Charkiw – der Kampf um die Köpfe
Knapp fünf Jahre nach dem Euromaidan hat sich die Ukraine noch immer nicht darauf geeinigt, wie die jüngere Geschichte zu interpretieren ist. Mit welchem Narrativ, mit welcher Sinndeutung sollen Ukrainer aufwachsen, die jetzt noch in der Schule sind? Für seine Reportage besuchte Christian Neef im Sommer bis Herbst 2018 verschiedene Schulen in Charkiw.
Ein Vormittag zu Herbstbeginn in Charkiw. Die Blätter hängen noch an den Bäumen, es ist so heiß wie schon den ganzen Sommer über. Nur das Licht, mit dem sich die Tage jetzt in den Abend verabschieden, ist anders als im Juli oder August, wärmer und satter. In Charkiw, im Nordosten der Ukraine, ist der September schon immer der schönste Monat des Jahres gewesen.
In der Schule Nummer 11 in der Charkiwer Melnikow-Straße sitzen sie noch in T‑Shirts, auch die Mädchen und Jungen der 10. Klasse. „Double check in your heart“ steht auf einem, „Hilfiger New York“ auf einem anderen. Ein Mädchen trägt ein schwarzes Shirt mit einem Totenkopf. Es gibt hier keine Schuluniformen, Eltern und Direktorin haben das so beschlossen.
Es ist Dienstag, die dritte Unterrichtsstunde, Geschichte. Das Thema steht an der Tafel: „Welche Politik betrieb das Russische Reich in den ukrainischen Gebieten Österreich-Ungarns zwischen 1914 und 1917?“
Die 11. Schule ist eine Spezialschule mit erweitertem Mathematik- und Sprachunterricht. Sie liegt im Industrieviertel im Südosten, zwischen dem Malyschew-Werk, das früher eine der größten sowjetischen Panzerfabriken war, und dem Charkiwer Traktorenwerk, einem Symbol der Industrialisierung unter Josef Stalin. Noch immer werden hier Panzer und Traktoren produziert. Für die Schulen heißt das: Proletarische Einzugsgegend, wenig Bürgertum.
Zu Beginn der Stunde will die Lehrerin einen Begriff aus der vorigen Woche festigen: „Okkupationsregime“.
Es geht um die Wirren im Westen des Landes, als die Westukraine noch zur österreichischen Monarchie gehörte und Österreich-Ungarn mit Russland auf ukrainischem Boden focht. Gut 100 Jahre ist es jetzt her, dass dort die Ukrainer zwischen die Fronten gerieten, ja gleichzeitig auf Seiten der Österreicher wie auch der Russen kämpften, und dass Russland in Lemberg, dem heutigen Lwiw, zeitweilig die Macht übernahm. Was denn dieses Okkupationsregime ausgemacht habe, fragt die Lehrerin. „Eine grobe Russifizierung, die administrative Neuaufteilung des Gebietes, die Deportation Tausender Ukrainer, den Austausch von Geistlichen und die Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur“, antwortet eine der Schülerinnen. „Etwa so wie jetzt auf der Krim“, wirft ein anderes Mädchen ein.
„So, wie auf der Krim.“ Es gibt tatsächlich verblüffende Parallelen zwischen 1914 und 2014. Schon vor 100 Jahren kämpften Europa und Russland um die Ukraine, schon damals war die geopolitische Richtungsentscheidung der Ukraine für die Mittelmächte wie für die Entente von strategischer Bedeutung. Aktueller kann Geschichtsunterricht nicht sein. Was aber auffällt: Die Zehnklässler an der Charkiwer Mittelschule Nummer 11 haben keine Geschichtsbücher vor sich, nur fliegende Blätter, die die Lehrerin vervielfältigt hat. In der Ukraine gibt es derzeit keine Lehrbücher für das Fach Geschichte, jedenfalls nicht in dieser Klassenstufe.
Knapp fünf Jahre nach dem Euromaidan, nach der sogenannten Revolution der Würde, hat sich das Land noch immer nicht darauf geeinigt, wie die jüngere Geschichte zu interpretieren ist. War das, was 2013 und 2014 auf dem Kyjiwer Maidan geschah, ein Umsturz, wie Russland behauptet? War es wirklich eine Revolution und wenn ja, wen haben die Aktivisten dort vertreten? Für viele ist das noch nicht geklärt. Und welche Rolle hat die Ukraine im Ersten und dann im Zweiten Weltkrieg gespielt, welche in den 1930er Jahren und in der späten Sowjetzeit? Mit welchem Narrativ, mit welcher Sinndeutung sollen Ukrainer aufwachsen, die jetzt noch in der Schule sind?
