Odessa – das Versagen der ukrainischen Justiz
Fünf Jahre nach den gewaltsamen Zusammenstößen vom 2. Mai 2014 in Odessa, die mit dem Feuer im Gewerkschaftshaus und 42 Toten endeten, gibt es kaum Fortschritte in der juristischen Aufarbeitung der Geschehnisse. Das Versagen der ukrainischen Justiz bietet der russischen Propaganda Möglichkeiten für gehässige Vorwürfe und zeigt, wie schwer sich die ukrainische Justiz und Teile der Gesellschaft tun, mit unangenehmen Teilen der Vergangenheit umzugehen. Von Mattia Nelles
Nur zu oft werden Veranstaltungen über die Ukraine in Berlin von selbsterklärten pro-russischen Aktivisten gestört. Sie skandieren etwas vom „Odessa-Massaker“ und dem Versagen der Ukraine, für Aufklärung zu sorgen. In der Tat ist der Brand im Gewerkschaftshaus, dem am Abend des 02. Mais 42 Menschen zum Opfer fielen, fester Bestandteil der russischen Propaganda über die Ukraine geworden.
Vollkommen ausgeblendet wird der wichtige Kontext der Geschehnisse im Vorfeld des Brandes. Unerwähnt bleiben die gewaltsamen und bewaffneten Zusammenstöße zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Protestierenden, bei denen bereits vor dem Brand am Abend sechs Menschen getötet wurden. Unerwähnt bleibt die Unfähigkeit der Polizei und der lokalen Sicherheitsbehörden, die Protestierenden voneinander fernzuhalten. Unerwähnt im russischen Narrativ bleibt, dass beide Seiten bewaffnet waren und nach Angaben von mehreren Zeugen auch vom Dach bzw. aus dem Gewerkschaftshaus geschossen wurde.
Ebenfalls von großer Bedeutung ist, dass bis heute unklar ist, ob es sich um bewusste Brandstiftung oder einen Unfall gehandelt hat und viel auf Letzteres hindeutet.
Als sich das Feuer im Gewerkschaftshaus ausbreitete, begannen viele der pro-ukrainischen Protestierenden den fast 380 im Gebäude eingeschlossenen Menschen bei der Evakuation zu helfen- für 42 kam jedoch jede Hilfe zu spät. Bis heute ist unklar, warum die Feuerwehr mehr als 40 Minuten brauchte, um an den Tatort zu kommen und welche Verbindungen es zwischen Polizei, Feuerwehr und Sicherheitskräften mit den Protestierenden gab.
Unfähigkeit und geringer Wille zur Aufklärung
Viele der offenen und bis heute unbeantworteten Fragen ermöglichen wildeste Spekulationen und bieten der russischen Propaganda viel Munition. So flohen einige der Verdächtigten nach der Tat ins Ausland. Manche, wie Wolodymyr Bodelan, der ehemalige Chef des Rettungsdienstes, setzte sich erst 2016 unter ominösen Umständen ins Ausland ab. Zahlreiche Beweismittel wurden kurz nach der Tat vernichtet. Über den Verlauf des Tathergangs und dessen Kontext berichtete unter anderem ein Internationales Berater-Panel des Europarats in einem im Juni 2014 veröffentlichten Bericht. Trotzdem sind die entscheidenden Gerichtsprozesse gegen prorussische Aktivisten wegen der gewaltsamen Proteste im Vorfeld des Brandes, sowie gegen die proukrainischen Protestierenden wegen ihrer Verantwortung für die 42 Toten im Gewerkschaftshaus ins Stocken geraten und es ist unklar, ob sie überhaupt je zu einem Abschluss kommen. Auch die wichtige Verantwortung der lokalen Sicherheitskräfte in der komplexen Gemengelage bleibt bis heute nicht aufgeklärt.
Die Gründe dafür sind vielfältig und undurchsichtig, aber klar ist, dass heute, also fünf Jahre nach der Tragödie, eine Aufklärung der gesamten Geschehnisse kaum abzusehen ist. Aufgrund des Versagens ukrainischer Justiz hat sich bereits eine Familie eines im Gewerkschaftshaus Verunglückten an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gewandt. In nächster Zeit dürften mehrere solcher Fälle dazukommen.
Was bleibt, ist das unangenehme Gefühl, dass die ukrainischen Behörden, trotz angeblich erfolgreicher Justizreform, unfähig oder unwillens sind, in diesen wichtigen Fällen zu ermitteln. Das legt auch der jüngste Bericht des UN-Kommissars für Menschrechte nahe, der die geringen Fortschritte der Gerichtsprozesse kritisiert und anmahnt, dass auch fünf Jahre nach der Tragöde kein einziger Offizieller verantwortlich gemacht wurde. Trotz angespannter Lage und der Gefahr einer Abspaltung Odessas im Frühling 2014 muss die ukrainische Justiz für Aufklärung sorgen, sonst werden die Anschuldigungen der russischen Propaganda, die Justiz nur beliebig gegen Gegner einzusetzen, nicht aufhören.
2013/14 hat sich die Ukraine deutlicher denn je entschieden, Teil Europas und damit Teil des Westens zu werden. Zur unangenehmen Wahrheit gehört, dass die Ukraine sich auf diesem Weg auch unerfreulichen Vorkommnissen ihrer jüngeren Vergangenheit stellen muss. Dazu gehört die lückenlose juristische Aufarbeitung der tragischen Geschehnisse, von der wir heute am fünften Jahrestag der Tragödie weiter denn je entfernt sind.
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