Wie die Ukraine gewin­nen wird

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Der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba erklärt in seinem Gast­bei­trag, was die Vor­aus­set­zun­gen für einen ukrai­ni­schen Sieg sind und appel­liert an den Westen, sein Land nicht allein zu lassen.

Während sich der rus­si­sche Angriffs­krieg in der Ukraine den vierten Monat in Folge hin­zieht, werden die Rufe nach gefähr­li­chen Geschäf­ten Abkom­men immer lauter. Während die Müdig­keit wächst und die Auf­merk­sam­keit abschweift, schla­gen immer mehr Kreml-nahe Kom­men­ta­to­ren vor, die Ukraine um des Frie­dens und der wirt­schaft­li­chen Sta­bi­li­tät in ihren eigenen Ländern willen zu ver­kau­fen. Auch wenn sie sich als Pazi­fis­ten oder Rea­lis­ten aus­ge­ben, sind sie viel mehr Weg­be­rei­ter des rus­si­schen Impe­ria­lis­mus und der Kriegsverbrechen.

Es ist nur normal, dass Men­schen und Regie­run­gen das Inter­esse an Kon­flik­ten ver­lie­ren, je länger sie sich hin­zie­hen. Das ist ein Prozess, der sich im Laufe der Geschichte schon oft abge­spielt hat. Die Welt hörte auf, dem Krieg in Libyen Auf­merk­sam­keit zu schen­ken, nachdem der ehe­ma­lige Staats­chef Muammar al-Qaddafi 2011 gestürzt worden war. Sie hat sich von Syrien, Jemen und anderen Kon­flik­ten, die einst für Schlag­zei­len sorgten, abge­wen­det. Und wie ich sehr wohl weiß, verlor der Rest der Welt nach 2015 das Inter­esse an der Ukraine, selbst als wir wei­ter­hin gegen die rus­si­schen Streit­kräfte um die Kon­trolle über den öst­li­chen Teil des Landes kämpften.

Doch Russ­lands der­zei­tige Inva­sion ist schwer­wie­gen­der als die ver­gan­gene und die Welt kann es sich nicht leisten, sich abzu­wen­den. Denn der rus­si­sche Prä­si­dent Wla­di­mir Putin will nicht nur wei­te­res ukrai­ni­sches Ter­ri­to­rium erobern. Seine Ambi­tio­nen beschrän­ken sich nicht einmal darauf, die Kon­trolle über das gesamte Land zu erlan­gen. Er will die ukrai­ni­sche Natio­na­li­tät aus­höh­len und unser Volk von der Land­karte tilgen, indem er uns abschlach­tet und die Merk­male unserer Iden­ti­tät zer­stört. Mit anderen Worten: Er betreibt einen Völkermord.

Ein exis­ten­ti­el­ler Krieg

Um zu ver­mei­den, dass der Westen des Krieges über­drüs­sig wird und auf irre­füh­rende Erzäh­lun­gen her­ein­fällt, muss er genau ver­ste­hen, wie die Ukraine gewin­nen kann – und uns dann ent­spre­chend unter­stüt­zen. Dieser Krieg ist exis­ten­zi­ell. Wir sind moti­viert zu kämpfen. Richtig bewaff­net können unsere Streit­kräfte Putins Truppen, die bereits erschöpft sind, bis an die Grenze der Belast­bar­keit bringen. Wir können die rus­si­schen Streit­kräfte sowohl im Süden als auch im Osten der Ukraine angrei­fen und Putin unter Druck setzen, damit er sich ent­schei­den muss, welche seiner Errun­gen­schaf­ten er schüt­zen will.

Um erfolg­reich zu sein, müssen die Ver­ei­nig­ten Staaten und ihre euro­päi­schen Ver­bün­de­ten unser Land jedoch rasch mit einer ange­mes­se­nen Anzahl moder­ner schwe­rer Waffen ver­sor­gen. Außer­dem müssen sie die Sank­tio­nen gegen Russ­land auf­recht­erhal­ten und ver­schär­fen. Und vor allem müssen sie For­de­run­gen nach einer diplo­ma­ti­schen Eini­gung igno­rie­ren. Einer Eini­gung, die Putin helfen würde, bevor er ernst­hafte Zuge­ständ­nisse macht.