Es ist eine der heikelsten Fragen, die das Land bewegt, und das nicht erst jetzt, sondern schon seit 1991, als die Ukraine unabhängig wurde. Sie betrifft vor allem auch die Schulen. In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten hatten ukrainische Geschichts-Lehrbücher eine Halbwertzeit, die die frisch geernteter Kartoffeln kaum überstieg. Regelmäßig wurden den Schülern Texte mit neuen Geschichten über die Ukraine vorgelegt.
Noch schwieriger wird die Lage dadurch, dass die politischen Gräben zwischen Maidan-Anhängern und Maidan-Gegnern fünf Jahre nach der Erhebung noch immer nicht zugeschüttet sind, erst recht nicht in Charkiw. Die frühere ukrainische Hauptstadt mit ihren 1,4 Millionen Einwohnern liegt nur rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und etwa 200 Kilometer von den Donezker und Luhansker „Volksrepubliken“, den von Russland gestützten Separatisten-Sprengeln im äußersten Osten des Landes. Nur drei Autostunden von Charkiw herrscht Krieg, noch immer, inzwischen schon gut vier Jahre. 2014, als große Teile des Volkes gegen Präsident Wiktor Janukowytsch aufbegehrten, waren die Zusammenstöße zwischen prorussischen und proukrainischen Gruppierungen in Charkiw fast so heftig wie die auf dem Kyjiwer Maidan, nur gab es weniger Tote. Wäre der Sturm auf den Gouverneurssitz damals nicht zurückgeschlagen worden, hätten die prorussischen Separatisten Charkiw zu ihrer Hauptstadt gemacht.
Äußerlich ist es der Stadt nicht anzumerken, aber tief in ihrem Innern ist sie prorussisch geblieben. Man merkt es manchmal am Morgen, wenn in irgendeinem der Stadtbezirke wieder ein Denkmal gestürzt worden ist.
Gleich mehrmals in diesem Jahr wurde die Büste des Sowjet-Marschalls Georgij Schukow, des Siegers der Schlachten von Moskau, Stalingrad und Berlin, von ihrem Sockel geholt. Das Denkmal des Armeegenerals Nikolaj Watutin wurde von ukrainischen Patrioten mit roter Farbe übergossen. Watutin hatte 1943 Kyjiw befreit. Beide waren Russen, das reichte. Das Denkmal für den Bolschewiken Nikolaj Rudnjew, der im Herbst 1917 den Umsturz in Charkiw anführte, wurde kürzlich ganz offiziell geschleift. Es soll durch ein Denkmal für die „Himmlische Hundertschaft“ ersetzt werden, die Getöteten des Kyjiwer Maidan. Und der übergroße Lenin steht schon lange nicht mehr auf dem Freiheitsplatz, dem früheren Dscherschinski-Platz, er hatte bereits das Jahr 2014 nicht überlebt.
Die andere Seite bleibt dem Gegner nichts schuldig. Im Juni wurde eine Frau bei dem Versuch verhaftet, den Gedenkstein für die ukrainische Partisanenarmee UPA im Park der Jugend in die Luft zu sprengen. Angeblich war sie von russischen Diensten angeworben worden. Die UPA hatte ab 1942 gegen das Stalin-Regime gekämpft, dabei auch mit Hitlers Wehrmacht paktiert und sich an der Tötung von Juden beteiligt, obwohl auch in der UPA ukrainische Juden dienten.
Die prorussische Fraktion in der Stadt ist stark, auch wenn sie sich nur noch selten öffentlich als solche zu erkennen gibt. Anfang Oktober wurde Maxim Musejew als mutmaßlicher Spion des russischen Geheimdienstes FSB entlarvt, einer der bekanntesten Stadtbezirk-Chefs. Er war ein Vertrauter des Charkiwer Bürgermeisters gewesen, der wiederum selbst als prorussisch gilt. Musejew soll inzwischen nach Russland geflüchtet sein.
Beide politischen Lager säen Hass, beide versuchen, sich gegenseitig zu diskreditieren. Im Internet beschimpfen sie sich als „Nazis“ beziehungsweise als „Watniki“ – ein Wort, das von der typisch russischen Wattejacke abgeleitet und ein Synonym für tumbe Putin-Anhänger ist. Längst hat der Streit die Grenzen eines seriösen Disputs gesprengt.
