Selenskyj und ukrainische Intellektuelle
Bekanntermaßen hat Präsident Selenskyj die Präsidentschaftswahl haushoch gewonnen und seine Partei „Diener des Volkes“ in den anschließenden Parlamentswahlen als erste Partei überhaupt die absolute Mehrheit erringen können. Zahlreiche Intellektuelle der Ukraine, vereinigt in der Gruppierung „1. Dezember“, hatten zuvor über verschiedene Kanäle versucht, Stimmung gegen Selenskyj und für den von ihnen unterstützen Petro Poroschenko zu machen. Woran lag das? Unser Autor Andrii Portnov begibt sich auf eine Spurensuche.
Bei den ersten ukrainischen Präsidentschaftswahlen im Dezember 1991 erhielt der ehemalige Parteifunktionär Leonid Krawtschuk 61,6 % der Stimmen und setzte sich so gleich gegen mehrere Kandidaten der sogenannten national-demokratischen Kräfte durch. Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im Mai 2014 wurde Petro Poroschenko mit 54,7 % der Stimmen gewählt. Beide Entscheidungen fielen im ersten Wahlgang und erfolgten unter extremen Bedingungen: nach dem Zerfall der Sowjetunion bzw. während eines offenen militärischen Konflikts mit unmittelbarer Einmischung eines anderen Staates. Alle anderen Präsidentschaftswahlen wurden in einer Stichwahl entschieden. Mithin bedeuten die 73,22 % von Wolodymyr Selenskyj den mit Abstand größten Wahlsieg.
Erinnern wir uns daran, dass Leonid Kutschma die vorgezogenen Wahlen von 1994 mit 52,15 % der Stimmen gewann und dann 1999 diesen Erfolg mit einem Wahlergebnis von 56,25 % wiederholen konnte, was nicht ohne massive Unterstützung des Staatsapparates geschah. Außer ihm gelang es bisher keinem anderen ukrainischen Präsidenten, für eine zweite Amtszeit gewählt zu werden. Nach der Orangen Revolution von 2004 gab es eine zweite Stichwahl, bei der auf Wiktor Juschtschenko 51,99 % der Stimmen entfielen. Allerdings gelang es dann Wiktor Janukowytsch 2010 doch, mit einem Wahlergebnis von 48,45 % zum Präsidenten gewählt zu werden. Damals war die Differenz zu seiner Hauptrivalin Julia Tymoschenko geringer als der Stimmenanteil gegen die beiden Kandidaten.
Den phänomenalen Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen konnte Selenskyj mit seiner Partei „Diener des Volkes“ bei den vorgezogenen Parlamentswahlen bestätigen und sogar noch weiter ausbauen. Bei den Listenplätzen errangen die „Diener des Volkes“ 43,16 % der abgegebenen Stimmen, was 124 Sitzen in der Werchowna Rada entspricht. Und die Anzahl der Direktmandate lag sogar noch höher, so dass die Partei weitere 130 Abgeordnete stellt. Ein solches Ergebnis und ein solches Gewicht der Parteizugehörigkeit, die in vielen Situationen allein über den Sieg entschied, hatten wahrscheinlich sogar die Gewinner der Wahl selbst nicht erwartet. Ein sehr anschauliches Beispiel dafür ist der Sieg eines Hochzeitsfotografen im Wahlkreis Saporischschja über einen einflussreichen Geschäftsführer eines großen produzierenden Unternehmens, der als langjähriger Abgeordneter über mehrere Legislaturperioden im Parlament gesessen hatte. Und so errang zum ersten Mal in der postsowjetischen Geschichte der Ukraine eine Partei über 250 Sitze im Parlament und somit die absolute Mehrheit. Bislang war noch niemand in der ukrainischen Geschichte des politischen Pluralismus den Versuchungen eines derartigen Machtmonopols ausgesetzt gewesen. Und nie zuvor hatte ein Kandidat oder eine politische Kraft je einen solchen regionalen Zusammenhalt bewirken können.
