Neue Kriegstechnologien: der asymmetrische Vorteil der Ukraine
Die Ukraine setzt sich seit fast zwei Jahren gegen einen militärisch überlegenen, ressourcenstarken Feind zur Wehr – doch sie hat gelernt, sich die Asymmetrie zunutze zu machen. Eine Vielzahl technologischer Innovationen verschafft der Ukraine auf dem Schlachtfeld einen „asymmetrischen Vorteil“ – und sie setzt vermehrt auf eine eigene Drohnenproduktion. Eine Analyse von Mykhailo Samus, Direktor der unabhängigen Plattform New Geopolitics Research Network.
Konfrontiert mit dem umfassenden russischen Angriff, waren es vor allem nichtlineare, asymmetrische und hochtechnologische Ansätze, die der Ukraine in ihrer militärischen Verteidigung das Überleben sicherten. Die Asymmetrie allein auf die Waffentechnik zu beziehen, reicht jedoch nicht aus – das Prinzip wird auch erfolgreich für die Militärdoktrin und ‑taktik sowie die Gesamtstrategie angewendet.
Dabei handelt es sich in erster Linie um eine netzwerkzentrierte Kriegsführung (network-centricity) als Grundstein der modernen Doktrin der ukrainischen Streitkräfte. Netzwerkzentriertheit meint die Vereinigung von Aufklärungs‑, Kontroll- und Zerstörungsfähigkeit in einem einzigen System. Dieses System muss die Koordinaten gegnerischer Ziele so schnell wie möglich und in Echtzeit ermitteln, sie an die Befehlsstelle übermitteln und dann – nachdem eine Entscheidung getroffen wurde – an die Zerstörungseinheiten weiterleiten. In der modernen Kriegsführung gewinnt diejenige Partei, die die höchste Geschwindigkeit der sogenannten Steuerungszyklen (Zielkoordinaten – Entscheidung – Zerstörung) aufweist.
Netzwerkzentrierte Kriegsführung: Beschleunigung des bewaffneten Kampfes
Das Konzept der netzwerkzentrierten Kriegsführung ist nicht neu. Seit mehreren Jahrzehnten versuchen fortschrittliche Armeen, möglichst kurze Steuerungszyklen zu erreichen, um sich so einen Vorteil auf dem Schlachtfeld zu verschaffen. Der massive Einsatz von unbemannten und autonomen Systemen hat in diesem Bereich einen Durchbruch gebracht. Drohnen, die gleichzeitig als Aufklärungsinstrumente und Angriffswaffen eingesetzt werden können, haben die Theorie und Praxis des bewaffneten Kampfes revolutioniert. Die Zeit, die von der Entdeckung eines Ziels bis zur Entscheidung zum Angriff vergeht, hat sich auf wenige Sekunden verkürzt.
Und das ist noch nicht alles. Der Gebrauch von KI-Technologie, die Ziele ohne Eingreifen des Bedienenden identifizieren und zerstören kann, beschleunigt die Dynamik des Kampfes weiter. Die Funktion des Kommandanten oder Bedienenden solcher Systeme besteht darin, die Entscheidung über den Angriff zu treffen. Den Rest erledigt die Technologie.
Rasanter Prozess technologischer Automatisierung
Doch setzt der massive Einsatz von Drohnen und die rasante Zunahme von Informationen, die zur Entscheidungsfindung übermittelt und verarbeitet werden, eine ebenso rasche Verbesserung der automatisierten Kontrollsysteme voraus. In militärtechnologischer Hinsicht ist die ukrainischen Kampfstrategie vor allem im Hinblick auf die phänomenale Entwicklung der Automatisierung und die Intelligenz- und Kontrollsysteme einer Einheit interessant.
Als Beispiel kann das taktische Führungs- und Kontrollsystem Kropywa dienen. Die Gründung und Einbindung von Kropywa begann als Freiwilligeninitiative im Jahr 2014, als Mitglieder der Freiwilligenorganisation Army SOS Tablets für das Militär bereitstellten. Im Jahr 2018 stellten die Entwickler des Logika Design Bureau den Streitkräften großzügig das System Kropywa zusammen mit Quellcode und Lizenz zur Verfügung. Kropywa ermöglicht die Automatisierung verschiedener Kommando- und Steuerungsaufgaben auf unterschiedlichen Ebenen – etwa auf der Ebene von Bataillon, Kompanie, Truppe oder einzelnem Fahrzeug. Im Wesentlichen trägt es dazu bei, Aufklärung, Kontrolle und Feuerkraft zu einem einheitlichen Informationsfeld zu vereinen.
Digitale Echtzeitinformationen vom Schlachtfeld
Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist das Delta-System, ein militärischer cloudbasierter Online-Dienst und wichtiger Bestandteil der militärischen Operationsplanung der ukrainischen Streitkräfte. Auch hier stand mit dem Aeroswidka-Team eine Freiwilligeninitiative 2015 am Anfang der Entwicklung des Situationserkennungssystems. Delta ist ein Online-System, das Echtzeitinformationen über die taktische und operative Situation auf dem Schlachtfeld liefert. Dank Delta können die Soldaten das Schlachtfeld – inklusive gegnerischer Positionen – online einsehen. Daten aus der Luftaufklärung, von Satelliten, Drohnen, stationären Kameras, Radaren oder Chats werden in die integrierte Informationsplattform eingespeist.