Dass die Stadt zweigeteilt ist, verraten bereits die Veranstaltungsplakate auf den Straßen. Die einen werben für die 69-jährige russisch-sowjetische Estradensängerin Alla Pugatschowa und für den in Moskau lebenden Schriftsteller Michail Schwanetzki – beide Künstler, die sich gern mit Putin zeigen, der von der Ukraine zum Erzfeind erklärt worden ist. Andere Plakate fordern zum Besuch der derzeit angesagtesten ukrainischen Rockband „Okean Elsi“ auf. Spielt sie in Charkiw, ist das 50 000-Mann-Stadion der örtlichen Mannschaft „Metallist“ brechend voll.
Die Grenzen zwischen den immer noch lebendigen sowjetischen Stereotypen und den Symbolen der neuen ukrainischen Zeit sind fließend. Wie etwa ordnet man jenes Porträt ein, das quer über eine ganze Hauswand in der Sumskaja uliza gemalt worden ist, der Hauptstraße der Stadt? Es zeigt den Schauspieler Leonid Bykow in der Uniform eines Fliegeroffiziers der Roten Armee – ein Bild aus dem Film „W boj idut odni ‚stariki‘“, zu deutsch: „Erfahrene Hasen des Geschwaders“. Der Streifen gilt als einer der erfolgreichsten Kriegsfilme der Breschnew-Zeit, er lief 1974, als Charkiw noch zutiefst sowjetisch war. Auch Bykow ist fast schon 40 Jahre tot. Aber er war – und das ist inzwischen das entscheidende Kriterium – Ukrainer, geboren im Donezker Gebiet, und die Handlung dreht sich um die Schlacht am Dnepr 1943. So hat es dieser Film geschafft, nicht nur Teil der sowjetischen, sondern auch der postsowjetischen Folklore zu sein, und niemand regt sich über den riesengroßen Bykow an der Sumskaja auf.
Aber das ist eher eine Ausnahme. Ansonsten sind die politischen Frontlinien scharf, auch in Charkiw verlaufen sie quer durch die Familien. Als die Stadtratsabgeordnete und Medien-Professorin Olena Goroschko bei Facebook ein Selfie postete, auf dem sie mit einem T‑Shirt und dem Aufdruck „Slawa Ukraine“ – Ruhm der Ukraine – zu sehen war, brach eine in Israel lebende jüdische Freundin die Beziehung zu ihr ab, ihr in Hamburg lebender Sohn spricht seitdem nicht mehr mit ihr. „Slawa Ukraine“ ist die neue Grußformel der ukrainischen Armee – sie wurde aber auch von der nationalistischen UPA benutzt.
Wie sollen sich in der Schlacht um Helden und Symbole Ukrainer orientieren, die gerade 15 oder 16 Jahre alt sind, also erst nach Beginn dieses Jahrhunderts geboren wurden? Selbst jene Institutionen, die Aufklärung leisten müssten, helfen meist nicht. Denn wenn junge Leute in eines der Charkiwer Museen gehen, wird die Verwirrung noch größer. Im Historischen Museum am Verfassungsplatz hört die Geschichtsschreibung abrupt im Jahr 1991 auf. Und die Sowjetzeit davor wird von Emaille-Kochtöpfen und Miniatur-Modellen der Gagarin-Rakete repräsentiert – es scheint, als habe jemand einen Sack wahllos ausgesuchter Erinnerungsstücke in den Saal geschüttet. Dass es unter Breschnew Widerstand von politischen Dissidenten gab, wird versteckt in einer einzigen Vitrine erwähnt. Unkommentiert hängen auch im Ortsmuseum von Babaji am Rande von Charkiw Stalin-Fotos und sowjetische Pionieruniformen neben den Bildnissen des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, der im 19. Jahrhundert lebte, und des ukrainischen Religionsphilosophen Gregorius Skoworoda, dem ersten großen Philosophen der Kiewer Rus: Geschichtsschreibung als Sammlung von Anekdoten.