Zudem weisen die beiden jüngsten Wahlkämpfe in der Ukraine noch eine weitere interessante, jedoch kaum bemerkte Besonderheit auf, nämlich die bemerkenswerte Unterstützung der ukrainischen Intellektuellenszene bzw. der „moralischen Autoritäten“ oder „Meinungsführer“, wie sich die meisten in diesem Artikel erwähnten Akteure selbst definieren, für den Präsidentschaftskandidaten Petro Poroschenko. Genau dieses Phänomen versuche ich an dieser Stelle zu beschreiben und zu analysieren.
Warum sollte man für Poroschenko stimmen?
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, am 13. März 2019 hat die Initiativgruppe „1. Dezember“ einen Appell an die Ukrainer veröffentlicht. Dabei handelt es sich um eine informelle Vereinigung, die 2011 von ein paar bekannten Intellektuellen der älteren Generation gegründet wurde. Die Autoren dieses Appells, bekannte Schriftsteller und ehemalige Dissidenten, mahnten die Wähler zu Verantwortung und Wahrung der Ideale des Majdan. Außerdem warnten sie vor „einer Zirkusvorstellung statt Wahlen“, da dadurch „die Existenz der staatlichen Institutionen bedroht“ sei. Einer der Unterzeichnenden dieses Appells ist Myroslaw Marynowytsch, ehemaliger Polithäftling zu Sowjetzeiten und nun stellvertretender Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw. In seinem Artikel „Warum ich Poroschenko wähle?“ hatte er die Hauptthese des Appells aufgestellt und die Ukrainer dazu aufgerufen, ihr Augenmerk auf die nationale Sicherheit und die Außenpolitik zu richten. Poroschenkos wichtigste außenpolitische Erfolge sind seiner Meinung nach die vom Patriarchen von Konstantinopel verliehene Eigenständigkeit der Ukrainischen Orthodoxen Kirche und die Visafreiheit mit den Schengener Staaten. Bei den Präsidentschaftswahlen wird laut Marynowytsch über nicht weniger als über die „Existenz des Staates“ entschieden.
Ähnliche Aufrufe, manchmal weniger dramatisch, aber nicht selten auch noch dramatischer, kamen auch von vielen anderen bekannten ukrainischen Intellektuellen. So veröffentlichte die Schriftstellerin Oksana Sabuschko im Vorfeld der Stichwahl, deren Ausgang zu diesem Zeitpunkt bereits abzusehen war, einen Artikel in der FAZ, in dem sie sich mit den Risiken auseinandersetzte, die der Sieg eines „völlig virtuellen Kandidaten“ mit sich bringen würde, gleichzusetzen mit der fiktiven Figur des Bären Waldo aus der britischen Serie „Black Mirror“. Aus ihrer Sicht hatte „die Ukraine eine Prüfung im Fach Realitätssinn“ zu bestehen und sei erneut das „Experimentierfeld, auf dem die Lebensfähigkeit der Grundlagen der westlichen Zivilisation getestet wird“. Nach erwartungsgemäß nicht bestandener Prüfung war Sabuschko schonungslos in ihrer Beschreibung des gewählten Präsidenten: „Er ist weder gebildet noch vorbereitet oder kompetent. Ihm fehlt jegliches Zugehörigkeitsgefühl zu seinem Land. Denn das ist nicht sein Land. Das hier ist für ihn nur ein Gastspiel. Er kommt aus dem Showbusiness und ist ein Produkt der Moskauer Geschäftswelt“.
Noch pessimistischer als Sabuschko ist wahrscheinlich nur der Philosoph Taras Wozniak. Sein Tenor direkt nach der Stichwahl lautete: Durch die Ablehnung des Präsidentschaftskandidaten Poroschenko hat das ukrainische Volk gezeigt, dass es „keine Veränderungen will und an einer schweren, möglicherweise sogar unheilbaren Krankheit leidet“. Die Schlussfolgerung des Artikels von Wozniak ist dramatisch: „Die Ukraine soll zerstört werden“.
