Über die „Verfolgung“ und das „Martyrium“ des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko
Gegen Petro Poroschenko wird in unzähligen Fällen strafrechtlich ermittelt. Ist der ukrainische Ex-Präsident das Opfer selektiver politischer Verfolgung oder erntet er jetzt was er durch versäumte Reformen gesät hat? Bohdan Nahailo mit seiner Kolumne zur Causa-Poroschenko.
Armer Petro Poroschenko! Die Jagdhunde aus Präsident Selenskyjs Truppen der politischen Verfolgung und Rache wurden von der Leine gelassen. Die einheimischen Demokratieverteidiger sowie externe Freunde sind „besorgt“ und rufen „Foul“.
Das ist zumindest der Eindruck, der aus der Beobachtung einiger ukrainischer Medien entsteht, insbesondere bei den jüngsten Äußerungen aus diplomatischen Kreisen oder bei Kommentaren auf den Seiten des UkraineAlert des geschätzten Atlantic Council.
Die Art und Weise, wie die tatsächlichen oder noch weitgehend potenziellen Vorwürfe – davon nicht weniger als 24 – gegen Präsident Selenskyjs Vorgänger präsentiert werden, hat oft den Beigeschmack einer politischen Abrechnung, was auf selektive politische Verfolgung sowie einen Missbrauch des Rechtssystems hindeutet.
Poroschenko ist nicht der einzige Akteur, der in jüngster Zeit ins Visier genommen wurde von denen, die seine Verteidiger als Agenten der politischen Rache bezeichnen. Es ist offensichtlich, dass solche zwielichtigen Kräfte im Spiel waren, und die anderen Zielpersonen wurden seltsamerweise nur von einem Ende des politischen Spektrums anvisiert – der ukrainischen Rechtsextremen, wie etwa der Aktivist aus Odesa, Serhij Sternenko.
Allerdings wurde das Bild stark politisiert und verzerrt von denjenigen, die von Poroschenko angeführt und ohne abzuwarten, bis die notwendigen Ermittlungen durchgeführt sind, darauf bestehen, dass diejenigen, die sie verteidigen, unschuldige Opfer böswilliger „anti-ukrainischer“ politischer Verschwörung sind.
So wie es eine Unschuldsvermutung gelten sollte, bis das Gegenteil bewiesen ist, sollte auch angenommen werden, dass die Behörden gute Gründe für ihr Handeln haben.
Sie sollten die Chance erhalten, die erforderlichen stichhaltigen Beweise zu liefern oder einzugestehen, dass sie falsch lagen oder irregeführt wurden.
Aber bei all dem geht es nicht wirklich um Selenskyj und seine Absichten, auch wenn diese durchaus wichtig sind, sondern darum, ob unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Ukraine fällige Ermittlungen und ein faires Verfahren durchgeführt werden können.
Es geht um das Wesen und die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems.
Leider ist hier die Rede von einem fehlerhaften Rechtssystem und einer immer noch rauen politischen Kultur, die Selenskyj und sein Team nicht mitgebracht, sondern von ihren Vorgängern geerbt haben.
Was lief schief in Poroschenkos Amtszeit?
Poroschenko hatte fünf Jahre lang Zeit, um angetrieben durch den Rückenwind aus der Revolution der Würde und mit der Unterstützung sowohl der Zivilgesellschaft als auch externer Befürworter, die Dinge in Ordnung zu bringen. Leider hat er diese historische Chance für die Ukraine und für Europa vertan.
Anstatt die nach dem Sturz der Kleptokratie von Präsident Viktor Janukowitsch errichtete Oligarchie abzubauen, half Poroschenko ihr bei der Neugruppierung und übernahm die Rolle eines inter pares.
Eine Rechtsreform wurde verkündet, blieb aber nur halb gar. Sie wurde dadurch verhindert, dass er diejenigen, die ihm treu waren, in die angeblich „unabhängigeren“ Gerichte versetzte.
