Charkiw – der Kampf um die Köpfe

Knapp fünf Jahre nach dem Euro­mai­dan hat sich die Ukraine noch immer nicht darauf geei­nigt, wie die jüngere Geschichte zu inter­pre­tie­ren ist. Mit welchem Nar­ra­tiv, mit welcher Sinn­deu­tung sollen Ukrai­ner auf­wach­sen, die jetzt noch in der Schule sind? Für seine Repor­tage besuchte Chris­tian Neef im Sommer bis Herbst 2018 ver­schie­dene Schulen in Charkiw.

Ein Vor­mit­tag zu Herbst­be­ginn in Charkiw. Die Blätter hängen noch an den Bäumen, es ist so heiß wie schon den ganzen Sommer über. Nur das Licht, mit dem sich die Tage jetzt in den Abend ver­ab­schie­den, ist anders als im Juli oder August, wärmer und satter. In Charkiw, im Nord­os­ten der Ukraine, ist der Sep­tem­ber schon immer der schönste Monat des Jahres gewesen.

Chris­tian Neef war lang­jäh­ri­ger SPIEGEL-Kor­re­spon­dent in Moskau und stell­ver­tre­ten­der Auslandschef.

In der Schule Nummer 11 in der Char­ki­wer Mel­ni­kow-Straße sitzen sie noch in T‑Shirts, auch die Mädchen und Jungen der 10. Klasse. „Double check in your heart“ steht auf einem, „Hil­fi­ger New York“ auf einem anderen. Ein Mädchen trägt ein schwar­zes Shirt mit einem Toten­kopf. Es gibt hier keine Schul­uni­for­men, Eltern und Direk­to­rin haben das so beschlossen.

Es ist Diens­tag, die dritte Unter­richts­stunde, Geschichte. Das Thema steht an der Tafel: „Welche Politik betrieb das Rus­si­sche Reich in den ukrai­ni­schen Gebie­ten Öster­reich-Ungarns zwi­schen 1914 und 1917?“

Die 11. Schule ist eine Spe­zi­al­schule mit erwei­ter­tem Mathe­ma­tik- und Sprach­un­ter­richt. Sie liegt im Indus­trie­vier­tel im Süd­os­ten, zwi­schen dem Maly­schew-Werk, das früher eine der größten sowje­ti­schen Pan­zer­fa­bri­ken war, und dem Char­ki­wer Trak­to­ren­werk, einem Symbol der Indus­tria­li­sie­rung unter Josef Stalin. Noch immer werden hier Panzer und Trak­to­ren pro­du­ziert. Für die Schulen heißt das: Pro­le­ta­ri­sche Ein­zugs­ge­gend, wenig Bürgertum.

Zu Beginn der Stunde will die Leh­re­rin einen Begriff aus der vorigen Woche fes­ti­gen: „Okku­pa­ti­ons­re­gime“.

Es geht um die Wirren im Westen des Landes, als die West­ukraine noch zur öster­rei­chi­schen Mon­ar­chie gehörte und Öster­reich-Ungarn mit Russ­land auf ukrai­ni­schem Boden focht. Gut 100 Jahre ist es jetzt her, dass dort die Ukrai­ner zwi­schen die Fronten gerie­ten, ja gleich­zei­tig auf Seiten der Öster­rei­cher wie auch der Russen kämpf­ten, und dass Russ­land in Lemberg, dem heu­ti­gen Lwiw, zeit­wei­lig die Macht über­nahm. Was denn dieses Okku­pa­ti­ons­re­gime aus­ge­macht habe, fragt die Leh­re­rin. „Eine grobe Rus­si­fi­zie­rung, die admi­nis­tra­tive Neu­auf­tei­lung des Gebie­tes, die Depor­ta­tion Tau­sen­der Ukrai­ner, den Aus­tausch von Geist­li­chen und die Unter­drü­ckung der ukrai­ni­schen Sprache und Kultur“, ant­wor­tet eine der Schü­le­rin­nen. „Etwa so wie jetzt auf der Krim“, wirft ein anderes Mädchen ein.

„So, wie auf der Krim.“ Es gibt tat­säch­lich ver­blüf­fende Par­al­le­len zwi­schen 1914 und 2014. Schon vor 100 Jahren kämpf­ten Europa und Russ­land um die Ukraine, schon damals war die geo­po­li­ti­sche Rich­tungs­ent­schei­dung der Ukraine für die Mit­tel­mächte wie für die Entente von stra­te­gi­scher Bedeu­tung. Aktu­el­ler kann Geschichts­un­ter­richt nicht sein. Was aber auf­fällt: Die Zehn­kläss­ler an der Char­ki­wer Mit­tel­schule Nummer 11 haben keine Geschichts­bü­cher vor sich, nur flie­gende Blätter, die die Leh­re­rin ver­viel­fäl­tigt hat. In der Ukraine gibt es derzeit keine Lehr­bü­cher für das Fach Geschichte, jeden­falls nicht in dieser Klassenstufe.

Knapp fünf Jahre nach dem Euro­mai­dan, nach der soge­nann­ten Revo­lu­tion der Würde, hat sich das Land noch immer nicht darauf geei­nigt, wie die jüngere Geschichte zu inter­pre­tie­ren ist. War das, was 2013 und 2014 auf dem Kyjiwer Maidan geschah, ein Umsturz, wie Russ­land behaup­tet? War es wirk­lich eine Revo­lu­tion und wenn ja, wen haben die Akti­vis­ten dort ver­tre­ten? Für viele ist das noch nicht geklärt. Und welche Rolle hat die Ukraine im Ersten und dann im Zweiten Welt­krieg gespielt, welche in den 1930er Jahren und in der späten Sowjet­zeit? Mit welchem Nar­ra­tiv, mit welcher Sinn­deu­tung sollen Ukrai­ner auf­wach­sen, die jetzt noch in der Schule sind?

