Überleben im Krieg: Frontbericht aus Kyjiw
15 Tage sind vergangen seit Beginn der militärischen Invasion Russlands in die Ukraine. Die Lage im Land ist angespannt, aber noch nicht kritisch. Gleichzeitig sind Kampfgeist und Zusammengehörigkeitsgefühl der der Ukrainer so stark wie noch nie. Eindrücke aus Kyjiw von Anastasia Magazova
Trotz gegensätzlicher Prophezeiungen und weit verbreitetem Skeptizismus (auch unter den Ukrainer) hält die Ukraine seit zwei Wochen gegen eine der stärksten Armeen der Welt Stand und startet inzwischen sogar Gegenangriffe. Es gibt so gut wie keinen sicheren Ort mehr im Land. Überall ist die russische Bedrohung spürbar. Am schwierigsten ist die Lage jedoch in der linksufrigen Ukraine (links des Dnipro) – in Cherson, Mykolajiw, Mariupol, Wolnowacha, Charkiw, Tschernihiw, Sumy und in den Vororten von Kyjiw.
Die Bedrohung in Kyjiw wächst mit jedem Tag. Die Hauptstadt musste schon am ersten Tag der Invasion Luftschlägen widerstehen. Die ukrainische Luftabwehr schießt täglich feindliche Raketen ab. Und trotzdem ist die Situation in der Hauptstadt unter Kontrolle.
Kontrolliertes Defizit
Die größte Herausforderung ist es, die Lebensmittelversorgung sowie die Versorgung mit wichtigen Medikamenten aufrechtzuerhalten. Transport- und Logistikketten wurden durch die Kampfhandlungen unterbrochen. Brot und Trinkwasser sind nunmehr heißbegehrte Waren in Kyjiw. Es gibt Tage, an denen auch Milchprodukte, Eier und Fleisch schwer zu finden sind. Aber sowohl die Stadtverwaltung als auch zahlreiche Freiwillige tun alles, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. „Habe heute frisches Brot ergattert! Noch warm“ – solche und ähnliche Sätze hört man jetzt in vielen Familien, die sich noch in der Hauptstadt befinden. Und tatsächlich gleicht der Gang zum Einkaufen momentan einer Jagd: Man wählt nicht mehr aus unzähligen Angeboten, sondern nimmt einfach das, was noch da ist.
Schwieriger ist die Lage bei den Apotheken. Die meisten werden privat geführt und so entscheidet der jeweilige Betreiber selbst, ob er oder sie unter diesen Kriegszuständen weiter arbeiten will. Weil viele Pharmazeuten die Stadt verlassen haben, gibt es einen Personalmangel. Die Stadtverwaltung hat sich sogar an die Eigentümer gewendet und sie darum gebeten, Freiwilligen zu erlauben, Medikamente zu verkaufen und sie zu verteilen. Somit sind kommunale Apotheken praktisch die einzigen, wo man noch Medikamente kaufen kann. Die Schlangen sind so lang, dass man oft den ganzen Tag lang anstehen muss. Und wenn man das Glück hat, eine Apotheke zu betreten, so hört man oft: „Verbandsmaterial ist ausverkauft, Antiseptika sind ausverkauft, Schmerzmittel und Beruhigungsmittel schon lange.“ – „Wann gibt’s das wieder?“ – „Weiß ich nicht!“ Ärzte und Apotheker in ganz Europa schicken im Zuge der humanitären Hilfe Medikamente in die Ukraine. Doch die bleiben oft an der Grenze hängen. Darum verlangen Freiwillige einen „grünen Korridor“ für solche Waren.
Viele gehen, noch mehr bleiben
Es ist nicht genau klar, wie viele Menschen Kyjiw verlassen haben. Aber man spürt, dass viele weg sind. Noch vor zwei Wochen war die Millionenstadt bunt und lebendig – mittlerweile sind die Straßen leer. Es gibt jetzt überall Checkpoints und Barrikaden – Betonblöcke, Sandsäcke, Metall, Panzerigel. Manchmal sind es Busse oder Straßenbahnen, die quer gestellt werden und die Wege blockieren. Der gewohnte Stadtlärm ist dem Heulen der Sirenen gewichen, die vor Luftangriffen warnen. Die dunkelste Stunde ist die Sperrstunde zwischen 19 und 7 Uhr. Jeder, der sich in dieser Zeit draußen aufhält, gilt zunächst als Diversant.
Die Stadt, die wegen ihres schillernden Nachtlebens als zweites Berlin galt, hält den Atem an.
Der meistbesuchte Ort der Stadt ist jetzt der Hauptbahnhof – dort fahren ununterbrochen Evakuierungszüge ab in Richtung Westen. Frauen, Kinder, ältere Menschen versuchen, ihre Häuser so schnell wie möglich zu verlassen. Es sind nicht nur Kyjiwer, sondern auch all diejenigen, die es bis nach Kyjiw geschafft haben aus dem Osten und Süden der Ukraine. Doch weiterhin bleiben noch viele Menschen in Kyjiw.
