eigenen Wohnung an.
Ist das „Balkonphänomen“ ein Generationenphänomen?
Ich glaube, dass es ein wirtschaftliches Phänomen ist. Je nachdem, wie sich die Ukraine entwickelt, wird es diesen Balkon-Wildwuchs auch in Zukunft geben. In den nächsten zehn oder zwanzig Jahren gibt es für mich zwei Möglichkeiten: Entweder es wird mehr Regulierungen geben und viele Balkons werden entfernt, damit die Häuser richtig renoviert werden können, oder die Fassaden werden noch chaotischer aussehen.
Wenn man sich manche Balkons von der Straße aus ansieht, zweifelt man hin und wieder an ihrer Sicherheit.
Die fallen schon nicht runter. Ich befürchte ja, dass die meisten Balkons stabiler als die Gebäude sind, an die sie angebaut wurden.
In den sozialen Netzwerken gibt es längst eigene Seiten, die sich ausschließlich der schrägen Balkons in der Ukraine widmen. Haben sie das Zeug, eine Touristenattraktion zu werden?
Ich könnte mir Stadtführungen vorstellen, bei denen man zeigt, wie die Menschen in der Ukraine leben. Einfach, indem man in die Innenhöfe dieses Landes spaziert und sich die Balkons ansieht. Im Grund kann ja alles zur Touristenattraktion werden. Aber ich glaube, dass das, was wir in den sozialen Netzwerken erleben, eine Form von „Ruinen-Porno“ ist. Ich finde es nicht richtig, sich über die Balkons lustig zu machen. Denn die meisten Ukrainer sind wahnsinnig stolz auf ihren Balkon. Und hinter jeden „verrückten“ Fassade steckt eine ganz eigene Geschichte.
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