LGBTIQ in der Ukraine – Kampf um Gleichberechtigung,
auch in der Armee
Wie ist die Situation von ukrainischen LGBTIQ-Personen während Russlands Krieg gegen die Ukraine? Die Genderforscherin Hanna Hrytsenko analysiert die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft und berichtet über Repressionen in den von Russland besetzten Gebieten.
Die Beerdigung von Artur Snitkus (36) wurde mit Pride-Flaggen und buntem Rauch begangen. Bevor Snitkus den ukrainischen Streitkräften betreten war, in deren Reihen er im Juni in der Nähe von Pokrowsk fiel, war er in Kyjiw und seiner Heimatstadt Ternopil als offen queere Person bekannt: als Untergrundikone, als Teilnehmer an zahlreichen Kunstprojekten und, wie sich seine Freunde erinnern, als eine Person, „die keine Angst vor sozialen, geschlechtsspezifischen oder sonstigen Herausforderungen hatte“.
Es gibt viele Herausforderungen, denen sich Snitkus und andere queere Menschen in der Ukraine stellen mussten und müssen. Die queere Community in der Ukraine ist all jenen Bedrohungen ausgesetzt, die die russische militärische Aggression für sie bedeutet, und darüber hinaus auch der lokalen Homophobie und Transphobie im Land. Und obwohl die Hauptbedrohung für LGBTIQ-Personen in der Ukraine von der russischen Besatzungsarmee ausgeht, hat die ukrainische Gesellschaft auch noch einige Hausaufgaben zu erledigen.
LGBTIQ in den von Russland besetzten Gebieten
Kriegsverbrechen gegen LGBTIQ-Personen in den besetzten Gebieten sind schwer zu dokumentieren. Die meisten Informationen über Kriegsverbrechen kommen erst nach der Befreiung aus Besatzung ans Licht. Hinzu kommt, dass die queere Minderheit versucht, sich verdeckt zu halten, was die Dokumentation der Repressionen im Vergleich zu anderen – wie etwa religiösen – Minderheiten weiter erschwert. Es ist jedoch bekannt, dass Entführungen, Folter, sexuelle Gewalt und Tötungen in den besetzten Gebieten gängige Praktiken der russischen Armee sind. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren Fälle, in denen die Täter Angaben von Zivilisten zu ihrer sexuellen Orientierung gezielt gegen sie verwenden.
Die meisten LGBTIQ-Personen, die es geschafft haben, die besetzten Gebiete zu verlassen, versuchten entweder bereits vor 2022 über Kontrollpunkte oder nach Beginn der umfassenden Invasion über Drittländer zu entkommen. Auch wenn dies einigen gelungen ist, kann man davon ausgehen, dass queere Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder anderen Beeinträchtigungen sich weiterhin unter Besatzung befinden.
Zudem ist Russland für seine aggressiv homophobe Politik – etwa für die Entführung schwuler Männer in Tschetschenien – bekannt: 2023 wurde die „internationale LGBT-Bewegung“ zu einer „extremistischen“ Organisation erklärt und wurden Geschlechtsangleichungen bzw. Transitionen faktisch verboten. Transgender-Personen, die sich in den besetzten Gebieten aufhalten, haben kaum bis gar keinen Zugang zu Hormonersatztherapien, was ihre körperliche und psychische Gesundheit zusätzlich gefährdet.
70 Prozent für die Gleichberechtigung von LGBT-Personen
Die umfassende russische Invasion hat zudem die Rechte der LGBTIQ-Personen in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten beeinträchtigt. Binnenvertriebene Personen, die sich als LGBTIQ identifizieren, können bei der Suche nach einer Mietwohnung Diskriminierung ausgesetzt sein. Wenn sie keine andere Wahl haben, als mit homo- und transphoben Verwandten zusammenzuleben, drohen ihnen negative Einstellungen oder gar häusliche Gewalt.
Durch die Propagierung konservativer Werte hat Russland mit Soft Power jahrelang die gesamte Region erreicht – von Georgien bis Ungarn. Das fiel vor 2022 auch in ukrainischen Medien auf fruchtbaren Boden.
Im Mai 2024 sprachen sich laut einer Umfrage des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) jedoch gut 70 Prozent der Ukrainer:innen für die Gleichberechtigung von LGBT-Personen aus. Diese Zahl steigt stetig, wobei Frauen und Jugendliche eine positivere Einstellung zeigen als Männer. In der Praxis scheint der Umgang mit Gleichberechtigung allerdings weniger leicht zu fallen. In derselben Umfrage sprachen sich nur knapp 29 Prozent der Befragten dafür aus, dass gleichgeschlechtlich eingetragene Partnerschaften ohne das Recht auf Adoption von Kindern eingeführt werden sollten.
