Who is Mr. Selen­skyj – und wer sind seine Herausforderer?

© Shut­ter­stock

Mitt­ler­weile ist Prä­si­dent Selen­skyj ein halbes Jahr im Amt. Erste Reform­pro­jekte, wie bei­spiels­weise die Boden­markt­re­form und die Zuge­ständ­nisse zur Umset­zung der Stein­meier-Formel sorgten bereits für große Pro­teste auf den Straßen Kyjiws. Doch noch immer fällt es vielen Bürgern und Exper­ten schwer zu ver­ste­hen, wer Wolo­dymyr Selen­skyj wirk­lich ist und wo er das Land hin­füh­ren möchte. Der Jour­na­list und frühere Rada-Abge­ord­nete Serhiy Lesh­chenko mit einer Analyse.

Die neuen poli­ti­schen Rea­li­tä­ten in der Ukraine bergen Risiken, aber auch bei­spiel­lose Mög­lich­kei­ten. Für ein Land, das fast 30 Jahre seiner Geschichte zwi­schen ver­lo­re­nen Chancen und schmerz­haf­ten Kom­pro­mis­sen lavierte, tut sich erst­mals seit der Erlan­gung der Unab­hän­gig­keit die Mög­lich­keit zur schnel­len Umset­zung unpo­pu­lä­rer Refor­men auf. Die hierfür not­wen­dige Kon­so­li­die­rung der Macht hat als Ergeb­nis einer demo­kra­ti­schen Wil­lens­äu­ße­rung an den Wahl­ur­nen statt­ge­fun­den, nicht etwa mittels Usur­pa­tion der Macht mit Hilfe des Poli­zei­ap­pa­rats oder Wählerbestechung

Dabei mar­kiert die Wahl von Wolo­dymyr Selen­skyj zum Prä­si­den­ten den Anbruch einer bei­spiel­lo­sen Erneue­rung in der ukrai­ni­schen Politik und hat eine Gene­ra­tion von 30- bis 40-jäh­ri­gen Mana­gern an die Schalt­he­bel der Macht gebracht, von denen sich viele zuvor im pri­va­ten Sektor ver­wirk­lich­ten. Oder sie wollten in den alten Macht­kon­fi­gu­ra­tion nicht bloß die Rollen von Sta­tis­ten spielen.

Für eine umfas­sen­dere Antwort auf die Frage „Who is Mr. Selen­skyj?“ muss man zunächst ver­ste­hen, dass die tra­di­tio­nel­len Regeln der Politik, wie sie in den meisten euro­päi­schen Ländern funk­tio­nie­ren, in der Ukraine nicht gelten.

Prä­si­dent Selenskyj

Wolo­dymyr Selen­skyj, der im Alter von 41 Jahren mit dem bei­spiel­lo­sen Ergeb­nis von 73 % zum Prä­si­den­ten der Ukraine gewählt wurde, ist ein Neuling in der poli­ti­schen Arena. Er erfreut sich dank seines schau­spie­le­ri­schen Schaf­fens nicht nur in der Ukraine, sondern im ganzen post­so­wje­ti­schen Raum einer gewal­ti­gen Bekannt­heit. Sein Sieg und sein unkon­ven­tio­nel­les Ver­hal­ten in der Politik können dazu führen, dass er in den Ländern der ehe­ma­li­gen Sowjet­union Wla­di­mir Putin Kon­kur­renz als belieb­tes­tem Poli­ti­ker macht.

Die Tat­sa­che, dass Selen­skyj den Weg ins Prä­si­den­ten­amt von der Bühne aus gegan­gen ist, findet auch in dem poli­ti­schen Team Nie­der­schlag, das diesen Weg mit ihm gegan­gen ist, und im Cha­rak­ter der Bezie­hun­gen inner­halb dieses Teams.

Erstens hat Selen­skyj keine poli­ti­sche Erfah­rung. Des­we­gen können die Men­schen, die mit ihm den Kampf um das Prä­si­den­ten­amt bestrit­ten haben, für lange Zeit einen hohen Ein­fluss auf ihn behal­ten. Außer­dem ist der enge Kreis des Prä­si­den­ten sehr klein, da dieser keine Erfah­rung damit hat, in der Politik ver­trau­ens­volle Bezie­hun­gen zu knüpfen. Dass neue Leute schnell in diesem Kreis auf­ge­nom­men werden, ist daher ziem­lich unwahr­schein­lich. West­li­che Partner oder Beob­ach­ter sollten das ver­ste­hen, wenn sie ihre Unzu­frie­den­heit mit der Anwe­sen­heit bestimm­ter Per­so­nen in  Selen­skyjs Umfeld äußern – wie etwa mit dem Leiter des Prä­si­di­al­bü­ros, Andrei Bohdan.

