Oleksandra Romanzowa: Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin
Als die Maidan-Revolution begann, war Oleksandra Romanzowa auf dem Höhepunkt ihrer Karriere im Kyjiwer Banksektor. Was sie auf dem Maidan erlebte, veränderte ihre Laufbahn grundlegend: Romanzowa wurde zur Menschenrechtsaktivistin und ist heute Geschäftsführerin des Center for Civil Liberties, das 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Im November 2013 arbeitete die studierte Ökonomin Oleksandra Romanzowa noch bei einer großen ukrainischen Bank. Doch schon während ihres Studiums hatte sich die gebürtige Mykolajiwerin als fähige und zivilgesellschaftlich aktive Organisatorin gezeigt. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde sie 2006 zur sogenannten studentischen Bürgermeisterin von Kyjiw gewählt.
Dann beschloss die ukrainische Regierung unter Präsident Wiktor Janukowytsch, das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Zunächst demonstrierten vor allem Studenten gegen diesen Beschluss, aber ihr Protest wurde von der Polizei niedergeschlagen. Schließlich gingen Hunderttausende in Kyjiw auf die Straßen – das Ausmaß der Demonstrationen beeindruckte die ganze Welt. Das Regime setzte Pfefferspray gegen die Demonstranten ein, niemand wusste, wie die Konfrontation ausgehen würde. „Ich habe das Chaos in der Menschenmenge bemerkt“, wird Romanzowa später erzählen, „ich entschied mich, zu helfen – und habe Menschen kontaktiert, die bereits 2004 während der Orangen Revolution aktiv waren.“
Morgens auf dem Maidan, nachts an der SOS-Hotline
Zu diesen Menschen gehörte auch Oleksandra Matwijtschuk, Leiterin der 2007 gegründeten ukrainischen Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties, die 2022 den Friedensnobelpreis für die Dokumentation der russischen Kriegsverbrechen erhielt – und deren Geschäftsführerin Romanzowa heute ist. „Ich erfuhr von ihrer Hotline Euromaidan SOS. Also begann ich, dort als Freiwillige zu helfen“, sagt Romanzowa. „Tagsüber arbeitete ich bei der Bank. Ab 18 Uhr ging ich zum Maidan, um den Sanitätern zu helfen. Und von 4 bis 8 Uhr morgens saß ich dann im Büro des Center for Civil Liberties.“
Mehr als 16.000 Telefonate mit Hilferufen unterschiedlichster Art nahmen die rund 200 Freiwilligen der Hotline Euromaidan SOS bis Ende März 2014 an. Ein wichtiger Teil der Arbeit von Romanzowa und ihren Kolleginnen und Kollegen war beispielsweise die Suche nach Vermissten. Mehr als 300 Menschen wurden dank der Arbeit des Center for Civil Liberties und Euromaidan SOS wiedergefunden.
Monitoring der Lage auf der Krim und im Donbas
Ihre Erfahrungen während der Maidan-Revolution machten Romanzowa deutlich: Sie wollte nicht mehr Bankangestellte, sondern Menschenrechtlerin sein. Und so initiierte sie wenige Monate nach der Revolution mit dem Center for Civil Liberties ein Projekt zum Monitoring der Lage auf der von Russland besetzten Krim sowie im vom Krieg erschütterten Donbas. „Wir haben Gruppen von Aktivisten, Juristinnen und Journalisten organisiert und mehr als 40 Besuche in den besetzten Gebieten durchgeführt“, erzählt die 37-Jährige, „im Donbas waren wir anfangs sehr unerfahren. Zunächst dokumentierten wir alles, was wir sahen, dann suchten wir nach Personen, die als Zeugen aussagen konnten, und erstellten eine Karte der Orte, an denen Menschen illegal festgehalten wurden.“
Professionelle Dokumentationsarbeit
Mit der Zeit wurde die Arbeit professioneller, und mehr als ein Dutzend NGOs koordinierten die Dokumentation gemeinsam. Das war auch deshalb wichtig, weil der ukrainische Inlandsgeheimdienst und die Generalstaatsanwaltschaft erst zwei Jahre nach Beginn des Donbas-Krieges mit einer umfassenden Dokumentation begannen.
Die Lage in den besetzen Gebieten wurde jedoch immer unsicherer und erforderte umfangreiche Kooperationen. 2014 wurde schnell deutlich, dass Menschenrechtler mit einem ukrainischen Pass auf der Krim nicht willkommen sind. Aus diesem Grund arbeiteten vor Ort belarussische Kollegen. Die Situation hat sich seitdem weiter verschärft: Bei ihrer Dokumentation des Krieges im Donbas wurde Romanzowa durch Beschuss vonseiten der sogenannten Volksrepublik Donezk leicht verletzt.
Über die Ergebnisse der Dokumentationen berichtete Romanzowa der UN, der OSZE und dem Europarat. Ein Ziel dabei war es, die Anerkennung von in den besetzten Gebieten inhaftierten Personen als politische Häftlinge zu erreichen, damit international mehr Druck auf Russland ausgeübt wird.
„Krieg mit einem Land, das sich an keine Regeln hält“
Zwar hat sich seit Beginn der umfassenden Invasion am 24. Februar 2022 der Inhalt der Arbeit Romanzowas kaum verändert – „Doch der Umfang ist um das Zehnfache gestiegen“, meint sie. „Wir haben nicht mehr nur mit politischen Gefangenen zu tun; wir haben nun auch Kriegsgefangene, zivile Gefangene, Menschen, die nach Russland verschleppt wurden. Das alles dokumentieren wir.“
Zusammen mit der Ukrainian Helsinki Human Rights Union sowie dem Ukrainischen Menschenrechtsverband hat das Center for Civil Liberties die Initiative T4P – Tribunal for Putin gegründet: Eine Datenbank, in der bereits Zehntausende von potenziellen Verbrechen Russlands dokumentiert sind und auf internationaler Ebene zur Sprache gebracht werden.
„Bei diesem Krieg geht es um ein Land, das sich an keine Regeln hält. Um ein Land, das beschlossen hat, dass es alles tun kann, was es will, und dass niemand es aufhalten kann. Und zwar nur deshalb, weil dieses Land entschieden hat, dass das von ihm eroberte Gebiet kein eigenständiger Staat sein darf“, sagte Romanzowa im Dezember 2022 bei einem Vortrag an der Universität Göteborg nach der Verleihung des Friedensnobelpreises.
„Ukrainische Menschenrechtler haben einst von russischen Kollegen gelernt, wie man Kriegsverbrechen dokumentiert“
In dieser Rede brachte sie auch etwas zum Ausdruck, was die Menschenrechtlerin besonders schmerzt: „Ukrainische Menschenrechtler haben von ihren russischen Kollegen, die Kriegsverbrechen in Tschetschenien untersucht haben, gelernt, wie man Kriegsverbrechen dokumentiert. Aber obwohl die russischen Menschenrechtler großartige Arbeit geleistet haben, konnten sie die russische Aggression nicht stoppen.“ Ihre Enttäuschung über die Entfremdung zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk fasst sie so zusammen: „Niemand kann verstehen, wie hundert Millionen Zombies in der Nähe unserer Grenzen auftauchen konnten.“
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