Zur Einführung technologischer Lösungen sowie neuer Modelle von Drohnen, elektronischen Systemen und Waffensystemen wurden in der Ukraine mehrere Zentren eingerichtet, um sie schnell in den Test- und Integrationsprozess der ukrainischen Streitkräfte einzubinden, die notwendigen Schritte zu verkürzen und bürokratische Prozeduren zu vereinfachen.
Optimiert und koordiniert: Produktion und Integration von Militärtechnologien
Das ukrainische Verteidigungsministerium hat eine spezielle Plattform – den Innovation Development Accelerator – eingerichtet, um den Prozess der Übernahme neuer Waffen und militärischer Ausrüstung in den Dienst der ukrainischen Streitkräfte zu optimieren. Dank des Accelerators konnte der Prozess der Integration von zwei Jahren auf nur eineinhalb Monate verkürzt werden. Besonders ausgeprägt war der Einfluss des Accelerators bei der Eingliederung neuer Militärtechnologien – gerade vor dem Hintergrund, dass ukrainische Unternehmen kontinuierlich innovative Entwicklungen auf den Markt bringen.
Das Ministerium für digitale Transformation hat auch Brave1 – ein Cluster zur Entwicklungsförderung von Militärtechnik – ins Leben gerufen. Die Hauptaufgabe von Brave1 besteht in der Koordination der Regierungsbehörden (Verteidigungsministerium, Armee, Ministerium für digitale Transformation, Wirtschaftsministerium, Ministerium für strategische Industrien, Nationaler Sicherheits- und Verteidigungsrat) bei der Entwicklung von Verteidigungstechnologien und ihrer Produktion. Insgesamt bilden der Accelerator und Brave1 ein neues Ökosystem für die Entwicklung, Produktion und Einführung von Militärtechnologien.
Army of Drones: neueste Militärtechnik im Auftrag des Staates
Die ukrainische Entwicklung von Drohnen und anderer Militärtechnik wird von einigen zentralen staatlichen Programmen gefördert. Zum einen ist dies das Projekt Army of Drones, Bestandteil der nationalen Crowdfunding-Kampagne United 24. Im Rahmen des Army of Drones‑Projekts wurden Tausende von Drohnen gekauft und weit mehr als 10.000 Personen für die Drohnenbedienung ausgebildet. Ebenso als Teil der United 24-Kampagne wurde der Herstellungsprozess maritimer Drohnen eingeleitet, welcher später zu einem eigenständigen staatlichen Entwicklungsbereich wurde.
Als Weiterentwicklung des Bereichs maritimer Drohnen hat das Projekt FURY (First Ukrainian Robotic Navy) jüngst dafür gesorgt, dass die ukrainische Marine sich gegenüber der russischen Schwarzmeerflotte behaupten konnte. Angekündigt wurde auch der Start des Projekts Army of Robots, das die neuesten Robotersysteme für die ukrainischen Streitkräfte entwickeln wird. Mit der Gründung der Army of Electronic Warfare Systems wurde zudem damit begonnen, die Massenproduktion von elektronischen Kriegsführungssystemen voranzutreiben.
2024: eine Millionen FPV-Drohnen für die Ukraine
Das Ausmaß der technologischen Innovationen wird auch daran deutlich, dass Anfang 2024 bereits etwa 200 ukrainische Drohnenhersteller gemeldet sind, zumeist Privatunternehmen. Ende 2023 wurden in der Ukraine monatlich bis zu 50.000 verschiedene Drohnentypen hergestellt.
Die meisten davon sind First-Person-View-Drohnen (FPV), die die Art der Kampfeinsätze stark verändert haben. Für 2024 gibt es ehrgeizige Pläne, die Produktion von Drohnen weiter zu steigern. Im Staatshaushalt der Ukraine für 2024 sind 1,1 Milliarden Euro für Drohnen (sowohl Flug- als auch maritime Systeme) vorgesehen. Laut Oleksandr Kamyschin, dem Minister für strategische Industrien, hat sich die Ukraine für 2024 ehrgeizige Produktionsziele gesetzt: eine Million FPV-Drohnen, über 10.000 Kampfdrohnen mittlerer Reichweite und mehr als 1.000 Drohnen mit einer Reichweite von etwa 1.000 Kilometern.
Ringen um den asymmetrischen Vorteil
Drohnen und neue Technologien sind zu zentralen Instrumenten geworden, die es der Ukraine ermöglichen, sich einen asymmetrischen Vorteil in der Auseinandersetzung mit Russlands gewaltigem Militär- und Ressourcenapparat zu verschaffen. Der Krieg ist jedoch noch lange nicht zu Ende. Russland verfügt durch Ölexporte über beträchtliche finanzielle Ressourcen, die den Erwerb umfangreicher Mikroelektronik für die Raketenproduktion, die Beschaffung iranischer Drohnen und umfangreiche Munitionslieferungen aus Nordkorea ermöglichen.
Schiere Quantität, Hardware aus der Sowjetära und der unerbittliche Einsatz von „Artilleriewällen“ und Infanterie – um den asymmetrischen Vorteil nicht zu verlieren, ist die Ukraine angesichts der Taktik des russischen Militärs gezwungen, sich in technologischer, doktrineller, taktischer und administrativer Hinsicht beständig weiterzuentwickeln.
Gefördert durch:
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.