Zwei­tens lässt sich Selen­skyj von Fach­leu­ten beraten, sowohl von Mit­glie­dern seines Teams als auch von aus­wär­ti­gen. Selen­skyjs Rolle bei diesen Gesprä­chen ist die eines Mode­ra­tors. Zudem neigt er dazu, Ent­schei­dun­gen und Ver­ant­wor­tung an eines der Mit­glie­der seines Teams zu dele­gie­ren. Dieser Füh­rungs­stil unter­schei­det sich radikal von dem, wie Selen­skyjs Vor­gän­ger Petro Poro­schenko die Ukraine regiert hat. Poro­schenko war von seinen eigenen Erfah­run­gen über­zeugt und hielt sich für den besten Spe­zia­lis­ten in allen Fragen, vom Ban­ken­sek­tor bis zur Landesverteidigung.

Drit­tens ist Selen­skyj, der mit abso­lu­ter Macht aus­ge­stat­tet ist, auch ein halbes Jahr nach seiner Wahl ins Prä­si­den­ten­amt noch nicht durch ille­gale Berei­che­rung im Amt oder Schaf­fung kor­rup­ter Schemen auf­ge­fal­len. Er hatte aus­rei­chende Voll­mach­ten, um mit der Kon­ver­tie­rung seiner Macht in Geld zu begin­nen, doch es gibt bis heute kei­ner­lei Beweise für die Exis­tenz der­ar­ti­ger Schemen.

Vier­tens hat Selen­skyj gewisse mora­li­sche Ver­pflich­tun­gen gegen­über den Men­schen, die ihm in kri­ti­schen Momen­ten seiner poli­ti­schen Kar­riere gehol­fen haben. Des­we­gen ist er bereit, seinem engsten Kreis auch offen­kun­dige Miss­erfolge und Fehler zu ver­zei­hen. Doch gleich­zei­tig fällt es ihm schwer, per­sön­li­che Angriffe oder Belei­di­gun­gen zu ver­zei­hen. Dabei hält Selen­skyj sein Wort. Bemer­kens­wert ist das Bei­spiel des Gene­ral­staats­an­walts. Dieses Amt ver­sprach Selen­skyj bereits im März 2019 einem der bekann­tes­ten Anti­kor­rup­ti­ons­exper­ten, Ruslan Ria­boschapka. Fünf Monate später wurde dieser zum Gene­ral­staats­an­walt ernannt, unge­ach­tet dessen, dass sein Vor­gän­ger nicht beson­ders gewillt war, das Amt abzugeben.

Das Par­la­ment

Die Par­la­ments­wah­len 2019 führten zu einer bei­spiel­lo­sen Erneue­rung bei der Zusam­men­set­zung des Wer­chowna Rada in Bezug auf Alter und Geschlecht, aber auch was die Wert­vor­stel­lun­gen der Abge­ord­ne­ten angeht. Zum ersten Mal hat sich ein Mehr­heits­mo­no­pol aus­ge­bil­det, das in der Mitte ver­or­tet werden kann, während die radi­ka­len Lager an beiden Polen mit ihren Ergeb­nis­sen unzu­frie­den sind. So haben es die natio­na­lis­ti­schen Kräfte nicht ins Par­la­ment geschafft, und die offen pro­rus­si­sche Partei „Sa Schyt­tia“ („Auf das Leben“) unter Leitung von Viktor Med­wedt­schuk, der fami­liäre Bin­dun­gen zu Prä­si­dent Putin hat, ist deut­lich schwä­cher ver­tre­ten als erwartet.

Das Mehr­heits­mo­no­pol führt vorerst zum Wegfall der Not­wen­dig­keit, die Stimmen von Abge­ord­ne­ten­grup­pen mit kor­rup­ten Beweg­grün­den zu gewin­nen. Anders als Selen­skyj mussten seine Amts­vor­gän­ger Poro­schenko, Janu­ko­wytsch, Juscht­schenko und Kut­schma die Unter­stüt­zung für ihre Vor­ha­ben erkau­fen, sei es mit Staats­auf­trä­gen für Par­la­ments­ab­ge­ord­nete oder mit ihnen befreun­dete Auf­trag­neh­mer, aber auch mit lukra­ti­ven Posten und der­glei­chen Privilegien.