Es ist eine der hei­kels­ten Fragen, die das Land bewegt, und das nicht erst jetzt, sondern schon seit 1991, als die Ukraine unab­hän­gig wurde. Sie betrifft vor allem auch die Schulen. In den letzten zwei­ein­halb Jahr­zehn­ten hatten ukrai­ni­sche Geschichts-Lehr­bü­cher eine Halb­wert­zeit, die die frisch geern­te­ter Kar­tof­feln kaum über­stieg. Regel­mä­ßig wurden den Schü­lern Texte mit neuen Geschich­ten über die Ukraine vorgelegt.

Noch schwie­ri­ger wird die Lage dadurch, dass die poli­ti­schen Gräben zwi­schen Maidan-Anhän­gern und Maidan-Gegnern fünf Jahre nach der Erhe­bung noch immer nicht zuge­schüt­tet sind, erst recht nicht in Charkiw. Die frühere ukrai­ni­sche Haupt­stadt mit ihren 1,4 Mil­lio­nen Ein­woh­nern liegt nur rund 40 Kilo­me­ter von der rus­si­schen Grenze ent­fernt und etwa 200 Kilo­me­ter von den Donez­ker und Luhans­ker „Volks­re­pu­bli­ken“, den von Russ­land gestütz­ten Sepa­ra­tis­ten-Spren­geln im äußers­ten Osten des Landes. Nur drei Auto­stun­den von Charkiw herrscht Krieg, noch immer, inzwi­schen schon gut vier Jahre. 2014, als große Teile des Volkes gegen Prä­si­dent Wiktor Janu­ko­wytsch auf­be­gehr­ten, waren die Zusam­men­stöße zwi­schen pro­rus­si­schen und proukrai­ni­schen Grup­pie­run­gen in Charkiw fast so heftig wie die auf dem Kyjiwer Maidan, nur gab es weniger Tote. Wäre der Sturm auf den Gou­ver­neurs­sitz damals nicht zurück­ge­schla­gen worden, hätten die pro­rus­si­schen Sepa­ra­tis­ten Charkiw zu ihrer Haupt­stadt gemacht.

Äußer­lich ist es der Stadt nicht anzu­mer­ken, aber tief in ihrem Innern ist sie pro­rus­sisch geblie­ben. Man merkt es manch­mal am Morgen, wenn in irgend­ei­nem der Stadt­be­zirke wieder ein Denkmal gestürzt worden ist.

Gleich mehr­mals in diesem Jahr wurde die Büste des Sowjet-Mar­schalls Georgij Schukow, des Siegers der Schlach­ten von Moskau, Sta­lin­grad und Berlin, von ihrem Sockel geholt. Das Denkmal des Armee­ge­ne­rals Nikolaj Watutin wurde von ukrai­ni­schen Patrio­ten mit roter Farbe über­gos­sen. Watutin hatte 1943 Kyjiw befreit. Beide waren Russen, das reichte. Das Denkmal für den Bol­sche­wi­ken Nikolaj Rudnjew, der im Herbst 1917 den Umsturz in Charkiw anführte, wurde kürz­lich ganz offi­zi­ell geschleift. Es soll durch ein Denkmal für die „Himm­li­sche Hun­dert­schaft“ ersetzt werden, die Getö­te­ten des Kyjiwer Maidan. Und der über­große Lenin steht schon lange nicht mehr auf dem Frei­heits­platz, dem frü­he­ren Dschersch­in­ski-Platz, er hatte bereits das Jahr 2014 nicht überlebt.

Die andere Seite bleibt dem Gegner nichts schul­dig. Im Juni wurde eine Frau bei dem Versuch ver­haf­tet, den Gedenk­stein für die ukrai­ni­sche Par­ti­sa­nen­ar­mee UPA im Park der Jugend in die Luft zu spren­gen. Angeb­lich war sie von rus­si­schen Diens­ten ange­wor­ben worden. Die UPA hatte ab 1942 gegen das Stalin-Regime gekämpft, dabei auch mit Hitlers Wehr­macht pak­tiert und sich an der Tötung von Juden betei­ligt, obwohl auch in der UPA ukrai­ni­sche Juden dienten.

Die pro­rus­si­sche Frak­tion in der Stadt ist stark, auch wenn sie sich nur noch selten öffent­lich als solche zu erken­nen gibt. Anfang Oktober wurde Maxim Musejew als mut­maß­li­cher Spion des rus­si­schen Geheim­diens­tes FSB ent­larvt, einer der bekann­tes­ten Stadt­be­zirk-Chefs. Er war ein Ver­trau­ter des Char­ki­wer Bür­ger­meis­ters gewesen, der wie­derum selbst als pro­rus­sisch gilt. Musejew soll inzwi­schen nach Russ­land geflüch­tet sein.

Beide poli­ti­schen Lager säen Hass, beide ver­su­chen, sich gegen­sei­tig zu dis­kre­di­tie­ren. Im Inter­net beschimp­fen sie sich als „Nazis“ bezie­hungs­weise als „Watniki“ – ein Wort, das von der typisch rus­si­schen Wat­te­ja­cke abge­lei­tet und ein Synonym für tumbe Putin-Anhän­ger ist. Längst hat der Streit die Grenzen eines seriö­sen Disputs gesprengt.

