Großbrand zerstört zehn Prozent der Sperrzone von Tschornobyl, trifft Tierwelt und Tourismuspotential
Im April 1986 explodierte der vierte Reaktor des Kernkraftwerks Tschornobyl; bei dem folgenden Großbrand wurden riesige Mengen an Strahlung in die Erdatmosphäre freigesetzt und Tausende Menschen wurden getötet. Im Laufe der Zeit verwandelte sich die Sperrzone von der Stätte der tödlichsten nuklearen Katastrophe der Zivilgeschichte zu einem touristischen Hotspot. Von Veronika Melkozerova
Alljährlich besuchten Tausende Touristen aus aller Welt die 2.600 Quadratkilometer große Sperrzone von Tschornobyl, um den Ort zu sehen, der zum größten Mahnmal für schreckliches menschliches Versagen geworden war. Im Laufe der Jahre war die Zone rund um Tschornobyl zum größten Naturschutzgebiet und Freilichtmuseum für Nuklearkatastrophe Europas geworden.
Dutzende Tierarten konnten sich in der von Menschen verlassenen Zone frei entfalten und die Natur hatte sie sich zurückerobert.
Steve Andre, 34, Stahlarbeiter und Dokumentarfotograf aus den Vereinigten Staaten, kam vor zehn Jahren zum ersten Mal in die Sperrzone, im Jahr 2010.
„Ich war erst einmal überwältigt, wie lebendig alles war. Man konnte im Sommer einige der Gebäude kaum noch sehen! Ich war überrascht, wie viele Menschen in der Gegend arbeiteten“, erinnerte sich Andre.
Bei seinem ersten Besuch sah er nicht viel, kam aber danach immer wieder zurück und verbrachte sogar seinen dreißigsten Geburtstag dort.
„Ich habe viel mehr Zeit in den Gegenden abseits der nunmehr größten Touristenroute verbracht. Ich konnte mir Orte ansehen wie das Ferienlager Smaragdgrün oder die Militärbasen im Wald, und auch einige der Dörfer, wo die Selbstsiedler leben“, fügte Andre hinzu.
Jedes Jahr besuchten Tausende andere ausländische Touristen genau wie Andre die Sperrzone von Tschornobyl. Der Strom riss nicht einmal nach dem Beginn des Krieges im Donbas und dem Verlust der Krim-Halbinsel, eines weiteren beliebten touristischen Ziels der Ukraine, ab. Bilder wie das einer Herde Wildpferde, die durch die verlassenen Gebäude und einst urbanen Straßenzüge galoppieren, lockten immer mehr Menschen an, die sehen wollten, wie die Erde nach der Apokalypse aussehen würde.
Mit der Premiere der erfolgreichen HBO-Fernsehserie „Chernobyl“ im Mai 2019 erreichte das Interesse an der Zone einen neuen Höhepunkt, sagte Jaroslaw Jemelianenko, der Präsident der Assoziation von Tschornobyl-Reiseveranstaltern.
Im Jahr 2019 kamen mehr als 124.000 Besucher nach Tschornobyl, davon waren 85 Prozent aus dem Ausland.
„Für 2020 hatten wir aufgrund unserer harten Arbeit und dem Einfluss der Fernsehserie 250.000 Besucher in der Zone erwartet“, sagte Jemelianenko.
Die COVID-19-Pandemie hat diese Pläne jedoch bereits zunichte gemacht. Die Regierung schloss zuerst die Grenzen und dann die Zone für Touristen. Und dann begann Anfang April ein riesiger Waldbrand, der mehr als 25 Tage andauerte und mehr als 20.000 Hektar Wald und die Tierwelt in der Sperrzone und den nahegelegenen Dörfern zerstörte.
„Ich sah mit eigenen Augen, wie das gesamte Zentrum der Tschornobyl-Zone und ein Teil des Naturschutzgebiets niederbrannten“, sagte Jemelianenko.
Normalerweise dauerten die geführten Touren durch die Zone zwischen einem und fünf Tagen und bewegten sich entlang 13 speziell entwickelter Routen.
Zum Glück sind die meisten Attraktionen der Tagestouren wie die Städte Tschornobyl und Prypjat sowie die Duga-Radarstation in Sicherheit, sagte Olena Kowaltschuk, Sprecherin der staatlichen Agentur zur Verwaltung der Sperrzone.
Der Feuerwehr gelang es, die Lagerungsstätte für radioaktiven Abfall in Pidlisny vor dem Feuer zu retten. Auch den zerstörten Reaktor, der mittlerweile von der neuen bogenförmigen Schutzhülle umschlossen ist, erreichte das Feuer nicht.
„Ja. Aber viele Besucher haben sich bisher fünf Tage lang in der Zone aufgehalten. Prypjat, Duga und Tschornobyl waren nur die Besucherziele am ersten Tag. Den Rest der Tour haben wir weniger bekannten aber sehenswerten touristischen Orten gewidmet“, sagte Jemelianenko.