Der Ver­trau­ens­vor­schuss, den Selen­skyj bei der Gesell­schaft genießt, erlaubte es ihm, wenig bekannte Abge­ord­nete ins Par­la­ment zu bringen. Die Ziel­set­zung war dabei, folg­same Abge­ord­ne­ten zu haben und den Prozess der Ver­ab­schie­dung von Geset­zen besser vom Prä­si­di­al­amt aus steuern zu können. Doch schon bald nach den Wahlen wurde offen­kun­dig, dass sich die Erwar­tun­gen nicht erfül­len sollten. Bereits zwei Monate, nachdem das Par­la­ment seine Arbeit auf­ge­nom­men hatte, gab es mehrere Vor­komm­nisse, bei denen Geset­zes­in­itia­ti­ven durch­fie­len, weil sich ein Teil der Abge­ord­ne­ten von „Diener des Volkes“ wei­ger­ten, für die Reform­vor­ha­ben zu stimmen. In Zukunft sollte daher der Kreis der poli­ti­schen Partner des Prä­si­den­ten ver­grö­ßert und der Prozess inklu­si­ver gestal­tet werden.

Die Regie­rung

Ent­spre­chend den Wahl­er­geb­nis­sen bildete Selen­skyj eine reform­ori­en­tierte Regie­rung, die damit begann, die staat­li­che Politik gleich­zei­tig in mehrere Rich­tun­gen umzu­bauen. Es ist bis heute die jüngste Regie­rung in Europa. Man kann das Kabi­nett auch als das libe­ralste von allen bezeich­nen, die es jemals in der Ukraine gab. Das Kabi­nett hat sich sogar zur Öffnung des Boden­markts in der Ukraine durch­ge­run­gen, was jahr­zehn­te­lang ein Tabu­thema für alle Poli­ti­ker war – sogar für die, die sich als Refor­ma­to­ren positionierten.

Eine Beson­der­heit der Arbeit des neuen Par­la­ments und der neuen Regie­rung ist das soge­nannte „Tur­bo­re­gime“. Mit seiner Hilfe kann in kür­zes­ter Zeit mit ver­ein­fach­ten Ver­fah­ren über eine maxi­male Anzahl von Fragen ent­schie­den werden, bei denen mit dem Wider­stand der alten Eliten zu rechnen ist. Die Anwen­dung des Tur­bo­re­gimes erlaubte es, eine Reihe von Beschlüs­sen durchs Par­la­ment zu bringen, die man sich zu Poro­schen­kos Zeiten nicht einmal erhof­fen konnte – wie etwa die Auf­he­bung der Immu­ni­tät der Abge­ord­ne­ten, die Stär­kung des Natio­na­len Anti­kor­rup­ti­ons­bü­ros durch Ver­lei­hung auto­no­mer Abhör­rechte, den Neu­start der Gene­ral­staats­an­walt­schaft und die Abschaf­fung zahl­rei­cher Genehmigungspflichten.

Die Staats­an­walt­schaft

Es hält sich die ste­reo­type und falsche Meinung, Prä­si­dent Selen­skyj sei eine Mario­nette des Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj. Nicht zu bestrei­ten ist, dass Kolo­mo­js­kyj bei diesen Wahlen auf Selen­skyj gesetzt hat, gelei­tet von dem Ver­lan­gen nach Rache an dem ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten Poro­schenko. Aller­dings ist auch offen­sicht­lich, dass der Olig­arch ein halbes Jahr nach dem Macht­wech­sel in der Ukraine keines der gewünsch­ten Zuge­ständ­nisse erhal­ten hat. Mehr noch, der Kon­flikt zwi­schen dem Team des Gene­ral­staats­an­walts Ruslan Ria­boschapka und der Gruppe um Ihor Kolo­mo­js­kyj hat an Schärfe gewonnen.

Ria­boschapka hat, wie der erste Monat seiner Tätig­keit im Amt gezeigt hat, eine ziem­lich große Unab­hän­gig­keit erlangt – ent­ge­gen allen Erwar­tun­gen, immer­hin war er vor seiner Ernen­nung Bohdans Stell­ver­tre­ter und hatte vor den Prä­si­den­ten­wah­len mit Selen­skyj gearbeitet.

Ria­boschapka hat die Füh­rungs­ebene der Gene­ral­staats­an­walt­schaft von den dis­kre­di­tier­ten Kan­di­da­ten der alten Regie­rung gesäu­bert und eine umfas­sende Über­prü­fung aller Mit­ar­bei­ter der Staats­an­walt­schaft in Gang gesetzt. Dabei hat Ria­boschapka darauf ver­zich­tet, die Periode, inner­halb derer die Staats­an­walt­schaft Ermitt­lun­gen durch­füh­ren kann, zu ver­län­gern, und somit frei­wil­lig einen Teil seines Ein­flus­ses aufgegeben.