Dass die Stadt zwei­ge­teilt ist, ver­ra­ten bereits die Ver­an­stal­tungs­pla­kate auf den Straßen. Die einen werben für die 69-jährige rus­sisch-sowje­ti­sche Estra­den­sän­ge­rin Alla Pugat­schowa und für den in Moskau leben­den Schrift­stel­ler Michail Schwa­netzki – beide Künst­ler, die sich gern mit Putin zeigen, der von der Ukraine zum Erz­feind erklärt worden ist. Andere Plakate fordern zum Besuch der derzeit ange­sag­tes­ten ukrai­ni­schen Rock­band „Okean Elsi“ auf. Spielt sie in Charkiw, ist das 50 000-Mann-Stadion der ört­li­chen Mann­schaft „Metal­list“ bre­chend voll.

Die Grenzen zwi­schen den immer noch leben­di­gen sowje­ti­schen Ste­reo­ty­pen und den Sym­bo­len der neuen ukrai­ni­schen Zeit sind flie­ßend. Wie etwa ordnet man jenes Porträt ein, das quer über eine ganze Haus­wand in der Sums­kaja uliza gemalt worden ist, der Haupt­straße der Stadt? Es zeigt den Schau­spie­ler Leonid Bykow in der Uniform eines Flie­ger­of­fi­ziers der Roten Armee – ein Bild aus dem Film „W boj idut odni ‚stariki‘“, zu deutsch: „Erfah­rene Hasen des Geschwa­ders“. Der Strei­fen gilt als einer der erfolg­reichs­ten Kriegs­filme der Bre­sch­new-Zeit, er lief 1974, als Charkiw noch zutiefst sowje­tisch war. Auch Bykow ist fast schon 40 Jahre tot. Aber er war – und das ist inzwi­schen das ent­schei­dende Kri­te­rium – Ukrai­ner, geboren im Donez­ker Gebiet, und die Hand­lung dreht sich um die Schlacht am Dnepr 1943. So hat es dieser Film geschafft, nicht nur Teil der sowje­ti­schen, sondern auch der post­so­wje­ti­schen Folk­lore zu sein, und niemand regt sich über den rie­sen­gro­ßen Bykow an der Sums­kaja auf.

Aber das ist eher eine Aus­nahme. Ansons­ten sind die poli­ti­schen Front­li­nien scharf, auch in Charkiw ver­lau­fen sie quer durch die Fami­lien. Als die Stadt­rats­ab­ge­ord­nete und Medien-Pro­fes­so­rin Olena Goroschko bei Face­book ein Selfie postete, auf dem sie mit einem T‑Shirt und dem Auf­druck „Slawa Ukraine“ – Ruhm der Ukraine – zu sehen war, brach eine in Israel lebende jüdi­sche Freun­din die Bezie­hung zu ihr ab, ihr in Hamburg leben­der Sohn spricht seitdem nicht mehr mit ihr. „Slawa Ukraine“ ist die neue Gruß­for­mel der ukrai­ni­schen Armee – sie wurde aber auch von der natio­na­lis­ti­schen UPA benutzt.

Wie sollen sich in der Schlacht um Helden und Symbole Ukrai­ner ori­en­tie­ren, die gerade 15 oder 16 Jahre alt sind, also erst nach Beginn dieses Jahr­hun­derts geboren wurden? Selbst jene Insti­tu­tio­nen, die Auf­klä­rung leisten müssten, helfen meist nicht. Denn wenn junge Leute in eines der Char­ki­wer Museen gehen, wird die Ver­wir­rung noch größer. Im His­to­ri­schen Museum am Ver­fas­sungs­platz hört die Geschichts­schrei­bung abrupt im Jahr 1991 auf. Und die Sowjet­zeit davor wird von Emaille-Koch­töp­fen und Minia­tur-Model­len der Gagarin-Rakete reprä­sen­tiert – es scheint, als habe jemand einen Sack wahllos aus­ge­such­ter Erin­ne­rungs­stü­cke in den Saal geschüt­tet. Dass es unter Bre­sch­new Wider­stand von poli­ti­schen Dis­si­den­ten gab, wird ver­steckt in einer ein­zi­gen Vitrine erwähnt. Unkom­men­tiert hängen auch im Orts­mu­seum von Babaji am Rande von Charkiw Stalin-Fotos und sowje­ti­sche Pio­nier­uni­for­men neben den Bild­nis­sen des ukrai­ni­schen Natio­nal­dich­ters Taras Schewtschenko, der im 19. Jahr­hun­dert lebte, und des ukrai­ni­schen Reli­gi­ons­phi­lo­so­phen Gre­go­rius Sko­wo­roda, dem ersten großen Phi­lo­so­phen der Kiewer Rus: Geschichts­schrei­bung als Samm­lung von Anekdoten.