Wo waren all diejenigen, die jetzt „Foul“ rufen, als er seinen ehemaligen Kollegen, den ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili, unwürdig sowie unter Verletzung nationaler und internationaler Normen festnahm und kurzerhand auslieferte, und ihm im Juli 2017, nachdem sie sich zerstritten hatten, die ukrainische Staatsbürgerschaft entzog?
Seit er im vergangenen Jahr von der überwältigenden Mehrheit der ukrainischen Wähler abgelehnt wurde, verachtet Poroschenko den demokratischen Prozess, indem er so tut, als sei er immer noch der einzige „echte“, wirklich „ukrainische“ und „europäische“ Präsident der Ukraine, und ermutigt seine Anhänger, diesen Kurs zu halten.
Er hat zudem zahlreiche Vorladungen der Strafverfolgungsbehörden zur Vernehmung in einer Reihe von Fällen ignoriert und sich damit demonstrativ über das Gesetz gestellt.
Trotz seiner Versuche, sich als „Märtyrer“ zu tarnen, hat Poroschenko viel zu verantworten. Wenn dies nicht angemessen geschieht, ist dies bedauerlich und kritikwürdig. In seinem Fall aber, wie er sicher aus der Bibel weiß – er gibt sich in religiösen Fragen sehr interessiert – „Wir ernten, was wir säen“.
Einige von Poroschenkos ehemaligen internationalen Partnern behaupten, es sei unangebracht, einen ehemaligen Staatschef mit kriminellen Anklagen zu verfolgen. Mir fallen zwei ehemalige Staatschefs in demokratischen Ländern ein, die derzeit auf ihren Prozess warten – der ehemalige französische Präsident Nikolai Sarkozy und der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu. Auch sie halten die Anschuldigungen für politisch motiviert oder erfunden.
Der Teufelskreis des ukrainischen Rechts‑, Politik- und Wirtschaftssystems
Was wir heute in der Ukraine sehen, sind Lektionen, die nicht gelernt wurden und das Drehen im Kreis. Bloßgestellt werden Schwächen in der politischen und rechtlichen Kultur, die in der Ukraine fast 30 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit des Landes immer noch vorherrschen, sowie deren Folgen.
Die ukrainische Zivilgesellschaft ist nun stärker und reifer, nachdem der Euromaidan zersplittert ist und es verfehlt hatte, die wichtigsten Ziele nachhaltig und geschlossen zu verfolgen. Und viele der Journalisten des Landes, vor allem die klügsten, haben sich damit abgefunden, ihren oligarchischen Zahlmeistern zu dienen, anstatt ihrem Beruf und den Bedürfnissen der Zeit treu zu bleiben.
Unsere geschätzten westlichen Partner sind ebenfalls daran schuld. Ja, die Ukraine befindet sich im Krieg mit Russland, und es gab eine nachvollziehbare Zurückhaltung, die Fehler oder Ungeschicklichkeiten von Poroschenko und in jüngster Zeit auch von Selenskyj öffentlich zu kritisieren. Dennoch müssen die Voraussetzungen für die Bereitstellung politischer und finanzieller Unterstützung gerecht, genau und konsequent sein. Andernfalls ist eine für beide Seiten bequeme Routine zu befürchten, bei der pro forma die Kästchen angekreuzt werden – Fortschritte bei den Reformen, zu deren Durchführung sich die ukrainische Regierung verpflichtet hat, um das damit verbundene Vertrauen und die damit verbundenen Anreize zu rechtfertigen.
Da es im ukrainischen Rechts‑, Politik- und Wirtschaftssystem kein wirkliches System der gegenseitigen Kontrolle gibt, muss eine tragfähige Konditionalität – anstelle von regelmäßigen Äußerungen von Enttäuschung oder Besorgnis – die Norm sein.
Lasst uns also den Wald vor lauter Bäumen nicht übersehen. In diesem Fall die scheinbar massive Eiche, als die sich Poroschenko darstellt, und der dunkle Wald, oder ist es ein Mangrovensumpf, der darüber hinaus der richtigen Pflege und Aufmerksamkeit bedarf. Wir brauchen Förster, nicht nur Holzfäller.
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