„Wir haben versucht, unseren Gästen ein vollständiges Bild davon zu geben, wie das Leben in der jetzigen Sperrzone damals war. Wir haben gezeigt, wo die Angestellten des Kernkraftwerks Tschornobyl gearbeitet haben, wo sie gelebt haben und wo sie Urlaub gemacht haben“, fügte Jemelianenko hinzu.
Außer dem Leben der 1980er zeigten die Fremdenführer den Gästen auch das Leben vor langer Zeit in der nördlichen Region Polesien, in Form einzigartiger 200 Jahre alter Häuser. Diese wurden nun alle zerstört.
Insgesamt sind 12 touristische Ziele komplett abgebrannt – Teile des berühmten Roten Walds, das linke Ufer des Flusses Prypjat, die Dörfer Leliw und Chystogaililwka, der Bahnhof Janiw und die sowjetischen Freizeitlager.
Andre erinnerte sich an einen dieser Orte – das Lager Smaragdgrün: „Das war einer meiner Lieblingsorte. Ich glaube, 2016 bin ich es komplett abgelaufen und habe jedes einzelne Häuschen fotografiert, das mit Cartoons oder Szenen aus Volksmärchen bemalt war. Nur etwa 25 von den fast 100 Häusern waren so bemalt“, sagte Andre.
Das Feuer zerstörte nicht nur Wahrzeichen, sondern richtete auch unter den Wildtieren in der Sperrzone enormen Schaden an. Zwei Herden von insgesamt 115 Wildpferden mussten vor dem Feuer aus ihren Gebieten fliehen, sagte Victoria Wolodkina, die Sprecherin des Strahlungs-Biosphärenreservats Tschornobyl.
„Sie konnten zum Glück in Teile der Sperrzone fliehen, die nicht vom Feuer zerstört wurden, aber als sie zurückkehrten, waren all ihre Futterquellen zerstört. Sie stehen nun unter Stress, da sie im April/Mai auch ihre Fohlen bekommen“, fügte Wolodkina hinzu.
Wissenschaftler sind noch dabei, den Schaden für Wildtiere, kleinere Tiere und seltene Pflanzen zu erfassen. Entgegen Angaben der Regierung dauerten die Feuer in der Sperrzone nach mehr als 25 Tagen weiter an.
Ökologen für die Zone sammeln im Moment Geld, um Futter für die Tiere in der Zone zu kaufen.
Andre sagte, ihm seien die Feuer in der Zone egal. Die Sperrzone habe sich seit seinem ersten Besuch vor 10 Jahren verändert. Mit dem Zustrom an Touristen sei die Zone sinnlos und eher zu einer kommerziellen Attraktion geworden.
Er habe größtenteils das Interesse verloren, sich aber in die Selbstsiedler verliebt, die dort immer noch leben.
Es war an seinem dreißigsten Geburtstag. Andre und sein Freund, der ortsansässige Reiseführer Mischa, waren im Dorf Kupatowe, weil Steve mit den Selbstsiedlern sprechen wollte.
„Als wir zurück zu unserem Auto gingen, trafen wir auf eine alte Frau namens Hannia. Mischa erzählte ihr, dass es mein Geburtstag sei, und sie fing an, mich zu umarmen, und lud uns zu sich nach Hause zum Mittagessen ein. Innerhalb von Minuten hatte sie ein anscheinend mehrgängiges Menü und ihren hausgemachten Wodka auf dem Tisch. Ich war total fassungslos. Ich wusste, dass Ukrainer gastfreundliche Leute sind, aber das erschien mir verrückt“, so erinnert sich Andre.
Er sagte, dass Hannia seitdem zu seiner ukrainischen Großmutter geworden sei. Er kam immer wieder nach Kupatowe zurück und brachte Souvenirs mit. Und er war sehr erleichtert, dass das Dorf Kupatowe nicht von dem Feuer betroffen war.
Dieses Feuer war das größte in der Geschichte Tschornobyls, sagte Jemelianenko. Es hat die Ökosysteme in der Zone verändert.
„Ich bin traurig, dass die Gegenden zerstört sind, die zu fotografieren mir viel Freude gemacht haben. Aber ich bin irgendwie auch glücklich, dass sich der Tourismus nun vielleicht verlangsamt. Im Großen und Ganzen wünsche ich mir, dass diese Feuer die Aufmerksamkeit für die Zone erhöhen. Es ist das berüchtigste Kernkraftwerk der Menschheitsgeschichte. Wenn man das Wort Tschornobyl erwähnt, schaudern die Leute. Und das wird noch jahrhundertelang so sein. Wie konnte das Feuer so nahe herangelassen werden?“, schloss Andre.
Aus dem Englischen übersetzt von Meike Temberg.
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