Revolution? Ja, aber welche? Die Suche nach historischen Beispielen
Bereits nach der Stichwahl hielt der Journalist Witalij Portnikow der weit verbreiteten These, Selenskyjs Wahltriumph sei eine Revanche, entgegen, dass dies keinerlei Revanche sei, sondern der Sieg eines Niemand und eines Nichts, genauso wie 1917 – 1921. Portnikow vertritt die Meinung, dass „diejenigen, die heute an der Macht sind, die Zerstörung der Institutionen zu ihrem Ziel erklärt haben, damit sie im Chaos regieren können. Sie wüssten selber noch nicht wozu, aber sie könnten einfach nicht anders“. In diesem Fall ist der Vergleich mit den Ereignissen von vor hundert Jahren wahrscheinlich eine Anspielung darauf, dass sich die Revolutionseuphorie des Februar 2017 als Vorstufe zu Chaos und Diktatur erwies. Den Vergleich mit der Situation von 1917 – 1921 stellte auch Jaroslaw Gryzak an und bekannte sich ebenfalls öffentlich zur Kandidatur Poroschenkos. Der Historiker ist der Auffassung, dass wenn im Jahre 2017 nicht die Triple Entente zur Siegermacht geworden wäre, sondern Deutschland mit seinen Verbündeten, die ukrainische Staatlichkeit „höchstwahrscheinlich standgehalten“ hätte. Im Gegensatz zum Anfang des 20. Jahrhunderts besteht heute allerdings weltweit Konsens über die Existenz des ukrainischen Staates.
Interessant ist, dass Dmytro Rasumkov, die Nummer Eins der Parteiliste von „Diener des Volkes“, sich in einem Interview ebenfalls auf die Ereignisse von 1917 – 1921 bezieht, wobei ihm dieser historische Bezug, aber wahrscheinlich nicht einmal bewusst ist. Selenskyjs Sieg bezeichnet er als „dritte Revolution“, die friedlich, ohne Opfer und „positiv“ verlaufen ist. Ihr Ziel sei „der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Konsolidierung der Gesellschaft um der richtigen Ziele willen“ gewesen. Dabei hatte er als enger Mitstreiter Selenskyjs wahrscheinlich bloß nach positiv klingenden Parolen für ein gewinnsicheres politisches Programm gesucht. Im Kontext der 1918 – 1919 Jahre hat jedoch der Begriff einer „dritten Revolution“ eine etwas andere Bedeutung, wobei man darüber streiten könnte. Der Schriftsteller Walerjan Pidmohylnyj hat mit diesen Worten Übergriffe von Nestor Machno auf Dörfer im Rahmen einer anarchistischen Bewegung bezeichnet. In seiner gleichnamigen Erzählung erlebt eine Protagonistin aus Jekaterinoslaw (heute Dnipro) den 15. Machtwechsel in nicht einmal zwei Jahren. Sie betet zu Gott, dass „die neue Macht von Dauer ist, also wenigstens zwei Monate bleibt“.
Reality-TV als politische Realität
Wenn Sabuschko Selenskyjs Sieg analysiert, nennt sie als Hauptursache die Schulbildung. Aus ihrer Sicht hat eine Fernsehfigur die Lehrbücher ersetzt, aus denen zu Zeiten von Janukowytsch ihre eigenen Werke getilgt wurden. Und die Fernsehserie „Diener des Volkes“ konnte nur deshalb so erfolgreich sein, weil das Bildungsniveau auf einem Tiefpunkt angelangt ist und „Unterhaltungsprogramme als Teil der eigenen Identität wahrgenommen werden“.
Fast dasselbe Argument führt Selenskyjs damaliger Wahlkampfleiter und nun neu gewählter Parlamentsabgeordneter (Listenplatz 97 bei „Diener des Volkes“) Mykyta Poturajew an – allerdings freundlicher und optimistischer ausgedrückt. Nach seiner Einschätzung „lesen die Ukrainer im Durchschnitt weniger als ein Buch pro Jahr, und so ist auch der Erfolg dieser Reality-Show zu erklären“.
In einer seiner Kolumnen machte sich im Vorfeld der Parlamentswahlen der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch schonungslos über diesen Fernsehkontext lustig. Den Wahlkampf der Parteien „Diener des Volkes“ und „Stimme“ des Rockstars Swjatoslaw Wakartschuk, die im Gebiet Lwiw übrigens einen minimalen Sieg bei den Listenplätzen erzielte, bezeichnete Andruchowytsch als Wettbewerb um das beste Fernsehprojekt des Senders „1+1“. Damit meint er die Serie „Diener des Volkes“ mit Selenskyj in Hauptrolle und die Talentshow „The Voice of Ukraine“, in der Wakartschuk 2015 als Trainer von Amateursängern antrat. Beide Rollen sieht er als „Parodien eines modernen Messias ukrainischer Couleur“.
