Offener Brief ukrai­ni­scher Exper­ten an Außen­mi­nis­te­rin Baerbock

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In einem offenen Brief an Außen­mi­nis­te­rin Anna­lena Baer­bock fordern ukrai­ni­sche Exper­tin­nen und Exper­ten eine Kor­rek­tur der Fehler der alten Bun­des­re­gie­rung und eine größere Unter­stüt­zung für die Ukraine durch Deutsch­land und die EU.

Sehr geehrte Frau Ministerin,

erst­mals möchten wir Sie zu Ihrer Ernen­nung in der neuen Bun­des­re­gie­rung recht herz­lich gra­tu­lie­ren und Ihnen alles erdenk­lich Gute auf dem neuen äußerst anspruchs­vol­len Posten wün­schen. Unser Bestre­ben liegt darin eine Ver­stän­di­gung zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und der Ukraine schnellst­mög­lich zu errei­chen und gemein­sam für den Frieden und Sicher­heit auf der Grund­lage euro­päi­scher Werte und Rechts­staat­lich­keit effi­zi­ent zu agieren.

Nach dem Großen Zap­fen­streich zu Ehren der abtre­ten­den Bun­des­kanz­le­rin Angela Merkel, wo unter anderem die Musik des berühm­ten ukrai­ni­schen Kom­po­nis­ten Dmitri Bortnjan­ski erklang, wurde schnell eine der jüngs­ten Ent­schei­dun­gen des Kabi­netts Merkel IV bekannt – das Veto gegen die Lie­fe­rung der seitens der Ukraine über NAMSA (NATO Main­ten­ance and Supply Agency) bereits bezahl­ten Defen­siv­waf­fen, wie Scharf­schüt­zen­ge­wehre und Anti-Drohnen-Gewehre.

Bereits seit acht Jahren wird täglich über getö­tete ukrai­ni­sche Sol­da­ten und Zivi­lis­ten im Osten der Ukraine berich­tet und in der Nähe unserer Lan­des­gren­zen finden stän­dige Pro­vo­ka­tio­nen statt. Russ­land hat seine Mili­tär­prä­senz vehe­ment auf­ge­stockt – über 122.000 Sol­da­ten, aus­ge­stat­tet mit neu­es­ten Waffen und Aus­rüs­tung, die bereit sind, an einer groß­räu­mi­gen Inva­sion teil­zu­neh­men. In der Zeit wach­sen­der Span­nung und ange­sichts der Tat­sa­che, dass die ille­gi­time bela­rus­si­sche Regie­rung in diesen Kon­flikt auf Seiten Russ­lands ver­strickt wird, ver­wei­gerte dennoch die ehe­ma­lige Führung Deutsch­lands der Ukraine das Recht und die Mög­lich­keit, sich eigen­stän­dig ver­tei­di­gen zu können.

Viele Jahre lang schien Deutsch­land als Reak­tion auf jeden neuen Schlag des Kremls die andere Wange hin­zu­hal­ten. Es ent­steht der Ein­druck, die Bun­des­re­pu­blik sei bereit, in der Praxis gegen die eigenen Erklä­run­gen über das Streben nach Frieden in der Ukraine vor­zu­ge­hen, um den Zugang zu rus­si­schen Ener­gie­roh­stof­fen und zum rus­si­schen Markt beizubehalten.

All die Jahre wurde trotz der formell von Deutsch­land unter­stütz­ter inter­na­tio­na­ler Sank­tio­nen die High­tech-Aus­rüs­tung deut­scher Firmen sogar auf die besetzte Krim gelie­fert, wo Russ­land im Geiste der Sta­lin­zeit gegen ukrai­ni­sche und krim­ta­ta­ri­sche Akti­vis­ten vorgeht. Unter den Kreml-Gefan­ge­nen auf der besetz­ten Krim sind 121 ukrai­ni­sche Staats­bür­ger auf­ge­lis­tet, die anhand gefälsch­ter Anschul­di­gun­gen für ihre zivil­ge­sell­schaft­li­che Stel­lung inhaf­tiert wurden. Trotz mehr­fa­chen Appel­len seitens ukrai­ni­schen Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger und Ange­hö­ri­gen der Gefan­ge­nen an die Bun­des­re­gie­rung, trotz Reso­lu­tio­nen des Euro­päi­schen Par­la­ments sowie Erklä­run­gen der Ukraine und der USA an die OSZE und die UN, wollte Berlin dieses Problem nicht wahr­neh­men, um Moskau nicht zu irritieren.