Hinter dem historischen Chaos steckt Angst – die Angst, Vergangenes zu kommentieren, erst recht die letzten fünf Jahre. Selbst Pädagogen sind unsicher, wie mit der ukrainischen Geschichte umzugehen ist. „Wir haben den 22 000 Lehrern, die an den Schulen im Charkiwer Gebiet arbeiten, zusätzliches Material zum Geschichtslehrbuch in die Hand gegeben, das die ‚Revolution der Würde‘ behandelt“, sagt Anatolij Babitschew, der für das Bildungswesen zuständige Charkiwer Vizegouverneur. „Viele Lehrer waren mit diesen Texten nicht einverstanden, sie haben sie einfach nicht benutzt. Wir mussten einige Lehrer entlassen.“
Das ist kaum überraschend in einem politisch so gespaltenen Gebiet. Ein Teil des Charkiwer Gebiets sei noch heute ausschließlich russisch geprägt, sagt Babitschew. Außerdem sei Charkiw in den 1930er Jahren die Hauptstadt des Holodomor gewesen, jener durch Stalins Politik herbeigeführten Hungersnot, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. „Alle Ereignisse sind eine Fortsetzung von damals“, glaubt der Vizegouverneur. „Es geht aber nicht, dass die Lehrer ihre eigenen politischen Ansichten und Emotionen mit in den Unterricht nehmen.“ Die Kinder müssten ihre Schlüsse selbst ziehen und lernen, die Standpunkte anderer zu akzeptieren, sonst komme das Land nie zur Ruhe.
Das ist nicht mehr und nicht weniger als die Forderung, mit dem Frontalunterricht sowjetischen Stils endlich Schluss zu machen wie auch mit der verordneten Sicht auf die eigene Vergangenheit.
„Die Erzählungen darüber, wer in der jüngeren Geschichte der Ukraine ein Held war und wer nicht, teilt unsere Gesellschaft mindestens seit dem Maidan“, sagt Swetlana Prozenko, die Direktorin der 11. Mittelschule in der Melnikow-Straße, an der 1000 Kinder lernen. Sie ist selbst ausgebildete Geschichtslehrerin und davon überzeugt, dass „wir unsere Geschichte jetzt ganz anders betrachten müssen“.
Zum einen meint sie damit den Konflikt im Osten des Landes. Frau Prozenko hat an ihrer Schule Kinder von Kämpfern, die an der Front waren und 40 Schüler aus den von Separatisten besetzten Gebieten, die gemeinsam mit ihren Eltern oder sogar allein von dort geflüchtet sind. Für diese Kinder ist der Krieg sehr konkret. 2015 haben die Auseinandersetzungen zudem die Schule ganz unmittelbar erreicht: Im Februar jenes Jahres kam einer der Schüler – der 15-jährige Daniil Didik – unweit der Schule bei einem Bombenanschlag auf eine proukrainische Demonstration ums Leben.
Die Mehrheit der Eltern jedoch, so räumt die Direktorin ein, habe mit dem Krieg kaum etwas zu tun. „Es gibt nicht wenige unter ihnen, die sagen: Das ist nicht unser Krieg, er geht uns nichts an.“
„Unsere Schüler haben zu Beginn des Krieges den Männern an der Front geholfen, moralisch“, erzählt Swetlana Prozenko. „Sie haben Armbänder und Puppen gebastelt und ihre Arbeiten dann auf einem Wohltätigkeitsbasar verkauft. Vom Erlös haben sie eine schusssichere Weste für einen der Soldaten an der Kampflinie beschafft, dazu Handtücher und Seife. Und sie haben ukrainische Flaggen an Armee-Bataillone verschickt, die bekamen sie mit Unterschriften und Briefen zurück. Das alles hängt jetzt in den Klassenräumen.“
Andere Schüler haben in Charkiw ein Hospital mit Verletzten besucht. Die jüngste Geschichte zu begreifen gehe nur übers eigene Erleben, sagt die Direktorin. Und dabei denke sie vor allem an die Kinder der 7. bis 9. Klassen. Die jüngeren Schüler akzeptierten, was der Lehrer sage, die älteren sind ohnehin meist proukrainisch. Aber die Kinder in den Klassenstufen dazwischen seien den ideologischen Deutungs-Schlachten, die bei Facebook oder Instagram tobten, am stärksten ausgesetzt, zumal auch ihre Eltern zu Hause oft eine andere Rolle spielen würden, als sie auf Elternversammlungen in der Schule vorgäben. Privat seien sie oft weniger proukrainisch als in der Öffentlichkeit.
Geschichte anders betrachten, das heißt für Swetlana Prozenko aber auch, die Kinder endlich zu kritischem Denken erziehen, damit sie nicht einfach nur in eines der Lager fallen und sich die scheinbar ewige Konfrontation auf diese Weise fortsetzt: schwarz oder weiß, Volksfeind oder Patriot.
