Quarantäne in Slowjansk: Wie eine Stadt in der Ostukraine unter dem Shutdown lebt
Covid-19-Pandemie trifft die ostukrainische Stadt Slowjansk besonders hart. In der 110.000 Einwohner-Stadt leben 70 Prozent Senioren, die zur Risikogruppe gehören. Dazu kommt, dass den anderen Einwohnern durch die Quarantäne die Einnahmequellen wegbrechen. Aber wie genau kommen Unternehmer, Journalisten und der öffentliche Sektor mit den Einschränkungen zurecht? Von Veronika Perepelitsa
„Gehen Sie nicht ohne Maske aus dem Haus, betreten Sie keine Parkanlagen und nutzen Sie öffentliche Verkehrsmittel nur mit Personalausweis“, heißt es in den Corona-Gesetzen der Ukraine. Bei einem Verstoß gegen die Quarantäne-Maßnahmen drohen mindestens 17.000 Hrywna (rund 560 Euro) Strafe. Die Zahl der mit Covid-19 infizierten Menschen im Land steigt täglich. Bisher wurden 83 Fälle in der Region Donezk und 2 Fälle in der Stadt Slowjansk gemeldet [Stand 08.05.2020], wobei die ersten Infizierten am 13. und 22. April registriert wurden. Schon am 12. März hat die Ukraine die Quarantäne-Regeln verabschiedet, zunächst nur für Bildungseinrichtungen, wenige Tage später für alle Lebensbereiche.
Am 22. April verlängerte die Regierung die Quarantäne bis zum 22. Mai. Behörden bleiben geschlossen, Bus- und Zugverbindungen wurden eingestellt und in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die noch in Betrieb sind, dürfen sich nicht mehr als 10 Personen pro Fahrzeug aufhalten. Auf den Straßen sieht man immer weniger Menschen, das Tragen von Schutzmasken ist Pflicht.
Wie leben die Bürger*innen von Slowjansk?
In Slowjansk begann 2014 der Krieg in der Ostukraine. In wenigen Monaten wurde die Stadt stark beschädigt und nach dem Ende der Kämpfe begann das normale Leben für die meisten Menschen wieder von Null an. Jedoch entstanden in den letzten sechs Jahren viele Initiativen, die von Bürgern selbst oder von Vertriebenen aus den besetzten Gebieten ins Leben gerufen wurden. So eröffneten in Slowjansk verschiedene Jugendclubs, ein Konzerthaus und eine Buchhandlung, die zu den größten der Ukraine gehört.
Beliebt sind auch die gemütlichen Cafés, Restaurants und eine Bar mit lokal gebrautem Bier. Die Quarantäne hat nun das öffentliche Leben lahmgelegt, worunter auch Kleinunternehmen und die Gastronomie stark leiden.
Das gemütliche Prostokava-Café zählt zu den beliebtesten Orten im Herzen von Slowjansk. In dem Café, das 2015 eröffnet wurde, treffen sich Teenager zu Brettspielen oder Mütter mit Kindern. Ende 2019 eröffnete Prostokava eine zweite Filiale, wo Kaffee außer Haus angeboten wurde und die wegen der Corona-Krise inzwischen schließen musste. „Das größte Problem ist, dass wir Steuern zahlen müssen, obwohl wir keine Einnahmen haben“, sagt Julija Dovgopolska, Miteigentümerin des Cafés. „Wir haben sieben Mitarbeiter, für die wir Steuern und eine Militärabgabe zahlen müssen, was schon eine harte Belastung ist. Jetzt müssen wir alle Mitarbeiter in den unbezahlten Urlaub schicken“, erläutert Dovgopolska. Ungewiss sei auch, wie lange man sich die Miete für die Räumlichkeiten noch leisten könne. Dovgopolska hofft, dass sie sich mit dem Vermieter auf eine Preissenkung einigen kann.
Im Sommer 2019 eröffnete in Slowjansk die „E‑BAR“, in der sich Jugendliche, Geschäftsleute oder Ausländer trafen. In der kleinen, stilvollen Bar gab es Craft Beer, selbst gemachte Snacks und verschiedene Arten Kaffee und Tee. Wegen der Quarantäne musste auch die „E‑BAR“ schließen.
„Wir warten alle darauf, dass die Isolation bald vorbei ist“, sagt Barbesitzer Edward Kaidan. Aber auch nach Corona würde es lange dauern, bis die Menschen zu ihrem normalen Lebensrhythmus zurückfinden, meint Kaidan, und nur wenige würden sofort wieder Bars oder Restaurants besuchen. „Wir haben versucht, unsere Produkte online zu verkaufen, aber das deckt nur ein Prozent der Kosten“, sagt Kaidan.