Russ­land ver­stärkt seine Präsenz in der Region nicht nur mili­tä­risch, sondern auch poli­tisch, indem es poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Beset­zung eines Teils des Donbass durch­führt. Ände­run­gen in der Ver­fas­sung der Rus­si­schen Föde­ra­tion, Ertei­lung der Staats­bür­ger­schaft und Ausgabe rus­si­scher Inlands­pässe an mehr als 600.000 Ein­woh­ner der Donbas-Region, Ein­bin­dung der Bevöl­ke­rung der von der Ukraine nicht kon­trol­lier­ten Teilen der Donbas-Region in das rus­si­sche poli­ti­sche Umfeld und in die Wahlen zeigen die Bereit­schaft Russ­lands, von der neuen «Legi­ti­ma­tion» zum Schutz «ihrer» Bürger aller­orts und zu jeder­zeit, auch im Ausland, Gebrauch nehmen zu wollen. Dies sind fort­schrei­tende Hand­lun­gen, worauf eine sofor­tige Gegen­re­ak­tion erfol­gen soll.

Unge­ach­tet aggres­si­ver Hand­lun­gen Russ­lands gegen­über der Ukraine – wie auch früher gegen­über Geor­gien – und der sub­ver­si­ven Akti­vi­tä­ten des Kremls in Europa, betei­lig­ten sich wei­ter­hin deut­sche Unter­neh­men mit Unter­stüt­zung der ehe­ma­li­gen Bun­des­re­gie­rung an dem anti­eu­ro­päi­schen Projekt Nord Stream 2. Dieses Projekt zielt darauf ab, einer­seits die Ukraine zu umgehen, aber ande­rer­seits auch die Abhän­gig­keit Europas vom rus­si­schen auto­ri­tä­ren Regime zu stärken und die trans­at­lan­ti­schen Bezie­hun­gen Europas zu schwächen.

Mit der Aussage des Vize­kanz­lers Robert Habeck hat die neue Bun­des­re­gie­rung endlich das Offen­sicht­li­che erkannt: Der Bau von Nord Stream 2 sei ein «geo­po­li­ti­scher Fehler» gewesen.

Sehr geehrte Frau Minis­te­rin, wir schät­zen auch Ihre Posi­tion, die Inbe­trieb­nahme dieses Pro­jek­tes der Klep­to­kra­tie Putins zu verhindern.

Das jüngste Ulti­ma­tum Putins an den Westen ver­än­dert die Sach­lage. Die Beset­zung und die ille­gale Anne­xion der Krim, die rus­si­sche Inter­ven­tion im Donbas wie auch die rus­si­sche Inva­sion in Geor­gien und letzt­lich auch die Wei­ge­rung, rus­si­sche Truppen aus der Repu­blik Moldau abzu­zie­hen, war für das «alte Europa» ein belang­lo­ses Problem, das irgendwo am Rande des Kon­ti­nents stattfand.

In dem vom rus­si­schen Außen­mi­nis­te­rium neulich ver­öf­fent­lich­ten Vor­schlag eines „Sicher­heits­ab­kom­mens“ greift Putin nicht nur die Ukraine, Geor­gien und das gesamte Ter­ri­to­rium der ehe­ma­li­gen Sowjet­union an. Russ­land hat seine «beson­de­ren Inter­es­sen» auf dem Balkan und in Mit­tel­eu­ropa erklärt, unter anderem auch in Ländern, die nie dem War­schauer Pakt bei­getre­ten waren. Einer der Punkte dieses Vor­schla­ges fordert direkt im Inter­esse Russ­lands eine par­ti­elle Ein­schrän­kung der Sou­ve­rä­ni­tät einiger Länder, die bereits Mit­glie­der der Euro­päi­schen Union und der NATO sind.

Dro­hun­gen seitens Alex­an­der Lukaschenko, der bela­rus­si­schen Mario­nette des Kremls, das Gas- und Ölven­til in Rich­tung der Euro­päi­schen Union abzu­dre­hen; Sturm der EU-Außen­gren­zen durch Tau­sende spe­zi­ell nach Belarus gebrach­ten Migran­ten; jah­re­lan­ger – längst unge­tarn­ter – Infor­ma­ti­ons­krieg nicht nur mit Anwen­dung von Fake News, sondern auch von Cyber­waf­fen; brutale Aktio­nen rus­si­scher Geheim­agente, die nicht nur in London, Salis­bury oder Sofia, sondern auch mitten in der deut­schen Haupt­stadt Gegner des Putin-Regimes töten – all das war für die deut­schen Poli­ti­ker wohl nicht aus­rei­chend, um zu ver­ste­hen, dass die Ukraine nur ein Zwi­schen­ziel der Pläne Moskaus sei.