„Die Kinder glauben nicht mehr so einfach“, sagt Prozenko. „Das, was in der Sowjetpädagogik noch ‚wloschitj‘ hieß – etwas ‚hineinlegen‘ ins Kind – funktioniert nicht mehr. Wenn wir die Helden, die den Schülern früher vorgesetzt wurden, nur durch andere austauschen, erziehen wir Zyniker. Die Kinder sind sehr emotional, die merken das.“ Und dann erzählt sie, wie hysterisch sie war, als Leonid Breschnew starb, der sowjetische Parteichef der 1960er und 1970er Jahre, der eigentlich Symbol für den gesellschaftlichen Stillstand war. So etwas werde ihr nie wieder passieren, beteuert Frau Prozenko. Deswegen auch habe sie an ihrer Schule kein einziges Porträt des ukrainischen Staatschefs Petro Poroschenko aufgehängt. „Wenn wir nicht klar über die Realität im Lande sprechen, bleiben wir auf ewig ‚Sowki‘.“ Sowok – das ist der pejorative Begriff für den Sowjetmenschen.
Wie aber erzieht man Kinder zum kritischen Denken, wie bringt man sie dazu, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, ohne diese gleich zu verdammen?
Geschichtsunterricht in der 25. Mittelschule in der Straße der Traktorenbauer im 607. Mikrorayon von Charkiw, einem Stadtteil, der nach sowjetischem Maß ein „spalny rayon“ ist, ein Schlafrayon weit entfernt vom Stadtzentrum, in den man also nur zum Schlafen kommt. Es ist eine zweisprachige Schule, in der es Klassen gibt, in denen auf Russisch unterrichtet wird und solche, in denen Ukrainisch die Unterrichtssprache ist. Nur Geschichte wird einheitlich in Ukrainisch gelehrt, so wie in der 10. Klasse bei Andrej Atschkasow. An der Wand des Unterrichtsraums hängen Porträts ukrainischer Fürsten und Hetmänner, sie haben die Bulawa in der Hand, das keulenähnliche Zepter der ukrainischen Kosakenführer.
Auch bei Atschkasow steht heute der Erste Weltkrieg auf dem Plan. Er erzählt den Schülern, wie die russischen Truppen im Spätsommer 1914 Lemberg besetzten, das ukrainische Lwiw, das bis dahin zur k.u.k. Monarchie gehört hatte, dessen Umland aber schon immer mehrheitlich ukrainischsprachig war. Auf beiden Seiten kämpften damals Ukrainer mit – bei den Russen ebenso wie bei den Österreichern. Die Politik der Russen hatte Atschkasow schon im ersten Teil der Stunde als repressiv und ukrainerfeindlich charakterisiert. Nun geht es um die 30 000 Ukrainer auf der anderen Seite, bei den Österreichern, vor allem um die Ukrainische Legion, einem Verband von Freischützen. Atschkasow wirft eine Folie an die Wand, auf der steht das Zitat eines Historikers, wonach die ukrainischen Einheiten weder eine politische noch eine militärische Bedeutung besessen hätten. „Waren die Ukrainer tatsächlich nur eine politische Karte im Spiel der ukrainischen Nationalisten und der österreichischen Monarchie?“, fragt der Lehrer in die Runde.
Es ist, wie sich schnell herausstellt, eine rhetorische Frage. Denn Atschkasow trägt die erwartete Schlussfolgerung sicherheitshalber gleich selber vor. Er betont, die Ukrainische Legion habe ein hohes intellektuelles Niveau gehabt, sie habe wie die übrigen Ukrainer gut gekämpft, ihr Ziel sei die eigene Unabhängigkeit gewesen. Das sei der Unterschied zu den Ukrainern auf der russischen Seite. Erstmals hätten die Ukrainer damals begriffen, dass sie eine einheitliche Nation seien, sie hätten letztendlich für Autonomie und später für eine eigene Republik gekämpft. „Sind Sie einverstanden damit?“, fragt der Lehrer. Die Schüler nicken mit dem Kopf, sie haben keine Bemerkungen dazu.
Was Atschkasow sagt, ist wahr und auch wieder nicht. Tatsächlich hatten damals vor allem die Deutschen versucht, die Ukrainer gegen die Russen auszuspielen. Aber jetzt, da die Ukraine um ihre Unabhängigkeit von Putin-Russland kämpft, sind Beispiele gefragt, die den jahrhundertelangen Drang der Ukrainer nach Selbständigkeit belegen. Das weiß auch Atschkasow, und er hält sich offenbar streng daran. Er ist seit vielen Jahren Geschichtslehrer an dieser Schule. Zuvor war er Offizier gewesen, in der 25. sowjetischen Gardedivision. Wie differenziert Geschichte dargestellt wird, hängt in großem Maße von den Lehrern ab.