Die Corona-Maßnahmen und die Einschränkungen in Slowjansk treffen vor allem Kinder und Jugendliche. Vorschulkinder sowie Schüler und Studenten wurden als erste unter Quarantäne gestellt. Inzwischen bieten Schulen Online-Unterricht per Videokonferenz sowie im Fernsehen und auf Youtube an. Gleichzeitig versichert das Bildungsministerium, dass trotz der Verzögerungen die Prüfungen für die Zulassung zu den Universitäten nach Plan verliefen. Edward geht in die 11. Klasse und berichtet, wie er sich zu Haus auf die Abschlussprüfungen vorbereitet: „Mit dem Online-Unterricht klappt es nicht so einfach. In meiner Schule geben die Lehrer eher Hausaufgaben auf, anstatt selber online zu unterrichten. Das macht es schwierig, alleine mit Lehrbüchern zu lernen. Zurzeit bereite ich mich auf die Abiturprüfung vor. Dabei hilft mir die Quarantäne sogar, weil ich mich voll und ganz auf die Prüfungen konzentrieren kann. Dabei nutze ich alle möglichen Ressourcen im Internet.
Für meine Mitschüler ist es schwierig, weil sie nicht an Tutorien teilnehmen können und der Online-Unterricht auch nicht einfach ist. Ich selbst habe mich nicht nur auf Studienplätze in der Ukraine, sondern auch im Ausland beworben. Wie es mit den Auswahlverfahren weiter geht, weiß ich nicht. Ich fürchte, dass wir wegen Corona keine Abschlusszeugnisse bekommen.“
Auswirkungen auf den öffentlichen Sektor und die Medien
Die Quarantäne hat auch Auswirkungen auf den öffentlichen Sektor und die Medien. Auf der Webseite des Stadtrates von Slowjansk erscheinen jeden Tag Informationen über die Anzahl der Verdachtsfälle und der Infizierten. Anschließend sind die Statistiken in den Lokal- und Onlinemedien verfügbar. Der Journalist Dmytro Zhuravliov arbeitet für eine Nachrichtenagentur in Slowjansk. „Wir berichten hauptsächlich, wie die Menschen mit der Pandemie umgehen – von der Regierung bis hin zu Freiwilligen vor Ort“, sagt er und ergänzt, dass er besonders über ältere Menschen berichte.
Gerade für sie ist die Pandemie besonders riskant. Sie dürfen laut Quarantäne-Regeln ihre Wohnungen nicht ohne triftigen Grund verlassen. Die Pandemie könnte dramatische Folgen für Slowjansk haben. Denn 70 Prozent der Bürger sind Rentner und Senioren. Dennoch sieht man auf der Straße viele ältere Leute. Sie gehen zur Post oder zur Bank, weil sie ihre Rente persönlich abholen müssen oder Kommunalgebühren nicht online bezahlen können.
Kurz nach der Quarantäne wurden in Slowjansk mehrere Hilfsprojekte für ältere Menschen ins Leben gerufen. So wurde Ende März ein Koordinierungszentrum für Freiwillige eingerichtet.
Aktivist Vasyl Khomenko ist in der Ostukraine kein unbeschriebenes Blatt. In sozialen Netzwerken berichtet Khomenko über illegale Waldrodungen oder organisiert Minikonzerte für Kinder. Kohmenko montierte sogar Lautsprecher auf dem Dach seines Autos und fährt mehrmals pro Woche durch die Straßen und überträgt über Lautsprecher aktuelle Hinweise zur Quarantäne.
Nicht alle Senioren können in Slowjansk einfach zu Hause zu bleiben. Viktor Butko betreibt seit 1997 einen Verlag, der in einem zweistöckigen, historischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert residiert. Der Verlag gibt Bücher über die Geschichte von Slowjansk, der Eisenbahn und Gedichtbände einheimischer Autoren heraus. Vor der Quarantäne Anfang des Jahres habe der Verlag noch fünf Bücher herausgeben können, erzählt Butko. Nun seien alle Bestellungen storniert worden. Im Erdgeschoss des gleichen Gebäudes eröffnete das vom Auswärtigen Amt und Brot für die Welt finanzierte zivilgesellschaftliche Zentrum „Drukarnia – Civil Society Center Sloviansk“ im September 2019. Drukarnia ist das ukrainische und polnische Wort für „Druckerei“.