Ein Kom­pro­miss mit Russ­land mag einigen im Ausland ver­lo­ckend erschei­nen, vor allem, wenn die Kosten des Krieges steigen, aber ein Nach­ge­ben gegen­über Putins Aggres­sion wird ihm helfen, mehr von unserer Nation zu zer­stö­ren, seine Regie­rung zu ermu­ti­gen, Angriffe in anderen Teilen der Welt durch­zu­füh­ren und ihm erlau­ben, die Regeln der glo­ba­len Ordnung neu zu schrei­ben. Wenn es uns gelingt, die rus­si­schen Truppen weit genug zurück­zu­drän­gen, könnte Putin gezwun­gen sein, sich an den Ver­hand­lungs­tisch zu setzen und in gutem Glauben zu handeln. Doch um dieses Ziel zu errei­chen, muss der Westen gedul­dig auf ein Ergeb­nis hin­ar­bei­ten: einen voll­stän­di­gen und totalen Sieg der Ukraine.

Schlechte Rat­schläge

Seitdem die rus­si­schen Streit­kräfte über die ukrai­ni­schen Grenzen vor­ge­drun­gen sind, haben einige west­li­che Kom­men­ta­to­ren zu einem Kom­pro­miss mit Moskau auf­ge­ru­fen. Wir sind an diese Art von Vor­schlä­gen gewöhnt und haben sie zwi­schen 2014 und 2022 oft gehört. Doch der heutige Krieg unter­schei­det sich von dem Krieg, der vor Februar tobte. In den letzten Wochen kamen diese For­de­run­gen auch von pro­mi­nen­ten außen­po­li­ti­schen Eliten. Anfang Juni sagte der fran­zö­si­sche Prä­si­dent Emma­nuel Macron vor Jour­na­lis­ten, der Westen dürfe Russ­land „nicht demü­ti­gen“, um dem Land eine „Aus­stiegs­rampe“ zu bauen und den Krieg zu beenden. Der ehe­ma­lige US-Außen­mi­nis­ter Henry Kis­sin­ger ging in seiner Rede vor dem Welt­wirt­schafts­fo­rum im Mai noch weiter und for­derte, die Ukraine solle im Gegen­zug für den Frieden Ter­ri­to­rium an Russ­land abtreten.

Diese Erklä­run­gen beruhen auf der Vor­stel­lung, dass die Ukrai­ner, egal wie gut sie kämpfen, die Mos­kauer Streit­kräfte nicht besie­gen können. Doch diese Vor­stel­lung ist falsch. Die Ukraine hat ihre Stärke bewie­sen, indem sie in den Schlach­ten von Tscher­ni­hiw, Charkiw, Kyjiw und Sumy wich­tige Siege errun­gen hat und Putins Blitz­krieg spek­ta­ku­lär schei­tern ließ. Der Sieg in diesen Kämpfen hatte für die Ukrai­ner einen hohen Preis, aber wir haben ver­stan­den, dass der Preis für eine Nie­der­lage noch viel, viel höher gewesen wäre. Wir wissen, was ein rus­si­scher Sieg für unsere Dörfer und Städte bedeu­tet. Schauen Sie sich nur Butscha an, wo Hun­derte von Ukrai­nern im März von rus­si­schen Besat­zungs­trup­pen brutal abge­schlach­tet wurden.

Leider bedeu­tet Putins kranker Impe­ria­lis­mus, dass Moskau trotz der scho­ckie­rend hohen Kosten wei­ter­hin am Krieg fest­hält. Russ­land hat bereits dreimal so viele Sol­da­ten ver­lo­ren wie die Sowjet­union in zehn Jahren in Afgha­ni­stan, aber es opfert wei­ter­hin seine Truppen bei dem Versuch, die öst­li­chen Pro­vin­zen Donezk und Luhansk (zusam­men als Donbas bekannt) zu erobern und die Kon­trolle über den Süden der Ukraine zu behal­ten. Die Zahl der Toten könnte bald über Russ­land, die Ukraine und sogar Europa hin­aus­ge­hen. Indem er ukrai­ni­sches Getreide blo­ckiert, um eine Auf­he­bung der Sank­tio­nen zu erzwin­gen, könnte Putin Hun­gers­nöte in den Ent­wick­lungs­län­dern auslösen.