Auch in der Neuen Schule „Mobil“ von Pisotschyn, einem kleinen Ort westlich von Charkiw, zeigt sich das. Es ist eine erst im vorigen Jahr eingeweihte Lehranstalt, licht und mit Liften ausgestattet, auch das Kollegium ist neu – nahezu sämtliche Lehrer sind frisch ausgebildet von ukrainischen Universitäten und Hochschulen gekommen. Hier geht es in der 10. Klasse ebenfalls um den Ersten Weltkrieg, aber der 25-jährige Stanislaw Tscherbak arbeitet auf seine Weise mit den Schülerinnen und Schülern. Er erklärt ihnen, was das Besondere an den westukrainischen Gebieten ist und wie die Arbeitsbedingungen und die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung im russischen Teil der Ukraine waren. Ständig bezieht er die Schüler mit ein, erarbeitet den Stoff mit ihnen, zum Schluss verteilt er Punkte für die Mitarbeit.
Ganz anders ist das im benachbarten Pisotschyner Collegium, einer Art College, wo an diesem Dienstag in der 11. Klasse der Zweite Weltkrieg auf dem Programm steht. Auch das ist vermintes Gebiet, jetzt erst recht. Natürlich haben die Ukrainer im Großen Vaterländischen Krieg in der Roten Armee mitgekämpft, und zwar in großer Zahl. Aber es gab auch den Holodomor, die Besetzung der Westukraine 1939, die Verfolgung ukrainischer Nationalisten. Die Verwirrung beginnt damit, dass die Schüler seit kurzem mit einem neuen Begriff hantieren müssen: Der Große Vaterländische Krieg zwischen 1941 und 1945 ist plötzlich zum „Deutsch-Sowjetischen Krieg“ geworden. Ein gemeinsames Vaterland gibt es ja nicht mehr, auch wenn Russlands Präsident Wladimir Putin weiter davon spricht, Russen und Ukrainer seien ein und das selbe Volk.
In Pisotschyn geht es heute um den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und den fast zeitgleichen Einmarsch von deutscher Wehrmacht und Roter Armee in Polen. In sowjetischen Schulen ist dieses Ereignis nie behandelt worden, im Russland Putins wird es bis heute kaschiert. War die Aneignung der polnischen Ostgebiete und Bessarabiens durch die Sowjetunion ein Anschluss, eine Annexion oder eine Wiedervereinigung, wie es in Russland dargestellt wird?, fragt die Lehrerin.
Es gibt – immerhin – verschiedene Meinungen dazu unter den Schülern. Man einigt sich schließlich auf „Annexion“. Als es um den späteren Krieg mit Deutschland geht, wird erst einmal das Negative hervorgekehrt: Stalins Schuld an den verheerenden Niederlagen zu Kriegsbeginn, die rücksichtslose Evakuierung der Industrie, die gleichzeitige Vernichtung von 15 000 politischen Häftlingen in der Ukraine durch den sowjetischen Geheimdienst und das Verschweigen der wahren Kriegsverluste durch die Führung in Moskau. Nur zehn Minuten später aber ist von der „heldenhaften Verteidigung Kyjiws“, der „heldenhaften Verteidigung Odessas“ und der glorreichen „Donbass-Verteidigung“ die Rede – denn diese Operationen fanden auf ukrainischem Territorium statt. Es ist eine Gratwanderung, sprachlich geht es hin und her, eine Debatte gibt es nicht, die Lehrerin diktiert den Schülern die wichtigsten Merksätze in die Hefte.
„Ukrainozentrismus“ und „Patriotismus“ lauten die wichtigsten Prinzipien, die die jetzige Führung in Kyjiw für den Geschichtsunterricht vorgibt. Sie will damit Putins These begegnen, die Ukraine sei ein „amorphes Land“ und kein wirklich selbständiger Staat. Den Schülern soll im Gegenteil beigebracht werden, dass die Ukrainer eine historische Nation mit langer Tradition seien und dass ihr Land eine mehr als 1000-jährige „nationale“ Geschichte habe. Diese Behauptungen sind in der Fachwissenschaft heftig umstritten, aber die Regierung hält an ihnen fest, um so die Existenz eines ukrainischen Staates zu legitimieren. Schon in der 5. Klasse wird den Kindern nun erzählt, nie seien die Ukrainer eine vollwertige Nation gewesen, das ganze Leben über seien sie gequält, unterdrückt, verraten und verkauft worden, und deswegen sei es Zeit, sich von der äußeren Knebelei zu befreien. Aber ist es wirklich so? Waren die Ukrainer wirklich stets in der Opferrolle? Und führt nicht auch diese These zu Aggressivität?