In einer anderen Kolumne betrachtet Andruchowytsch einen weiteren wichtigen Aspekt der Wahlen und zwar die Einigkeit sämtlicher ukrainischer Regionen bezüglich der Unterstützung von „Diener des Volkes“. Die Partei hat überall gewonnen, unter anderem auch in Andruchowytschs Heimat Galizien mit den Gebieten Iwano-Frankiwsk, Lwiw und Ternopil. Nach der Teilung des Doppelstaates Polen-Litauen Ende des 18. Jahrhunderts gehörte Galizien bis 1918 zu Österreich-Ungarn. Von 1919 bis 1939 war es Teil Polens. Nicht ganz unwichtig ist auch, dass diese Region während des zweiten Weltkrieges und im ersten Jahrzehnt danach als wichtiges Gebiet für den ukrainischen nationalistischen Untergrund fungierte. Der Schriftsteller meint, dass mit der Abstimmung für „Diener des Volkes“ und Selenskyj „Galizien aufhört, als separate politische Einheit zu existieren, ein Galizien, das bis dahin für das ganze Land zwar umstrittene, aber dennoch existenzielle Botschaften generiert hatte“. Ansonsten wäre die Ukraine „schon längst zu einer größeren Version von Belarus geworden“.
Propheten im eigenen Land
In den oben angeführten Intellektuellen-Zitaten vermisse ich ganz stark deren Analyse ihrer eigenen Illusionen, Fehleinschätzungen bzw. der Überbewertung ihrer eigenen Bedeutung in der Gesellschaft. Angesichts dieser Umstände kann man dem Schriftsteller Ostap Drosdow nur zustimmen wenn er schreibt, dass diese Wahlen sehr deutlich gezeigt haben, dass „die Menschen nicht auf moralische Autoritäten und Meinungsführer hören“.
Noch interessanter ist die Frage, was die „Meinungsführer“ selber davon halten, dass sie sich kein Gehör verschaffen konnten. So hieß es beispielsweise im Appell der Gruppe „1. Dezember“ im Vorfeld der Wahlen noch, die Ukrainer seien ein „freiheitsliebendes Volk mit eigenem Selbstwertgefühl und dürften daher nicht vergessen, dass dies eine gewisse zivilgesellschaftliche und moralische Verantwortung mit sich bringt“. In den meisten Kommentaren nach dem Wahlkampf wird dieses Volk dagegen seitens der Intellektuellen tüchtig gescholten.
Dass Oksana Sabuschko einen bedeutenden ukrainischen Intellektuellen zitiert, der Ende des 19. Jahrhunderts Mitglied einer sozialrevolutionären Bewegung war, spricht Bände: „Die Demokratie setzt eine gewisses kulturelles Niveau voraus, damit sie funktionsfähig und wirkungsvoll sein kann“ Diesen elitären Aspekt treibt schließlich der Schriftsteller Jurij Wynnytschuk noch auf die Spitze wenn es schreibt: „der Sieg einer ungebildeten Mehrheit über die intellektuelle Minderheit hat noch nie zu etwas Guten geführt“ und die Ukraine müsse sich nun auf dasselbe Regime gefasst machen, „das in Russland schon lange verankert ist“. Der Schriftsteller und Übersetzer Oleksandr Bojtschenko schreibt: „Bestenfalls kehrt der Zug unserer Staatlichkeit nun zu dem Bahnhof zurück, von dem aus er vor fünf Jahre zu seiner Fahrt gestartet war“ und bezeichnet sämtliche Selenskyj-Wähler als seine Feinde. Jurij Andruchowytsch prophezeit ein Katastrophenszenario: „Ein Volk, das mit all seinen Reflexen die Krise anzieht, wird sich dieser Krise ohne Wenn und Aber ausgesetzt sehen. Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen. Das nächste Gewitter wird es zeigen“.