Totaler Terror

Trotz des Blut­ba­des scheint der rus­si­sche Prä­si­dent gut gelaunt zu sein. Füh­ren­den Poli­ti­kern zufolge, die kürz­lich mit Putin gespro­chen haben, ist er sich sicher, dass seine „Spe­zi­al­ope­ra­tion“, wie er einem euro­päi­schen Staats­ober­haupt gesagt haben soll, „ihre Ziele errei­chen wird“. Es ist nicht schwer zu ver­ste­hen, warum: Die rus­si­schen Angrei­fer konnten im Donbass nur durch totalen Artil­le­rie­ter­ror vor­an­kom­men. Putin hat begon­nen, sich mit Peter dem Großen zu ver­glei­chen – viel­leicht dem berühm­tes­ten Erobe­rer des Rus­si­schen Reiches. Das ist eine bedroh­li­che Aussage, die darauf hin­deu­tet, dass Putin sich nicht mit der Kon­trolle über den Donbass oder die gesamte Ukraine zufrie­den geben wird.

Der wirk­samste Weg, Putins Expan­si­ons­drang zu beenden, besteht natür­lich darin, ihn in der Ost­ukraine zu stoppen, bevor er weiter gehen kann und seine Besat­zungs­trup­pen aus der Süd­ukraine, die er zu annek­tie­ren plant, zu ver­trei­ben. Dazu muss die Ukraine dabei unter­stützt werden, Putin auf ihrem eigenen Schlacht­feld zu besie­gen. Die Regie­rung von US-Prä­si­dent Joe Biden hat einige bahn­bre­chende Ent­schei­dun­gen getrof­fen, die uns bei der Bewäl­ti­gung dieser Aufgabe helfen können, dar­un­ter ein his­to­ri­sches neues Leih­pro­gramm, das es den Ver­ei­nig­ten Staaten erleich­tert, die Ukraine mit Waffen zu versorgen.

Auf Bitten des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj hin haben die Ver­ei­nig­ten Staaten im Mai beschlos­sen, uns auch vier Mehr­fach­ra­ke­ten zu liefern. Mein Amts­kol­lege und Freund, US-Außen­mi­nis­ter Antony Blinken, war eng in die Aus­ar­bei­tung dieser Schritte ein­ge­bun­den und die mili­tä­ri­sche Führung der Ukraine stand in regem Kontakt mit US-Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Lloyd Austin. Auch General Mark Milley, der Vor­sit­zende der US-Stabs­chefs, hat unsere Sache sehr unterstützt.

Mehr Waffen

Diese Unter­stüt­zung war ein ent­schei­den­der erster Schritt, für den wir sehr dankbar sind. Dennoch hätten wir uns gewünscht, dass sie viel früher geleis­tet worden wäre. Und sie ist immer noch zu gering. Jetzt ist es an der Zeit, poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen in echte, wirk­same Maß­nah­men umzu­set­zen. Die rus­si­sche Artil­le­rie ist der unseren an den wich­tigs­ten Stellen der Front­li­nie um eins zu 15 über­le­gen, sodass ein paar US-Rake­ten­sys­teme nicht annä­hernd aus­rei­chen werden, um die Ober­hand zu gewin­nen. Wir brau­chen drin­gend mehr schwere Waffen aus ver­schie­de­nen Quellen, um das Blatt zu unseren Gunsten zu wenden und Leben zu retten. Am drin­gends­ten benö­ti­gen wir Hun­derte von Mehr­fach­ra­ke­ten und ver­schie­dene 155-mm-Artil­le­rie­ge­schütze. Diese Waffen würden es uns ermög­li­chen, das rus­si­sche Artil­le­rie­feuer zu unter­drü­cken. Aber das Abhal­ten der Artil­le­rie ist nicht das einzige Anlie­gen der Ukraine. Wir brau­chen auch Schiffs­ab­wehr­ra­ke­ten, Panzer, gepan­zerte Fahr­zeuge, Luft­ab­wehr und Kampf­flug­zeuge, um einen wirk­sa­men Gegen­an­griff starten zu können.

Seit Beginn der Inva­sion hat die Ukraine wie­der­holt ver­sucht, eine diplo­ma­ti­sche Lösung mit Russ­land zu finden. Putin lehnt jedoch sinn­volle Gesprä­che ab, weil er damit rechnet, dass die Unter­stüt­zung des Westens für die Ukraine mit fort­schrei­ten­dem Krieg schwin­den wird. Es ist ganz natür­lich, dass man sich nach einem mona­te­lan­gen Krieg erschöpft fühlt. Aber Russ­lands Krieg ist von völ­ker­mör­de­ri­schen Absich­ten getrie­ben und deshalb können die Ukraine und der gesamte Westen den rus­si­schen For­de­run­gen einfach nicht zustim­men. Wie Putin zwei Tage vor dem Ein­marsch erklärte, ist die Exis­tenz der Ukraine selbst ein Fehler – die Sowjet­union habe die Ukraine „erschaf­fen“, indem sie bei­läu­fig Grenzen auf einer Land­karte gezogen habe, und unser Land müsse aus­ge­löscht werden. Seiner Ansicht nach können die Ukrai­ner ent­we­der Russen werden oder sterben.

