„Es mangelt an einem Ver­ste­hen dessen, was in der Ukraine vor sich geht“

Der Lwiwer Essay­ist und Psy­cho­ana­ly­ti­ker Jurko Pro­chasko über die ver­meint­li­che Teilung der Ukraine, die Natio­nen­bil­dung des Landes und über man­geln­des Wissen in Deutsch­land über seine Heimat. 

Wie hat sich die Ukraine seit der „Revo­lu­tion der Würde“ verändert?

Die Ukraine das ist beob­acht­bar, das emp­finde ich auch so, hat sich inner­halb von den letzten zwei­ein­halb Jahren seit dieser Revo­lu­tion oder seit bald fast drei Jahren stärker und viel­fa­cher und gra­vie­ren­der ver­än­dert als in der gesam­ten Zeit davor, das heißt, in den letzten 20 Jahren. Es ist so, dass diese Ver­än­de­run­gen, die man sich erhofft hat weit unter­halb den Erwar­tun­gen liegen, die man sich als Mai­dan­ver­tre­ter vor­ge­stellt hatte. Aber es tut sich trotz­dem vieles auf ver­schie­de­nen Gebie­ten: es ver­läuft wider­sprüch­lich, es ver­läuft manch­mal dann auch mit großen Schwie­rig­kei­ten und auch mit großen Wider­stän­den von Seiten der alten oder älteren poli­ti­schen Eliten. Aber ich sehe nicht schwarz. Im Gegen­teil, ich sehe große, wenn auch sehr kon­flikt­rei­che Fortschritte.

Ist die Ukraine ein gespal­te­nes Land?

Ja, aber es kommt sehr darauf an wie es gemeint ist, also was man unter dieser Spal­tung ver­steht. Wenn man sich dieses Schema vor Augen führt – hier der Westen, da der Osten – das Schema, das man sehr oft in den Medien und Dis­kur­sen beob­ach­ten kann, dann stimmt dieses Bild natür­lich nicht. Die Ukraine ist aber ein gespal­te­nes Land, aber wie­derum ein sehr viel­fach und auf sehr vielen Berei­chen, sehr unter­schied­lich gespal­te­tes Land. Wie auch jedes andere euro­päi­sche und außer­eu­ro­päi­sche Land. Es ist his­to­risch unter­schied­lich geprägt: Natür­lich gibt es poli­ti­sche Debat­ten, natür­lich spalten diese Debat­ten auch manch­mal die Gesell­schaft, natür­lich gibt es auch ver­schie­dene Auf­fas­sun­gen von Geschichte und von Sprach- und Min­der­hei­ten­po­li­tik. Dies sind jedoch Sachen, die die grund­sätz­li­che und all­ge­meine Einheit oder besser gesagt, die all­ge­meine Iden­ti­tät oder Gefühl kei­nes­wegs unter­gräbt. Sondern das ist ein ganz nor­ma­ler Ver­stän­di­gungs­pro­zess, ein Aus­dif­fe­ren­zie­rungs- und Dis­kus­si­ons­pro­zess, der immer da ist.

Ist die natio­nale Iden­ti­täts­bil­dung der Ukraine mit dem Wunsch nach euro­päi­scher Inte­gra­tion vereinbar?

Durch­aus, es ist nicht weniger ver­ein­bar als zum Bei­spiel die Iden­ti­täts­su­che der Deut­schen. Obwohl wie­derum anders, weil wie gesagt, die großen euro­päi­schen Staaten wie zum Bei­spiel Deutsch­land, gerade nach diesen schwers­ten – mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­bun­de­nen – his­to­ri­schen Erfah­run­gen haben ihre natio­na­len Inter­es­sen und Iden­ti­tä­ten schon lange auf anderen Wegen gesi­chert. Jetzt können sie daher­kom­men und sagen: Iden­ti­tät ist nicht nur etwas Zweit­ran­gi­ges, sondern sogar etwas Gefähr­li­ches, oder: Natio­nal­ge­fühl ist längst über­holt. Wenn man nun von Natio­na­lis­mus spricht oder von Natio­na­lis­men, dann meint man eben diese „kleinen“ Staaten: Litauer sind Natio­na­lis­ten, Ukrai­ner sind Natio­na­lis­ten, Albaner sind Natio­na­lis­ten, aber nicht Deut­sche, Fran­zo­sen oder Eng­län­der. Gerade in den letzten Monaten beob­ach­ten wir aber sehr deut­lich, dass die Fragen der Iden­ti­tät, auch der natio­na­len Iden­ti­tät und die Fragen des Natio­na­lis­mus und die Frage des „Euro­pä­isch­seins” und ihre Ver­ein­bar­keit mit­ein­an­der, auch in den zen­tra­len euro­päi­schen Staaten über­haupt nicht end­gül­tig beant­wor­tet sind. Sondern es ist ein Prozess oder länger dau­ernde Pro­zesse, die sowohl für West­eu­ropa als auch für Mittel- und Ost­eu­ropa gelten, glei­cher­ma­ßen obwohl unterschiedlich.

Warum gibt es in Deutsch­land ange­sichts der schmerz­haf­ten gemein­sa­men Geschichte wenig Empa­thie für die Ukraine?

Ich würde nicht sagen, dass es wenig Empa­thie ist. Diese erlebe ich wie­der­holt auf ver­schie­dens­ten Ebenen und in sehr ver­schie­de­nen Situa­tio­nen. Für mein Emp­fin­den mangelt es an einem wirk­li­chen Ver­ste­hen dessen, was in der Ukraine vor sich geht. Ich spreche hier nicht einmal von „Ver­ständ­nis“ – man kann Ver­ständ­nis haben für kom­pli­zierte gesell­schaft­li­che Ver­hält­nisse, man kann Ver­ständ­nis haben für wirt­schaft­li­che Miseren – aber Ver­ständ­nis und Ver­ste­hen sind für mich in diesem Zusam­men­hang unter­schied­li­che Sachen. Woran es mir fehlt im deut­schen Ver­ste­hen der Ukraine sind eben sehr gute Grund­la­gen des Wissens, ver­gleich­bar mit dem Wissen über andere Nach­bar­län­der wie Frank­reich, die Nie­der­lande oder andere West­eu­ro­päi­sche Länder und Staaten. Es gibt zu wenig ero­ti­sche Bezie­hun­gen würde ich sagen, im Wissen, im Inter­esse für diese Länder die sich öst­li­cher befin­den. Zu einem kann das schon sehr stark mit ver­dräng­ten Schuld­ge­füh­len zusam­men­hän­gen. Und zum anderen gibt es so etwas wie einen Effekt des Über­sprin­gens. Große euro­päi­sche Staaten, Gesell­schaf­ten, ehe­ma­lige Impe­ri­al­mächte, wie Frank­reich und Deutsch­land ten­die­ren reflex­ar­tig sehr stark dazu sich sozu­sa­gen mit den anderen ehe­ma­li­gen Impe­rien eben­bür­tig, auf Augen­höhe eher zu ver­stän­di­gen und Empa­thie für diese zu ent­wi­ckeln als für die Gesell­schaf­ten, Länder und Völker, die man einst gemein­sam in dieser Kom­pli­zen­schaft geteilt und regiert hat.


Lesen Sie auch den Essay von Jurko Pro­chasko „Unbe­tei­ligt geteilt“: Woher im Westen der tief­sit­zende Wunsch kommt, die von außen herbei geführte, gewalt­same Teilung der Ukraine zu rechtfertigen.


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