Außer­dem hat sich Ria­boschapka dem Spiel von Leuten außer­halb des Systems ent­zo­gen, die ver­such­ten, Ermitt­lun­gen hinter seinem Rücken zu steuern. Es gelang ihm, Men­schen von hoher Repu­ta­tion, die nicht in kor­rupte Skan­dale ver­wi­ckelt sind, zu seinen Stell­ver­tre­tern zu machen, und er hat sich keine Stell­ver­tre­ter auf­drän­gen lassen. Dies spricht dafür, dass Ria­boschapka das volle Ver­trauen von Prä­si­dent Selen­skyj genießt. Fol­ge­rich­tig kam es zu koor­di­nier­ten Angrif­fen auf Ria­boschapka aus dem Umfeld Kolo­mo­js­kyjs, die in direk­ten Rück­tritts­for­de­run­gen gipfelten.

Die Erfolge Ria­boschap­kas stechen beson­ders ange­nehm heraus vor dem Hin­ter­grund der Abwe­sen­heit jeg­li­chen Fort­schritts bei der Reform des SBU – des ukrai­ni­schen Sicher­heits­diens­tes, dessen Repu­ta­tion während der Regie­rung des bis­he­ri­gen Prä­si­den­ten Poro­schenko schwer unter Ver­wick­lun­gen in Busi­ness-Kon­flikte, Raider-Angriffe und poli­ti­sche Ver­fol­gun­gen gelit­ten hat.

Die Oppo­si­tion

Selen­skyj steht augen­blick­lich eine polare Oppo­si­tion gegen­über – auf der einen Seite die Natio­na­lis­ten und der ehe­ma­li­gen Prä­si­dent Poro­schenko, die am äußeren rechten Flügel kon­kur­rie­ren, und auf der anderen Seite die pro­rus­si­schen Kräfte unter Viktor Medwedtschuk.

In Kyjiw gab es mehrere Kund­ge­bun­gen von Gegnern Selen­skyjs. Bei den Pro­tes­ten ging es um die Ableh­nung des Stein­meier-Plans, des Trup­pen­ab­zugs und der Durch­füh­rung von Wahlen in den besetz­ten Gebieten.

Diese Pro­teste sind unter anderem auch Aus­druck des Kampfes um die Führung im großen Wäh­ler­seg­ment der rechten, natio­na­lis­ti­schen Kräfte, sowie um die Wähler in der Stadt Kyjiw. De facto gibt es inner­halb der pro­tes­tie­ren­den Massen drei Gruppen.

  1. Poro­schen­kos Mit­strei­ter, seine Anhän­ger, als deren Sprach­rohr der TV-Kanal „Priamyj“ auf­tritt. Dieser Kanal ist in der Nische der Infor­ma­ti­ons­ka­näle führend.
  2. Natio­na­lis­ten. Hier bekämp­fen sich Biletskyj (Partei „Natio­na­ler Korpus“) und Swoboda. Da der Anfüh­rer von Swoboda (Tiahny­bok) dis­kre­di­tiert ist, ist dies die Chance für Biletskyj, seine Wäh­ler­ba­sis auszubauen.
  3. Kyjiwer Bürger, deren Hobby es ist, Fehl­schläge in allem zu suchen, was die Regie­rung tut, und andere Leute, die Selen­skyj nicht mögen.

Bezeich­nend ist, dass einer der Anfüh­rer der Pro­teste – Biletskyj – von Medien gepusht wird, die mit Viktor Med­wedt­schuk in Ver­bin­dung stehen – zum Bei­spiel dem Kanal ZIK. Was Med­wedt­schuk inter­es­siert, ist offen­sicht­lich – seine Stärke ist es, die ukrai­ni­sche Gesell­schaft zu pola­ri­sie­ren. Je stärker die Rechts­na­tio­na­lis­ten sind, desto mehr Anlass haben die pro­rus­si­schen Kräfte zu Hys­te­rie und zur Samm­lung ihres Elek­to­rats ange­sichts der Bedro­hung durch die „Ban­de­rowtsy“.

All dies sind Risiken für Selen­skyj und seinen Reform­plan. Gerät das Schiff ins Schwan­ken, kann sich der Zusam­men­halt um Selen­skyj ver­flüch­ti­gen. Kurz gesagt – das Fenster für echte Refor­men könnte sich für Prä­si­dent Selen­skyj und für die ukrai­ni­sche Gesell­schaft schnel­ler schlie­ßen als gedacht.

Portrait von Serhiy Leshchenko

Serhiy Lesh­chenko ist ein ukrai­ni­scher Jour­na­list, Poli­ti­ker und Akti­vist, ehe­ma­li­ger Abge­ord­ne­ter der Wer­chowna Rada (8. Legis­la­tur­pe­ri­ode). Derzeit schreibt er für die Kyiv Post. 

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