Hinter dem his­to­ri­schen Chaos steckt Angst – die Angst, Ver­gan­ge­nes zu kom­men­tie­ren, erst recht die letzten fünf Jahre. Selbst Päd­ago­gen sind unsi­cher, wie mit der ukrai­ni­schen Geschichte umzu­ge­hen ist. „Wir haben den 22 000 Lehrern, die an den Schulen im Char­ki­wer Gebiet arbei­ten, zusätz­li­ches Mate­rial zum Geschichts­lehr­buch in die Hand gegeben, das die ‚Revo­lu­tion der Würde‘ behan­delt“, sagt Ana­to­lij Babit­schew, der für das Bil­dungs­we­sen zustän­dige Char­ki­wer Vize­gou­ver­neur. „Viele Lehrer waren mit diesen Texten nicht ein­ver­stan­den, sie haben sie einfach nicht benutzt. Wir mussten einige Lehrer entlassen.“

Das ist kaum über­ra­schend in einem poli­tisch so gespal­te­nen Gebiet. Ein Teil des Char­ki­wer Gebiets sei noch heute aus­schließ­lich rus­sisch geprägt, sagt Babit­schew. Außer­dem sei Charkiw in den 1930er Jahren die Haupt­stadt des Holo­do­mor gewesen, jener durch Stalins Politik her­bei­ge­führ­ten Hun­gers­not, der Mil­lio­nen Men­schen zum Opfer fielen. „Alle Ereig­nisse sind eine Fort­set­zung von damals“, glaubt der Vize­gou­ver­neur. „Es geht aber nicht, dass die Lehrer ihre eigenen poli­ti­schen Ansich­ten und Emo­tio­nen mit in den Unter­richt nehmen.“ Die Kinder müssten ihre Schlüsse selbst ziehen und lernen, die Stand­punkte anderer zu akzep­tie­ren, sonst komme das Land nie zur Ruhe.

Das ist nicht mehr und nicht weniger als die For­de­rung, mit dem Fron­tal­un­ter­richt sowje­ti­schen Stils endlich Schluss zu machen wie auch mit der ver­ord­ne­ten Sicht auf die eigene Vergangenheit.

„Die Erzäh­lun­gen darüber, wer in der jün­ge­ren Geschichte der Ukraine ein Held war und wer nicht, teilt unsere Gesell­schaft min­des­tens seit dem Maidan“, sagt Swet­lana Pro­zenko, die Direk­to­rin der 11. Mit­tel­schule in der Mel­ni­kow-Straße, an der 1000 Kinder lernen. Sie ist selbst aus­ge­bil­dete Geschichts­leh­re­rin und davon über­zeugt, dass „wir unsere Geschichte jetzt ganz anders betrach­ten müssen“.

Zum einen meint sie damit den Kon­flikt im Osten des Landes. Frau Pro­zenko hat an ihrer Schule Kinder von Kämp­fern, die an der Front waren und 40 Schüler aus den von Sepa­ra­tis­ten besetz­ten Gebie­ten, die gemein­sam mit ihren Eltern oder sogar allein von dort geflüch­tet sind. Für diese Kinder ist der Krieg sehr konkret. 2015 haben die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zudem die Schule ganz unmit­tel­bar erreicht: Im Februar jenes Jahres kam einer der Schüler – der 15-jährige Daniil Didik – unweit der Schule bei einem Bom­ben­an­schlag auf eine proukrai­ni­sche Demons­tra­tion ums Leben.

Die Mehr­heit der Eltern jedoch, so räumt die Direk­to­rin ein, habe mit dem Krieg kaum etwas zu tun. „Es gibt nicht wenige unter ihnen, die sagen: Das ist nicht unser Krieg, er geht uns nichts an.“

„Unsere Schüler haben zu Beginn des Krieges den Männern an der Front gehol­fen, mora­lisch“, erzählt Swet­lana Pro­zenko. „Sie haben Arm­bän­der und Puppen gebas­telt und ihre Arbei­ten dann auf einem Wohl­tä­tig­keits­ba­sar ver­kauft. Vom Erlös haben sie eine schuss­si­chere Weste für einen der Sol­da­ten an der Kampf­li­nie beschafft, dazu Hand­tü­cher und Seife. Und sie haben ukrai­ni­sche Flaggen an Armee-Batail­lone ver­schickt, die bekamen sie mit Unter­schrif­ten und Briefen zurück. Das alles hängt jetzt in den Klassenräumen.“

Andere Schüler haben in Charkiw ein Hos­pi­tal mit Ver­letz­ten besucht. Die jüngste Geschichte zu begrei­fen gehe nur übers eigene Erleben, sagt die Direk­to­rin. Und dabei denke sie vor allem an die Kinder der 7. bis 9. Klassen. Die jün­ge­ren Schüler akzep­tier­ten, was der Lehrer sage, die älteren sind ohnehin meist proukrai­nisch. Aber die Kinder in den Klas­sen­stu­fen dazwi­schen seien den ideo­lo­gi­schen Deu­tungs-Schlach­ten, die bei Face­book oder Insta­gram tobten, am stärks­ten aus­ge­setzt, zumal auch ihre Eltern zu Hause oft eine andere Rolle spielen würden, als sie auf Eltern­ver­samm­lun­gen in der Schule vor­gä­ben. Privat seien sie oft weniger proukrai­nisch als in der Öffentlichkeit.

Geschichte anders betrach­ten, das heißt für Swet­lana Pro­zenko aber auch, die Kinder endlich zu kri­ti­schem Denken erzie­hen, damit sie nicht einfach nur in eines der Lager fallen und sich die schein­bar ewige Kon­fron­ta­tion auf diese Weise fort­setzt: schwarz oder weiß, Volks­feind oder Patriot.