Der ukrainische Geschichtsprofessor Georgij Kasjanow sagt, schon die Sowjetführung habe die Geschichte für ihre politischen und ideologischen Ziele genutzt. Die gegenwärtige Führung in Kyjiw tue das aber ebenso, „für genau die gleichen Ziele, nur hat sich der Akzent verschoben.“ Früher habe der Schwerpunkt auf dem Kampf der Klassen gegeneinander und für eine „nationsfreie“ Gesellschaft gelegen. Jetzt würden im Gegensatz dazu die nationale Geschichte und der Kampf für die Staatlichkeit betont. Fünf Jahre nach dem Maidan würden die Regierenden erneut mit ideologischen Symbolen hantieren und mit einem ganz bestimmtem historischem Personal, das sie als unangreifbar in eine Art „Pantheon“ stellten.
Das beste Beispiel dafür ist Alexej Berest, der nun als eine der Hauptfiguren im Geschichtsunterricht eingeführt wird – jener Offizier, der gemeinsam mit einem russischen und einem georgischen Soldaten 1945 die Siegesfahne auf dem Berliner Reichstag hisste. Der Grund dafür: Berest war Ukrainer, 2005 wurde er posthum zum „Helden der Ukraine“ erklärt.
Die Katastrophe 1986 im Kernkraftwerk Tschernobyl dagegen wurde aus den Geschichtsbüchern getilgt, wohl weil sie nicht als ukrainisches Versagen gelten soll.
Die Frage, welche Beziehung die Ukrainer zu ihrem Staat haben, wird auch in den Schulen diskutiert, zum Beispiel am Charkiwer Privat-Gymnasium „Otschag“, was so viel wie Herd oder Feuerstelle heisst. Das Otschag ist eine von inzwischen ziemlich vielen Privatschulen in der Stadt, wenn auch keine allzu teure – 100 Dollar haben die Eltern monatlich zu zahlen. Aber allein schon diese Summe sorgt dafür, dass hier vor allem Kinder aus Mittelschicht-Familien lernen. Es sind Schüler, deren Eltern mit dem oft noch immer zwanghaften System an den Staatsschulen nicht zurechtkommen, mit der übertriebenen, manchmal geradezu militärischen Disziplin, wie man sie auch in vielen Charkiwer Schulen noch beobachten kann, der vielerorts noch anzutreffenden Schuluniform, der übergroßen Menge an Hausaufgaben oder den formalen Vorschriften für Heftführung und dem stumpfen Abschreiben von Aufgaben. Im Otschag gibt es das alles nicht.
Es ist 11.45 Uhr, die 4. Stunde an diesem Tag, in der 10. Klasse wird „Graschdanskoje obrasowanije“ gegeben – zu deutsch Bürgererziehung oder Sozialkunde. Das Fach gibt es erst seit September dieses Jahres. Die fünf Mädchen und fünf Jungen haben einen Kreis gebildet, sie fassen sich zur Begrüßung an den Händen, dann lässt Lehrerin Jelena Majedworoda die Hausaufgaben diskutieren. Die Schüler sollten daheim oder auf der Straße fünf Personen danach zu befragen, was eine Ukrainerin oder einen Ukrainer ausmache. Die Antworten, stellt sich heraus, waren extrem unterschiedlich.
Einer der Jungen, Roman, berichtet, die Hälfte der von ihm Befragten hätte angegeben, sie fühlten sich allein deswegen als Ukrainer, weil sie einen ukrainischen Pass besäßen, die andere Hälfte habe darauf verwiesen, dass sie nun mal in der Ukraine Steuern entrichte. Ihre Oma, so erzählt Nastja, komme aus Jekaterinburg, aus Russland also, das auch ihre Rente zahle – das sei für sie das Entscheidende, sie fühle sich also als Russin. Viele Leute, so stellt sich in der Diskussion heraus, hätten auf die Frage, ob sie sich als Ukrainer fühlten oder nicht, keine Antwort gewusst. Andere wiederum hätten gesagt, wenn sie die Gelegenheit bekämen, würden sie das Land am liebsten verlassen.