Putin hat dieses Ver­spre­chen ein­ge­löst. Nach der Erobe­rung des Ter­ri­to­ri­ums haben die rus­si­schen Streit­kräfte die vom Föde­ra­len Sicher­heits­dienst erstell­ten Todes­lis­ten durch­ge­se­hen und an Türen geklopft. Sie haben Men­schen gefol­tert und hin­ge­rich­tet, die die ukrai­ni­sche Sprache und Geschichte lehren, Akti­vis­ten der Zivil­ge­sell­schaft, Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger, ehe­ma­lige ukrai­ni­sche Sol­da­ten, Ver­tre­ter der lokalen Behör­den und viele andere. Sie haben Stra­ßen­schil­der von Ukrai­nisch auf Rus­sisch umge­stellt, ukrai­ni­sche Denk­mä­ler zer­stört, das ukrai­ni­sche Fern­se­hen ver­bo­ten und den Gebrauch der ukrai­ni­schen Sprache in Schulen untersagt.

Vom Hass nicht überrascht

Wir in der Ukraine sind von dieser bru­ta­len Kam­pa­gne nicht über­rascht. Wir kennen Russ­land sehr gut und haben jahr­hun­der­te­lang beob­ach­tet, wie rus­si­sche Intel­lek­tu­elle und staat­lich kon­trol­lierte Medien den Hass auf unser Land schür­ten. Wir haben auch gesehen, wie Moskaus Feind­se­lig­keit über unsere Grenzen hin­aus­geht. Die rus­si­schen Medien ver­ur­tei­len rou­ti­ne­mä­ßig andere Nach­bar­staa­ten, den Westen im All­ge­mei­nen und eine Viel­zahl von Min­der­hei­ten­grup­pen, dar­un­ter Juden und LGBTQ-Per­so­nen. Die rus­si­sche poli­ti­sche Elite hegt eine all­ge­meine, tief­sit­zende Abnei­gung gegen andere.

Dieser Hass ist ein wei­te­rer Grund, warum es sich der Westen nicht leisten kann, die weiße Fahne zu schwen­ken. Ein rus­si­scher mili­tä­ri­scher Sieg würde nicht nur die Fol­te­rung, Ver­ge­wal­ti­gung und Ermor­dung von vielen wei­te­ren Tau­sen­den unschul­di­ger Ukrai­ner ermög­li­chen. Er würde auch die libe­ra­len Werte unter­gra­ben. Er würde Russ­land die Mög­lich­keit geben, Mit­tel­eu­ropa zu bedro­hen. In der Tat würde er Russ­land erlau­ben, die west­li­che Welt ins­ge­samt zu bedro­hen. Es gibt nichts Gefähr­li­che­res für die Euro­päi­sche Union und die NATO, als ein ermu­tig­tes Russ­land oder pro­rus­si­sche Stell­ver­tre­ter­staa­ten an wei­te­ren öst­li­chen Grenzen zu haben.

Zum Glück für Europa und die Ver­ei­nig­ten Staaten kämpft die Ukraine gegen diese dunkle Macht, und sie ist moti­viert, dies so lange zu tun, bis sie gewinnt. Aber wir können nicht allein erfolg­reich sein. Der Westen muss sich über den Einsatz und die Folgen unseres Schei­terns im Klaren sein. Wenn wir ver­lie­ren, wird es nicht nur keine Ukraine mehr geben, sondern auch keinen Wohl­stand und keine Sicher­heit in Europa.

Unrea­lis­ti­sche Vorschläge

Es ist unrea­lis­tisch vor­zu­schla­gen, dass die Ukraine ihr Volk, ihr Ter­ri­to­rium und ihre Sou­ve­rä­ni­tät im Aus­tausch für einen nomi­nel­len Frieden opfert. Diese jüngs­ten Aufrufe zu einem Kom­pro­miss sind ledig­lich ein Neben­pro­dukt einer wach­sen­den Müdig­keit. Ich habe mit einer Reihe von Ent­schei­dungs­trä­gern in afri­ka­ni­schen, ara­bi­schen und asia­ti­schen Staaten gespro­chen. Einige von ihnen began­nen unsere Gesprä­che, indem sie ihre Unter­stüt­zung für unsere Sache bekräf­tig­ten, bevor sie eine harte Kehrt­wende machten und höflich vor­schlu­gen, dass wir einfach auf­hö­ren sollten, Wider­stand zu leisten.