„Die Kinder glauben nicht mehr so einfach“, sagt Pro­zenko. „Das, was in der Sowjet­päd­ago­gik noch ‚wlo­s­chitj‘ hieß – etwas ‚hin­ein­le­gen‘ ins Kind – funk­tio­niert nicht mehr. Wenn wir die Helden, die den Schü­lern früher vor­ge­setzt wurden, nur durch andere aus­tau­schen, erzie­hen wir Zyniker. Die Kinder sind sehr emo­tio­nal, die merken das.“ Und dann erzählt sie, wie hys­te­risch sie war, als Leonid Bre­sch­new starb, der sowje­ti­sche Par­tei­chef der 1960er und 1970er Jahre, der eigent­lich Symbol für den gesell­schaft­li­chen Still­stand war. So etwas werde ihr nie wieder pas­sie­ren, beteu­ert Frau Pro­zenko. Des­we­gen auch habe sie an ihrer Schule kein ein­zi­ges Porträt des ukrai­ni­schen Staats­chefs Petro Poro­schenko auf­ge­hängt. „Wenn wir nicht klar über die Rea­li­tät im Lande spre­chen, bleiben wir auf ewig ‚Sowki‘.“ Sowok – das ist der pejo­ra­tive Begriff für den Sowjetmenschen.

Wie aber erzieht man Kinder zum kri­ti­schen Denken, wie bringt man sie dazu, sich mit anderen Mei­nun­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen, ohne diese gleich zu verdammen?

Geschichts­un­ter­richt in der 25. Mit­tel­schule in der Straße der Trak­to­ren­bauer im 607. Mikro­rayon von Charkiw, einem Stadt­teil, der nach sowje­ti­schem Maß ein „spalny rayon“ ist, ein Schlafrayon weit ent­fernt vom Stadt­zen­trum, in den man also nur zum Schla­fen kommt. Es ist eine zwei­spra­chige Schule, in der es Klassen gibt, in denen auf Rus­sisch unter­rich­tet wird und solche, in denen Ukrai­nisch die Unter­richts­spra­che ist. Nur Geschichte wird ein­heit­lich in Ukrai­nisch gelehrt, so wie in der 10. Klasse bei Andrej Atsch­ka­sow. An der Wand des Unter­richts­raums hängen Por­träts ukrai­ni­scher Fürsten und Het­män­ner, sie haben die Bulawa in der Hand, das keu­len­ähn­li­che Zepter der ukrai­ni­schen Kosakenführer.

Auch bei Atsch­ka­sow steht heute der Erste Welt­krieg auf dem Plan. Er erzählt den Schü­lern, wie die rus­si­schen Truppen im Spät­som­mer 1914 Lemberg besetz­ten, das ukrai­ni­sche Lwiw, das bis dahin zur k.u.k. Mon­ar­chie gehört hatte, dessen Umland aber schon immer mehr­heit­lich ukrai­nisch­spra­chig war. Auf beiden Seiten kämpf­ten damals Ukrai­ner mit – bei den Russen ebenso wie bei den Öster­rei­chern. Die Politik der Russen hatte Atsch­ka­sow schon im ersten Teil der Stunde als repres­siv und ukrai­ner­feind­lich cha­rak­te­ri­siert. Nun geht es um die 30 000 Ukrai­ner auf der anderen Seite, bei den Öster­rei­chern, vor allem um die Ukrai­ni­sche Legion, einem Verband von Frei­schüt­zen. Atsch­ka­sow wirft eine Folie an die Wand, auf der steht das Zitat eines His­to­ri­kers, wonach die ukrai­ni­schen Ein­hei­ten weder eine poli­ti­sche noch eine mili­tä­ri­sche Bedeu­tung beses­sen hätten. „Waren die Ukrai­ner tat­säch­lich nur eine poli­ti­sche Karte im Spiel der ukrai­ni­schen Natio­na­lis­ten und der öster­rei­chi­schen Mon­ar­chie?“, fragt der Lehrer in die Runde.

Es ist, wie sich schnell her­aus­stellt, eine rhe­to­ri­sche Frage. Denn Atsch­ka­sow trägt die erwar­tete Schluss­fol­ge­rung sicher­heits­hal­ber gleich selber vor. Er betont, die Ukrai­ni­sche Legion habe ein hohes intel­lek­tu­el­les Niveau gehabt, sie habe wie die übrigen Ukrai­ner gut gekämpft, ihr Ziel sei die eigene Unab­hän­gig­keit gewesen. Das sei der Unter­schied zu den Ukrai­nern auf der rus­si­schen Seite. Erst­mals hätten die Ukrai­ner damals begrif­fen, dass sie eine ein­heit­li­che Nation seien, sie hätten letzt­end­lich für Auto­no­mie und später für eine eigene Repu­blik gekämpft. „Sind Sie ein­ver­stan­den damit?“, fragt der Lehrer. Die Schüler nicken mit dem Kopf, sie haben keine Bemer­kun­gen dazu.

Was Atsch­ka­sow sagt, ist wahr und auch wieder nicht. Tat­säch­lich hatten damals vor allem die Deut­schen ver­sucht, die Ukrai­ner gegen die Russen aus­zu­spie­len. Aber jetzt, da die Ukraine um ihre Unab­hän­gig­keit von Putin-Russ­land kämpft, sind Bei­spiele gefragt, die den jahr­hun­der­te­lan­gen Drang der Ukrai­ner nach Selb­stän­dig­keit belegen. Das weiß auch Atsch­ka­sow, und er hält sich offen­bar streng daran. Er ist seit vielen Jahren Geschichts­leh­rer an dieser Schule. Zuvor war er Offi­zier gewesen, in der 25. sowje­ti­schen Gard­e­di­vi­sion. Wie dif­fe­ren­ziert Geschichte dar­ge­stellt wird, hängt in großem Maße von den Lehrern ab.