Russ­land ver­setzt seinen Haupt­schlag gegen die poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Eliten des «alten Europa». Diese Eliten bemer­ken nicht, dass der hybride Krieg bereits auf dem euro­päi­schen Ter­ri­to­rium und mit euro­päi­schen Geldern, die an den Kreml für Gas, Öl und Kohle flies­sen, geführt wird.

Wir hoffen, dass Putins Ulti­ma­tum an den Westen dieses lang­jäh­rige Miss­ver­ständ­nis aus­räu­men kann und wird.

Heute, wenn Russ­land eine Armee von knapp 100.000 Mann und zehn­tau­sende Waffen und Mili­tär­ge­räte an den Ost­gren­zen der Ukraine ver­sam­melte und die Bedro­hung einer offenen mili­tä­ri­schen Inva­sion in die Ukraine realer ist denn je, ist es an der Zeit, von reinen Reso­lu­tio­nen und Besorg­nis­er­klä­run­gen zu echten tat­kräf­ti­gen Hand­lun­gen über­zu­ge­hen. Eine würdige Antwort auf das Ulti­ma­tum des Kremls ist sofor­tige mili­tä­risch-tech­ni­sche Hilfe für die Ukraine seitens der Bun­des­re­pu­blik sowie die Ein­stel­lung von Nord Stream 2, und zwar nicht im dem Fall, dass Russ­land eine neue Aggres­si­ons­welle gegen die Ukraine vor­neh­men sollte, sondern als ein Projekt, das der Ener­gie­si­cher­heit der Euro­päi­schen Union wider­spricht und das Errei­chen ihrer ehr­gei­zi­gen Kli­ma­ziele hindert.

Darüber hinaus möchten wir Sie, sehr geehrte Frau Minis­te­rin, auf das Problem ukrai­ni­scher Staats­bür­ger auf­merk­sam machen, die auf der vom Putin-Regime besetz­ten Krim Repres­sio­nen aus­ge­setzt waren und unter anderem nach Russ­land inhaf­tiert wurden. Jeg­li­chen Ver­hand­lun­gen mit dem Kreml muss eine voll­stän­dige und bedin­gungs­lose Frei­las­sung aller poli­ti­schen Gefan­ge­nen vorausgehen.

Abschlie­ßend möchten wir Ihnen gegen­über unsere grosse Bereit­schaft ver­si­chern, wei­ter­hin bei dem Ausbau und der Ver­tie­fung der ukrai­nisch-deut­schen Bezie­hun­gen für den nach­hal­ti­gen Frieden und Sicher­heit aller freien Völker Europas zusam­men­zu­ar­bei­ten, ohne sich jedoch ständig nach Russ­land umschauen zu müssen.

Hoch­ach­tungs­voll,

Gen­na­diy Kur­ochka, Mit­be­grün­der von Ukraine Crisis Media Centre
Mykhailo Gonchar, Prä­si­dent des Zen­trums für globale Studien „Stra­tegy XXI“
Hanna Hopko, Mit­glied Netz­werk zum Schutz natio­na­ler Inter­es­sen ANTS, Vor­sit­zende des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses des Par­la­ments der Ukraine (2014–2019)
Olga Ayva­zovska, Vor­stands­vor­sit­zende des Bür­ger­netz­wer­kes OPORA
Olena Halushka, Vor­stands­mit­glied des Zen­trums für Korruptionsbekämpfung
Alyona Get­man­chuk, Direk­to­rin des Zen­trums „Neues Europa“
Olena Krav­chenko, Geschäfts­füh­ren­der Direk­tor der Inter­na­tio­na­len Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­tion „Öko­lo­gie – Recht – Mensch“
Lesia Mat­vi­y­chuk, Vor­stands­vor­sit­zende des Zen­trums für bür­ger­li­che Freiheiten
Valeriy Krav­chenko, Direk­tor des Zen­trums für inter­na­tio­nale Sicherheit
Nata­liia Popo­vych, Mit­be­grün­de­rin von Ukraine Crisis Media Centre
Vasyl Myrosh­ny­chenko, Direk­tor des Ukrai­nian-British City Club

Dieser Brief ist zuerst auf der Home­page des Сentre for Global Studies Stra­tegy XXI erschie­nen. Link zum ukrai­ni­schen Original.

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