„Wir haben hier eine vollwertige Druckerei“, berichtet Verleger Butko. „Ich beschäftige 15 Mitarbeiter, denen ich im März noch das Gehalt gezahlt habe. Bisher habe ich niemanden entlassen. Ich muss außerdem noch Steuern, Stromkosten und eine Militärabgabe zahlen, obwohl ich im letzten Monat fast keine Einnahmen hatte. Ich habe im März vielleicht 3000 bis 4000 Hrywna (rund 100 bis 130 Euro) verdient, aber das reicht nicht aus, um alle Ausgaben zu decken. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie es weiter gehen soll“, erläutert Butko.
Viktor Raszhyvin ist Professor an der Universität Slowjansk und Besitzer einer lokalen Buchhandlung. „Unser Geschäft steht seit dem 18. März unter Quarantäne. Da wir ‚nur‘ Bücher verkaufen, gelten wir nicht als lebenswichtige Einrichtung“, sagt Raszhyvin. „Ich habe die Kosten auf ein Minimum reduziert: Die Heizung habe ich abgestellt, aber ich muss Strom bezahlen und Steuern für vier angestellte Mitarbeiter“, fährt Raszhyvin fort.
„Ich habe meine Mitarbeiter bisher nicht entlassen, sondern in unbezahlten Urlaub geschickt“, sagt Viktor weiter.
„Ich betreibe zwar auch Handel im Internet, aber das kompensiert meine Verluste nicht. Das Schlimme ist, dass ich im März regelmäßig Lieferanten bezahlen musste, so dass ich fast keine liquiden Mittel mehr zur Verfügung habe.“ Weil die Quarantäne bis 11. Mai verlängert wurde, plane Buchhändler Raszhyvin einen Lieferdienst einzurichten, falls das Gewerbeamt dies erlaube.
Auch viele Behörden, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen versuchen, ihre Aktivitäten ins Internet zu verlagern. Eine der ersten Nichtregierungsorganisationen, die nach den Kämpfen 2014 in Slowjansk entstand, ist das zivilgesellschaftliches Zentrum „Teplytsia“. Die NGO engagiert sich in der Jugendbildung, fördert Kultur in der Region und entwickelt Sozialprojekte mit Straßenkindern, Waisenkindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Während der Quarantäne muss Teplytsia viele Aktivitäten aussetzen.
„Seit die Quarantäne am 15. März verhängt wurde, stehen unsere Projekte still“, sagt Anna Awdiants, Leiterin der NGO. „Während der Einschränkungen können wir keine Kreativ-Workshops, Frauentreffen oder Entwicklungshilfe mehr durchführen“, berichtet Awdiants. „Einige Projekte bieten wir jetzt online an, und intern führen wir Teambesprechungen über Videokonferenzen und Chatplattformen durch“, erzählt Awdiants weiter.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in Slowjansk die Bürger unterschiedlich auf die Quarantäne reagieren. Kleine und mittelständische Unternehmen, die nicht im Online-Geschäft tätig sind, stehen unter finanziellen Druck. Die meisten Einwohner kaufen nur die wichtigsten Lebensmittel und Medikamente, viele Angestellte verlieren ihr Einkommen und müssen unbezahlten Urlaub nehmen. Andere Arbeitnehmer werden entlassen, weil Firmen nicht in der Lage sind, ihre Arbeitskräfte weiter zu bezahlen.
„Die Preise für Lebensmittel sind gestiegen, und Online-Lieferungen nach Hause sind ebenfalls teuer“, beklagt Tetiana, eine Mutter von zwei Kindern. „Wir leben derzeit von unseren Ersparnissen. Ich kann nicht mehr zur Arbeit gehen, und auch die Kindergärten haben geschlossen. Ich unterstütze die Einschränkungen und versuche, in dieser Situation einfach zu überleben“, sagt Tetiana.
Allerdings werden die Einschränkungen am Stadtrand und im Umland von Slowjansk eher skeptisch gesehen. So halten die meisten Menschen dort in Warteschlangen meist keinen Abstand, und viele tragen beim Einkaufen auch keine Masken. Anders als in der Innenstadt sind Spielplätze und Parks geöffnet, wo sich Einwohner treffen ohne den Sicherheitsabstand einzuhalten.
„Mich beunruhigt, dass einigen Leuten nicht bewusst ist, welcher Gefahr sie sich aussetzen“, sagt der 16-jährige Edward. „Ich kenne viele, die sich immer noch gegenseitig besuchen, anstatt zu Hause bleiben, und das macht mir Angst.“
Trotz der schwierigen Lage überwiegt bei vielen der Optimismus. „Wir bleiben zu Hause, warten ab, und hoffen, dass sich die Situation bald bessert“, heißt es.
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