Auch in der Neuen Schule „Mobil“ von Pisot­schyn, einem kleinen Ort west­lich von Charkiw, zeigt sich das. Es ist eine erst im vorigen Jahr ein­ge­weihte Lehr­an­stalt, licht und mit Liften aus­ge­stat­tet, auch das Kol­le­gium ist neu – nahezu sämt­li­che Lehrer sind frisch aus­ge­bil­det von ukrai­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten und Hoch­schu­len gekom­men. Hier geht es in der 10. Klasse eben­falls um den Ersten Welt­krieg, aber der 25-jährige Sta­nis­law Tscher­bak arbei­tet auf seine Weise mit den Schü­le­rin­nen und Schü­lern. Er erklärt ihnen, was das Beson­dere an den west­ukrai­ni­schen Gebie­ten ist und wie die Arbeits­be­din­gun­gen und die soziale Zusam­men­set­zung der Bevöl­ke­rung im rus­si­schen Teil der Ukraine waren. Ständig bezieht er die Schüler mit ein, erar­bei­tet den Stoff mit ihnen, zum Schluss ver­teilt er Punkte für die Mitarbeit.

Ganz anders ist das im benach­bar­ten Pisot­schy­ner Col­le­gium, einer Art College, wo an diesem Diens­tag in der 11. Klasse der Zweite Welt­krieg auf dem Pro­gramm steht. Auch das ist ver­min­tes Gebiet, jetzt erst recht. Natür­lich haben die Ukrai­ner im Großen Vater­län­di­schen Krieg in der Roten Armee mit­ge­kämpft, und zwar in großer Zahl. Aber es gab auch den Holo­do­mor, die Beset­zung der West­ukraine 1939, die Ver­fol­gung ukrai­ni­scher Natio­na­lis­ten. Die Ver­wir­rung beginnt damit, dass die Schüler seit kurzem mit einem neuen Begriff han­tie­ren müssen: Der Große Vater­län­di­sche Krieg zwi­schen 1941 und 1945 ist plötz­lich zum „Deutsch-Sowje­ti­schen Krieg“ gewor­den. Ein gemein­sa­mes Vater­land gibt es ja nicht mehr, auch wenn Russ­lands Prä­si­dent Wla­di­mir Putin weiter davon spricht, Russen und Ukrai­ner seien ein und das selbe Volk.

In Pisot­schyn geht es heute um den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und den fast zeit­glei­chen Ein­marsch von deut­scher Wehr­macht und Roter Armee in Polen. In sowje­ti­schen Schulen ist dieses Ereig­nis nie behan­delt worden, im Russ­land Putins wird es bis heute kaschiert. War die Aneig­nung der pol­ni­schen Ost­ge­biete und Bes­sa­ra­bi­ens durch die Sowjet­union ein Anschluss, eine Anne­xion oder eine Wie­der­ver­ei­ni­gung, wie es in Russ­land dar­ge­stellt wird?, fragt die Lehrerin.

Es gibt – immer­hin – ver­schie­dene Mei­nun­gen dazu unter den Schü­lern. Man einigt sich schließ­lich auf „Anne­xion“. Als es um den spä­te­ren Krieg mit Deutsch­land geht, wird erst einmal das Nega­tive her­vor­ge­kehrt: Stalins Schuld an den ver­hee­ren­den Nie­der­la­gen zu Kriegs­be­ginn, die rück­sichts­lose Eva­ku­ie­rung der Indus­trie, die gleich­zei­tige Ver­nich­tung von 15 000 poli­ti­schen Häft­lin­gen in der Ukraine durch den sowje­ti­schen Geheim­dienst und das Ver­schwei­gen der wahren Kriegs­ver­luste durch die Führung in Moskau. Nur zehn Minuten später aber ist von der „hel­den­haf­ten Ver­tei­di­gung Kyjiws“, der „hel­den­haf­ten Ver­tei­di­gung Odessas“ und der glor­rei­chen „Donbass-Ver­tei­di­gung“ die Rede – denn diese Ope­ra­tio­nen fanden auf ukrai­ni­schem Ter­ri­to­rium statt. Es ist eine Grat­wan­de­rung, sprach­lich geht es hin und her, eine Debatte gibt es nicht, die Leh­re­rin dik­tiert den Schü­lern die wich­tigs­ten Merk­sätze in die Hefte.

„Ukrai­no­zen­tris­mus“ und „Patrio­tis­mus“ lauten die wich­tigs­ten Prin­zi­pien, die die jetzige Führung in Kyjiw für den Geschichts­un­ter­richt vorgibt. Sie will damit Putins These begeg­nen, die Ukraine sei ein „amor­phes Land“ und kein wirk­lich selb­stän­di­ger Staat. Den Schü­lern soll im Gegen­teil bei­gebracht werden, dass die Ukrai­ner eine his­to­ri­sche Nation mit langer Tra­di­tion seien und dass ihr Land eine mehr als 1000-jährige „natio­nale“ Geschichte habe. Diese Behaup­tun­gen sind in der Fach­wis­sen­schaft heftig umstrit­ten, aber die Regie­rung hält an ihnen fest, um so die Exis­tenz eines ukrai­ni­schen Staates zu legi­ti­mie­ren. Schon in der 5. Klasse wird den Kindern nun erzählt, nie seien die Ukrai­ner eine voll­wer­tige Nation gewesen, das ganze Leben über seien sie gequält, unter­drückt, ver­ra­ten und ver­kauft worden, und des­we­gen sei es Zeit, sich von der äußeren Kne­be­lei zu befreien. Aber ist es wirk­lich so? Waren die Ukrai­ner wirk­lich stets in der Opfer­rolle? Und führt nicht auch diese These zu Aggressivität?