Viele Bewohner verstecken sich vor Bombenangriffen, auch nachts. Es gibt inzwischen vieler solcher Verstecke in der Stadt – die Kyjiwer Metro beherbergt Zehntausende Menschen, genauso wie Tiefgaragen oder einfache Keller von Wohnhäusern. Man hat sich dort eingerichtet. Es gibt Wärme, Licht und sogar Internet. Am Tag gehen viele wieder nach Hause, um zu duschen und zu essen. Und auch die U‑Bahn fährt wieder, wenn auch nur wenige Strecken. Die anderen Verkehrsmittel fahren ebenso unregelmäßig, da viele Busse für Evakuierungen oder zur territorialen Selbstverteidigung genutzt werden.
Verteidigung in guten Händen
Ingenieure, Programmierer, Lehrer, Journalisten, Kosmetikerinnen, Verkäufer und Verkäuferinnen, Taxifahrer und andere Menschen, ganz gleich welchen Geschlechts – alle greifen zur Waffe, um ihre Stadt gegen russische Angreifer zu verteidigen. Die allermeisten haben keine militärische Erfahrung. Doch das hindert hier niemanden. Schließlich geht es um ihre eigene Zukunft. In Kyjiw allein meldeten sich Hunderttausende für die zivile Verteidigung. Die Schlangen sind so lang, dass man zum Teil tagelang anstehen muss. Einige wollen nicht warten und organisieren sich in ihren Bezirken selbst.
Die gegenseitige Unterstützung zeigt die Einigkeit der Ukrainer in dieser schweren Zeit. Trotz der Erschöpfung, die sich nach 12 Tagen Widerstand breit macht, gibt es angesichts dieser gemeinsamen Bedrohung eine große Bereitschaft. Kampfgeist und Entschlossenheit sind groß. Nicht nur die freiwilligen Verteidiger von Kyjiw bereiten sich auf noch schwierigere Tage vor. Auch Tausende Männer und Frauen kümmern sich um die Bedürfnisse der Verteidiger. Diejenigen, die physisch nicht in der Lage sind, leisten finanzielle Hilfe. Gastronomen versorgen die zivilen Verteidiger mit Essen.
Die Freiwilligen-Bewegung ist riesig – noch größer als im Jahr 2014, als Russland die Ukraine zum ersten Mal angriff. Die Kyjiwer investieren alles in die Verteidigung ihrer Stadt, denn jede Unterstützung zählt. „Wir dürfen die Menschen nicht enttäuschen. Wir dürfen unsere Stadt, unser Land nicht aufgeben. Kyjiw ist das Herz der Ukraine und wird sich niemals ergeben“, sagt Kostyantyn, der als Freiwilliger zur Armee gegangen ist.
Noch in den ersten Tagen hat der ukrainische Präsident betont, dass die Einnahme Kyjiws das Hauptziel des Kremls ist. Die russischen Besatzer tun jetzt alles, um diesen Plan zu verwirklichen und Kyjiw einzukesseln. Die Vororte Hostomel, Butscha, Irpin werden durch den Feind geradezu vernichtet, Zivilisten sterben bei Versuchen, diese Orte zu verlassen, und die Front rückt immer näher. Und trotzdem ist die Stadt bereit, durchzuhalten und die Angriffe abzuwehren.
Der Präsident avanciert zum Volksheld
Es ist erstaunlich, wie geschlossen die ukrainischen Politiker angesichts des Krieges agieren und wie nah sie dem Volk stehen. Eine Woche vor dem Angriff gab es ununterbrochen Streit zwischen der Regierung und der Opposition. Doch jetzt operieren sie wie ein Organismus. Statt gegenseitiger Kritik halten sie zusammen.
Die Transformation der Figur Wolodymyr Selenskyj und seiner Wahrnehmung durch die Menschen werden sicherlich in die Geschichtsbücher eingehen – und zwar nicht nur in der Ukraine. Die schärfsten Kritiker des Präsidenten warten jetzt täglich auf seine Ansprachen und hören nicht auf, über ihre Unterstützung und Bewunderung für Selenskyj zu sprechen. Es scheint, als hätte ihm niemand – weder Befürworter, Gegner, noch westliche Politiker – solchen Mut und Widerstandsfähigkeit zugetraut. Mittlerweile wird aus jeder Ansprache des ukrainischen Präsidenten in der Ukraine und in der ganzen Welt zitiert. Er ist genau zu dem Oberhaupt der Nation geworden, auf das die Ukrainer so lange gewartet haben. Die neuere Geschichte der Ukraine kennt keine andere Figur, hinter der ein ganzes Land so geschlossen stand, wie Wolodymyr Selenskyj seit dem Beginn der russischen Invasion.
Wie sein weiteres politisches Schicksal nach dem Sieg der Ukraine aussehen wird – das wird die Zukunft zeigen. Aber in diesem Moment ist er es, der die Ukrainer in ihrem Glauben bestärkt, dass ihr Siegestag kommen wird.
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