Man muss wissen, wie sehr sich die Autoren dieser Zitate mit dem Majdan identifizieren, nur dann begreift man ihre Erbitterung und ihren Schmerz . Ich glaube genau das meinte auch Witalij Nachmanowytsch, als er dazu aufrief, man solle „möglichst schnell“ anerkennen, dass der wahre Verlierer der Wahlen nicht Poroschenko ist, sondern „all die Menschen, die sich mit dem Majdan identifizieren“.
Auf dem Majdan und nach dem Majdan haben die von mir zitierten Autoren mehrfach ihrer Freude über eben jenes Volk Ausdruck verliehen , das ihrer Meinung nach dann nur fünf Jahre später die russische Propaganda und die virtuelle Realität gewählt hat. Als Sabuschko über den Majdan schrieb, sprach sie vom „Glücksgefühl“ angesichts einer Ukraine als „kollektives Individuum“ und „kollektive Seele“. Andruchowytsch bezeichnete den Majdan als „Ausdruck eines besonderen ukrainischen Geistes“. Für Gryzak war der Majdan das Produkt einer „Generation der Unabhängigkeit“. Für ihn war dies möglich geworden, weil die Mehrheit der Ukrainer sich für die „Werte der Selbstverwirklichung“ entschieden hatte während die Mehrheit der Russen „die Werte des Überlebens“ wählte.
Man könnte nun wohl erwarten, dass eine dermaßen radikale Meinungsänderung der Wähler in nur fünf Jahren zum Anlass für eine ernsthafte Analyse und Reflexion wird. Und ist die Motivation der Mehrheit der Ukrainer, die für ein Wunder gestimmt haben, 2019 wirklich so anders als die bei den Wahlen 2014? Poroschenkos letzter Wahlkampf hatte auf der rechtskonservativen Rhetorik unter dem Motto „Armee, Glaube, Sprache“ beruht. Als Präsidentschaftskandidat 2014 sprach er jedoch über die baldige Beendigung des Krieges, neue Gesichter in seinem Team und schwere Strafen für Verbrechen des früheren Regimes.
Eine selbstkritische Reflexion der Intellektuellen hätte wahrscheinlich eine größere Relevanz. Wie und warum ist es dazu gekommen, dass dieselben Persönlichkeiten, die Anfang der 1990-er Jahre eine große Bekanntheit als Symbole der Postmoderne und Kämpfer gegen provinzielle Vorurteile erlangten, sich nun dazu berufen fühlen, die Nation wachzurütteln. Gleichzeitig schlüpfen sie noch in die Rolle der Hüter von nationalen Traditionen, die den ungebildeten Massen wohl fern sind. Hat es sich wirklich erst 2019 herausgestellt, dass zwischen dem Hang vieler „Meinungsführer“ zur Selbstdarstellung und einer rationalen Analyse der Situation eine Kluft liegt, die nicht weniger groß ist als zwischen Selenskyjs Satiresendung „95-Kvartal“ und dem Humor von Monty Python?
Für was steht Selenskyj?
Bis heute ist unverständlich, was in der Ukraine bei den letzten Wahlen geschah. War das eine optimistische Verschnaufpause vor dem unvermeidlichen Chaos? Ist das die ukrainische Version einer internationalen Bewegung gegen die herrschenden Eliten oder ein populistischer Aufstand gegen das korrupte Establishment? Handelt es sich um eine Machtmanifestation der Massenkultur und den vollständigen Niedergang der Kultur? Was war das? Ein Triumph des linken Paternalismus? Ein Höhepunkt der Enttäuschung oder der Majdan der Wähler? Ein Triumph der russischen Propaganda? Eine positive und friedliche Revolution?
Folgende Fragen bedürfen einer ernsthaften Analyse: warum hat der Majdan nicht eine bedingungslose symbolische Bedeutung für die Mehrheit der Ukrainer erlangt bzw. warum hat er diese Bedeutung so schnell verloren? Wie kann man die Leichtigkeit erklären, mit der die ukrainischen Wähler auf das Prinzip der politischen Konkurrenz verzichtet haben? Denn genau dadurch hatte sich die postsowjetische Ukraine doch vom benachbarten Belarus und von Russland unterschieden.
Die Klärung dieser Fragen steht noch aus.
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