Der ukrai­ni­sche Geschichts­pro­fes­sor Georgij Kas­ja­now sagt, schon die Sowjet­füh­rung habe die Geschichte für ihre poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Ziele genutzt. Die gegen­wär­tige Führung in Kyjiw tue das aber ebenso, „für genau die glei­chen Ziele, nur hat sich der Akzent ver­scho­ben.“ Früher habe der Schwer­punkt auf dem Kampf der Klassen gegen­ein­an­der und für eine „nati­ons­freie“ Gesell­schaft gelegen. Jetzt würden im Gegen­satz dazu die natio­nale Geschichte und der Kampf für die Staat­lich­keit betont. Fünf Jahre nach dem Maidan würden die Regie­ren­den erneut mit ideo­lo­gi­schen Sym­bo­len han­tie­ren und mit einem ganz bestimm­tem his­to­ri­schem Per­so­nal, das sie als unan­greif­bar in eine Art „Pan­theon“ stellten.

Das beste Bei­spiel dafür ist Alexej Berest, der nun als eine der Haupt­fi­gu­ren im Geschichts­un­ter­richt ein­ge­führt  wird – jener Offi­zier, der gemein­sam mit einem rus­si­schen und einem geor­gi­schen Sol­da­ten 1945 die Sie­ges­fahne auf dem Ber­li­ner Reichs­tag hisste. Der Grund dafür: Berest war Ukrai­ner, 2005 wurde er posthum zum „Helden der Ukraine“ erklärt.

Die Kata­stro­phe 1986 im Kern­kraft­werk Tscher­no­byl dagegen wurde aus den Geschichts­bü­chern getilgt, wohl weil sie nicht als ukrai­ni­sches Ver­sa­gen gelten soll.

Die Frage, welche Bezie­hung die Ukrai­ner zu ihrem Staat haben, wird auch in den Schulen dis­ku­tiert, zum Bei­spiel am Char­ki­wer Privat-Gym­na­sium „Otschag“, was so viel wie Herd oder Feu­er­stelle heisst. Das Otschag ist eine von inzwi­schen ziem­lich vielen Pri­vat­schu­len in der Stadt, wenn auch keine allzu teure – 100 Dollar haben die Eltern monat­lich zu zahlen. Aber allein schon diese Summe sorgt dafür, dass hier vor allem Kinder aus Mit­tel­schicht-Fami­lien lernen. Es sind Schüler, deren Eltern mit dem oft noch immer zwang­haf­ten System an den Staats­schu­len nicht zurecht­kom­men, mit der über­trie­be­nen, manch­mal gera­dezu mili­tä­ri­schen Dis­zi­plin, wie man sie auch in vielen Char­ki­wer Schulen noch beob­ach­ten kann, der vie­ler­orts noch anzu­tref­fen­den Schul­uni­form, der über­gro­ßen Menge an Haus­auf­ga­ben oder den for­ma­len Vor­schrif­ten für Heft­füh­rung und dem stump­fen Abschrei­ben von Auf­ga­ben. Im Otschag gibt es das alles nicht.

Es ist 11.45 Uhr, die 4. Stunde an diesem Tag, in der 10. Klasse wird „Graschdans­koje obra­so­wa­nije“ gegeben – zu deutsch Bür­ger­erzie­hung oder Sozi­al­kunde. Das Fach gibt es erst seit Sep­tem­ber dieses Jahres. Die fünf Mädchen und fünf Jungen haben einen Kreis gebil­det, sie fassen sich zur Begrü­ßung an den Händen, dann lässt Leh­re­rin Jelena Majed­wo­roda die Haus­auf­ga­ben dis­ku­tie­ren. Die Schüler sollten daheim oder auf der Straße fünf Per­so­nen danach zu befra­gen, was eine Ukrai­ne­rin oder einen Ukrai­ner aus­ma­che. Die Ant­wor­ten, stellt sich heraus, waren extrem unterschiedlich.

Einer der Jungen, Roman, berich­tet, die Hälfte der von ihm Befrag­ten hätte ange­ge­ben, sie fühlten sich allein des­we­gen als Ukrai­ner, weil sie einen ukrai­ni­schen Pass besäßen, die andere Hälfte habe darauf ver­wie­sen, dass sie nun mal in der Ukraine Steuern ent­richte. Ihre Oma, so erzählt Nastja, komme aus Jeka­te­rin­burg, aus Russ­land also, das auch ihre Rente zahle – das sei für sie das Ent­schei­dende, sie fühle sich also als Russin. Viele Leute, so stellt sich in der Dis­kus­sion heraus, hätten auf die Frage, ob sie sich als Ukrai­ner fühlten oder nicht, keine Antwort gewusst. Andere wie­derum hätten gesagt, wenn sie die Gele­gen­heit bekämen, würden sie das Land am liebs­ten verlassen.