„Dass Leute sich nur wegen des Passes für Ukrainer halten, das bewegt mich“, wirft eines der Mädchen ein. Ein anderes sagt: „Jeder sollte selbst entscheiden, ob er bleibt oder wegfährt. Schließlich ist die Lage hier im Land schwierig.“ Jelena Borissowna greift nicht ein, sie lässt die Meinungen stehen, sie moderiert nur, es ist das Beste, was sie tun kann. Dann geht sie zum eigentlichen Thema der Stunde über: „Was macht eine Persönlichkeit aus?“ Und: „Welche Kriterien kennzeichnen einen erfolgreichen Menschen?“.
Hergebrachte Unterrichtsformen aufzubrechen und die Kinder daran zu beteiligen, wie Wissen vermittelt werden soll – im Gymnasium Otschag versuchen sie das in unterschiedlichsten Formen. In der 9. Klasse, eine Etage höher, gibt die 28-jährige Julia Gurtowa „Weltgeschichte“. Es geht um den Beginn der Französischen Revolution, und Gurtowa hat sich dazu ein Spiel ausgedacht: Sie will das Thema gemeinsam mit den Schülern als Tagebuch der Revolution behandeln. Jeder darf sich eine Rolle aussuchen, die er auf seine Art ausfüllen muss. Die Kinder sind begeistert, sie rufen quer durch den Raum, wen sie am liebsten spielen würden: Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, einen Gefängniswärter der Bastille, den Generalkontrolleur der Finanzen, eine Pariser Waschfrau, einen Totengräber, den Henker des Königs…
Ruhiger, aber ebenso differenziert geht es in der 10. Klasse bei Igor Solomadin zu. Auch hier steht Geschichte auf dem Programm und laut Lehrplan wie in den anderen Schulen der Erste Weltkrieg. Aber Solomadin hat sich einen speziellen Aspekt herausgesucht, er behandelt den Völkermord der Türken an den Armeniern von 1915 und lässt über Fremdenhass und Genozid diskutieren. Er erzählt, wie die Armenier im Osmanischen Reich zwischen die Fronten gerieten – „eigentlich genauso wie die Ukrainer dann zwischen Österreich-Ungarn und dem Russischen Reich“. Ein Schüler ist davon überzeugt, so ähnlich sei es auch in den 1990er Jahren beim Krieg der Kroaten gegen die Serben gewesen, ein anderer erwähnt die Übergriffe von Ukrainern auf Roma in diesem Sommer, und dann fragt ein Mädchen, warum in der Ukraine früher nicht über den Holodomor berichtet wurde… „Warum tauchen überhaupt all diese Konflikte auf?“, diese Frage stellt Solomadin abschließend in den Raum, sie soll in der nächsten Stunde debattiert werden.
„Wir dürfen Geschichte nicht mehr zur Propaganda werden lassen“, sagt Swetlana Prozenko, die Direktorin der Schule Nr. 11 in der Melnikow-Straße. All das, was früher mit einem Plus-Zeichen gekennzeichnet war, jetzt mit einem Minus zu versehen, also alles Sowjetische und Russische zu verdammen und an deren Stelle das Ukrainische zu stellen – „das wäre absurd“. Die Kinder müssten ein Gefühl für die komplizierte Geschichte ihres Landes bekommen und eine Vorstellung davon, wie vielfältig die Ukraine in ihren politischen Anschauungen ist.
Einfach und logisch klingt es, was sie sagt. Aber es wird ein weiter Weg dorthin sein – weil viele Lehrer diese Art, Wissen zu vermitteln, nie gelernt haben. Und weil der Staat sich in den Schulen dann mehr zurücknehmen müsste. Aber wie kann er das, wenn an seiner Spitze selbst noch alle möglichen ideologischen Schlachten geschlagen werden?
Und dann erzählt Frau Prozenko vom Schüleraustausch mit der Westukraine, den sie neulich organisiert hätten. „Kinder einen die Ukraine“, hieß die Aktion. 11- bis 15-Jährige aus Galizien und den Karpaten seien nach Charkiw gekommen und umgekehrt. „Die Eltern wollten sie erst nicht zu uns lassen, Charkiw gilt im Westen als Kriegsgebiet und politisch nicht sehr verlässlich. Für die Kinder selbst war der Krieg bis zu dieser Reise nicht mehr als ein furchtbares Märchen. Aber dann klappte alles wunderbar“, sagt Swetlana Prozenko. „Die Kinder haben verstanden, dass wir ein kämpfendes Land sind. Und dass auch der Osten zur Ukraine gehört. Das zu verschweigen, wäre kontraproduktiv.“
Die Reportage ist im Rahmen des Projektes der Bundeszentrale für politische Bildung und der Evangelischen Akademie Tutzing „Maidan. An Unfinished Revolution“ entstanden.
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