„Equality March“ – Forderung nach Gesetz zu eingetragenen Lebenspartnerschaften
Die Community setzt sich weiter für Gleichberechtigung ein – und verlässt sich dabei auch darauf, dass die fortschreitende europäische Integration der Ukraine als Katalysator wirkt. Zwei Gesetzesentwürfe, die sowohl für ukrainische LGBTIQ-Personen als auch für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union entscheidend sind, warten darauf, im Parlament verabschiedet zu werden. Der erste Gesetzentwurf (Nr. 5488) regelt die Ahndung von Hassverbrechen, von denen die queere Gemeinschaft besonders häufig betroffen ist. Der zweite Gesetzentwurf, Nr. 9103, sieht die Einführung eingetragener Lebenspartnerschaften vor. Letzteres ist von besonderer Bedeutung für die gleichgeschlechtlichen Partner:innen von Soldat:innen, da es ihnen die Möglichkeit bietet, ihre Rechte im Todesfalle des Partners – oder der Partnerin – durchzusetzen. Das Parlament zögert jedoch, dieses wichtige Gesetz zu verabschieden.
Die Teilnehmenden an der diesjährigen Gleichstellungsdemonstration „Equality March“, die initiiert von der NGO Kyiv Pride am 16. Juni 2024 zum ersten Mal seit Beginn der umfassenden Invasion wieder stattfand, forderten vom ukrainischen Parlament die Verabschiedung dieser beiden Gesetze. Außerdem riefen sie die internationale Gemeinschaft dazu auf, der Ukraine schwere Waffen zu liefern und das Land bei der Befreiung der „Asowstal“-Verteidiger aus russischer Gefangenschaft zu unterstützen. Die Kolonne der LGBTIQ-Soldat:innen war ein zentraler Teil des Demonstrationszuges.
Große Herausforderungen für LGBTIQ-Soldat:innen
Ukrainische LGBTIQ-Aktivist:innen gehen davon aus, dass zwei bis sieben Prozent der ukrainischen Armeeangehörigen LGBTIQ-Personen sind. Die genaue Zahl sei schwer zu ermitteln, da sich viele LGBTIQ-Personen aufgrund von Homophobie, Transphobie oder aus Angst, die eigene militärische Karriere zu gefährden, nicht outen.
Die Community dient aus den gängigen Gründen (Männer im Rahmen der Wehrpflicht, Frauen auf freiwilliger Basis). Stereotype Umgangsformen und Mobbing gehören jedoch zu jenen Erfahrungen, denen ein queerer Soldat während seines Dienstes ausgesetzt sein kann, wie Forschungsergebnisse des Thinktanks Gender in Detail zeigen.
Je niedriger der Dienstgrad, desto schwieriger das Coming-out
Je niedriger der Dienstgrad von LGBTIQ-Soldat:innen, desto schwieriger ist es für sie, offen mit ihrer sexuellen bzw. Geschlechtsidentität umzugehen. Erschwert wird dies auch durch die von einigen konservativen Meinungsmachern verbreitete Vorstellung, dass LGBTIQ prorussisch seien und nicht dienen sollten. Derzeit sind homophobe Einstellungen in den Streitkräften offenbar weit verbreitet – und das für die moralische und psychologische Unterstützung zuständige Personal scheint nicht in der Lage, LGBTIQ-Personen zu beraten, da es über unzureichende Qualifikationen verfügt und nicht ausreichend Wissen über die spezifischen Probleme der LGBTIQ-Community hat.
Zwar feierte die Transgender-Community im Jahr 2023 die Ernennung der US-amerikanischen Transgender-Freiwilligen Sarah Ashton-Cirillo zur Sprecherin der ukrainischen Territorialen Verteidigungsstreitkräfte, aber reicht dieser positive Schritt nicht aus.
„LGBT-Militär für gleiche Rechte“
Während sich die meisten LGBTIQ-Organisationen aktuell auf die Leistung von humanitärer Hilfe für die Community und andere Formen der direkten Unterstützung konzentrieren, ist die wichtigste öffentliche Verfechterin von LGBTIQ-Rechten in der Ukraine mittlerweile eine Vereinigung, die aus Armeeangehörigen besteht und sich „Ukrainisches LGBT-Militär für gleiche Rechte“ nennt.
Der Leiter der 2018 gegründeten Organisation Wiktor Pylypenko hatte im Gründungsjahr als Armeefreiwillige sein Coming-out und wurde daraufhin innerhalb der Community ein Mentor für all jene, die sowohl nach Anerkennung ihrer sexuellen bzw. Geschlechtsidentität als auch ihres militärischen Engagements streben. Jener Zusammenschluss ukrainischer Armeeangehöriger besteht derzeit aus über 300 Soldat:innen sowie Veteran:innen aus mehr als 50 Einheiten, leistet Lobbyarbeit, dient als militärisches Versorgungszentrum und als Safe Space. LGBTIQ-Personen formen gemeinsam mit Cis-Heterosexuellen bzw. Personen, die keiner geschlechtlichen oder sexuellen Minderheit angehören, die Konturen des ukrainischen Sieges.
Einige von ihnen, wie Artur Snitkus, werden diesen Sieg jedoch nicht miterleben.
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