„Dass Leute sich nur wegen des Passes für Ukrai­ner halten, das bewegt mich“, wirft eines der Mädchen ein. Ein anderes sagt: „Jeder sollte selbst ent­schei­den, ob er bleibt oder weg­fährt. Schließ­lich ist die Lage hier im Land schwie­rig.“ Jelena Boris­sowna greift nicht ein, sie lässt die Mei­nun­gen stehen, sie mode­riert nur, es ist das Beste, was sie tun kann. Dann geht sie zum eigent­li­chen Thema der Stunde über: „Was macht eine Per­sön­lich­keit aus?“ Und: „Welche Kri­te­rien kenn­zeich­nen einen erfolg­rei­chen Menschen?“.

Her­ge­brachte Unter­richts­for­men auf­zu­bre­chen und die Kinder daran zu betei­li­gen, wie Wissen ver­mit­telt werden soll – im Gym­na­sium Otschag ver­su­chen sie das in unter­schied­lichs­ten Formen. In der 9. Klasse, eine Etage höher, gibt die 28-jährige Julia Gurtowa „Welt­ge­schichte“. Es geht um den Beginn der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion, und Gurtowa hat sich dazu ein Spiel aus­ge­dacht: Sie will das Thema gemein­sam mit den Schü­lern als Tage­buch der Revo­lu­tion behan­deln. Jeder darf sich eine Rolle aus­su­chen, die er auf seine Art aus­fül­len muss. Die Kinder sind begeis­tert, sie rufen quer durch den Raum, wen sie am liebs­ten spielen würden: Ludwig XVI. und Marie-Antoi­nette, einen Gefäng­nis­wär­ter der Bas­tille, den Gene­ral­kon­trol­leur der Finan­zen, eine Pariser Wasch­frau, einen Toten­grä­ber, den Henker des Königs…

Ruhiger, aber ebenso dif­fe­ren­ziert geht es in der 10. Klasse bei Igor Solo­ma­din zu. Auch hier steht Geschichte auf dem Pro­gramm und laut Lehr­plan wie in den anderen Schulen der Erste Welt­krieg. Aber Solo­ma­din hat sich einen spe­zi­el­len Aspekt her­aus­ge­sucht, er behan­delt den Völ­ker­mord der Türken an den Arme­ni­ern von 1915 und lässt über Frem­den­hass und Genozid dis­ku­tie­ren. Er erzählt, wie die Arme­nier im Osma­ni­schen Reich zwi­schen die Fronten gerie­ten – „eigent­lich genauso wie die Ukrai­ner dann zwi­schen Öster­reich-Ungarn und dem Rus­si­schen Reich“. Ein Schüler ist davon über­zeugt, so ähnlich sei es auch in den 1990er Jahren beim Krieg der Kroaten gegen die Serben gewesen, ein anderer erwähnt die Über­griffe von Ukrai­nern auf Roma in diesem Sommer, und dann fragt ein Mädchen, warum in der Ukraine früher nicht über den Holo­do­mor berich­tet wurde… „Warum tauchen über­haupt all diese Kon­flikte auf?“, diese Frage stellt Solo­ma­din abschlie­ßend in den Raum, sie soll in der nächs­ten Stunde debat­tiert werden.

„Wir dürfen Geschichte nicht mehr zur Pro­pa­ganda werden lassen“, sagt Swet­lana Pro­zenko, die Direk­to­rin der Schule Nr. 11 in der Mel­ni­kow-Straße. All das, was früher mit einem Plus-Zeichen gekenn­zeich­net war, jetzt mit einem Minus zu ver­se­hen, also alles Sowje­ti­sche und Rus­si­sche zu ver­dam­men und an deren Stelle das Ukrai­ni­sche zu stellen – „das wäre absurd“. Die Kinder müssten ein Gefühl für die kom­pli­zierte Geschichte ihres Landes bekom­men und eine Vor­stel­lung davon, wie viel­fäl­tig die Ukraine in ihren poli­ti­schen Anschau­un­gen ist.

Einfach und logisch klingt es, was sie sagt. Aber es wird ein weiter Weg dorthin sein – weil viele Lehrer diese Art, Wissen zu ver­mit­teln, nie gelernt haben. Und weil der Staat sich in den Schulen dann mehr zurück­neh­men müsste. Aber wie kann er das, wenn an seiner Spitze selbst noch alle mög­li­chen ideo­lo­gi­schen Schlach­ten geschla­gen werden?

Und dann erzählt Frau Pro­zenko vom Schü­ler­aus­tausch mit der West­ukraine, den sie neulich orga­ni­siert hätten. „Kinder einen die Ukraine“, hieß die Aktion. 11- bis 15-Jährige aus Gali­zien und den Kar­pa­ten seien nach Charkiw gekom­men und umge­kehrt. „Die Eltern wollten sie erst nicht zu uns lassen, Charkiw gilt im Westen als Kriegs­ge­biet und poli­tisch nicht sehr ver­läss­lich. Für die Kinder selbst war der Krieg bis zu dieser Reise nicht mehr als ein furcht­ba­res Märchen. Aber dann klappte alles wun­der­bar“, sagt Swet­lana Pro­zenko. „Die Kinder haben ver­stan­den, dass wir ein kämp­fen­des Land sind. Und dass auch der Osten zur Ukraine gehört. Das zu ver­schwei­gen, wäre kontraproduktiv.“

Die Repor­tage ist im Rahmen des Pro­jek­tes der Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bildung und der Evan­ge­li­schen Aka­de­mie Tutzing „Maidan. An Unfi­nis­hed Revo­lu­tion“ entstanden.

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