Das ist ein undenk­ba­rer Vor­schlag, aber ihre Argu­men­ta­tion ist einfach: Sie wollen das Getreide, das durch die rus­si­sche See­blo­ckade in unseren Häfen fest­sitzt, und sie sind bereit, die ukrai­ni­sche Unab­hän­gig­keit zu opfern, um es zu bekom­men. Andere poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger, die mit Zuge­ständ­nis­sen hau­sie­ren gehen, haben ihre Besorg­nis über ähn­li­che, von Russ­land aus­ge­löste Wirt­schafts­kri­sen zum Aus­druck gebracht, ein­schließ­lich der stei­gen­den Infla­tion und Energiepreise.

Doch obwohl die stei­gen­den Lebens­mit­tel- und Ener­gie­kos­ten ein ernstes Problem dar­stel­len, ist ein Nach­ge­ben gegen­über Moskau keine Lösung – nicht nur wegen der Folgen für die Ukrai­ner. Russ­land ist ein revan­chis­ti­sches Land, das die ganze Welt mit Gewalt umge­stal­ten will. Es arbei­tet aktiv an der Desta­bi­li­sie­rung afri­ka­ni­scher, ara­bi­scher und asia­ti­scher Staaten, sowohl durch sein eigenes Militär als auch durch Stell­ver­tre­ter. Diese Kon­flikte haben zu eigenen huma­ni­tä­ren Krisen geführt, die sich im Falle einer Nie­der­lage der Ukraine nur noch ver­schär­fen werden. Ein Sieg würde Putin ermu­ti­gen, noch mehr Unruhen zu schüren und weitere Kata­stro­phen in den Ent­wick­lungs­län­dern zu verursachen.

Kein fal­scher Frieden

Putins zuneh­mende Aggres­sion würde sich nicht auf die Ent­wick­lungs­län­der beschrän­ken. Er würde sich mit mehr Nach­druck in die Politik der USA und Europas ein­mi­schen. Wenn es ihm gelingt, den Süden der Ukraine zu erobern, könnte er tiefer in den Kon­ti­nent ein­drin­gen, indem er in die Repu­blik Moldau ein­mar­schiert, wo rus­si­sche Ver­tre­ter bereits ein Stück des Ter­ri­to­ri­ums kon­trol­lie­ren. Er könnte sogar einen neuen Krieg auf dem west­li­chen Balkan aus­lö­sen, wo die zuneh­mend ver­fein­de­ten ser­bi­schen Eliten in Russ­land Inspi­ra­tion und Unter­stüt­zung suchen.

Der Westen darf daher keine Frie­dens­in­itia­ti­ven mit unan­nehm­ba­ren Bedin­gun­gen vor­schla­gen und muss statt­des­sen der Ukraine zum Sieg ver­hel­fen. Das bedeu­tet nicht nur, die Ukraine mit den schwe­ren Waffen zu ver­sor­gen, die sie braucht, um Moskaus Streit­kräfte abzu­weh­ren, sondern auch die Sank­tio­nen gegen Russ­land auf­recht­zu­er­hal­ten und zu ver­schär­fen. Ent­schei­dend ist, dass der Westen die rus­si­schen Exporte durch ein voll­stän­di­ges Ener­gie­em­bargo und den rus­si­schen Zugang zur inter­na­tio­na­len See­schiff­fahrt unter­bin­det. Der letzt­ge­nannte Schritt mag schwie­rig erschei­nen, ist aber durch­aus rea­li­sier­bar: Russ­lands export­ori­en­tierte Wirt­schaft ist in hohem Maße auf aus­län­di­sche Flotten ange­wie­sen, die seine Waren ins Ausland liefern, und diese Flotten könnten das Land nicht mehr bedienen.

Diese wirt­schaft­li­chen Maß­nah­men sind ent­schei­dend. Die Sank­tio­nen haben die rus­si­sche Wirt­schaft geschwächt und die Fähig­keit des Landes, den Krieg fort­zu­set­zen, beein­träch­tigt. Doch Moskau ist von seiner Ent­schei­dung nach wie vor über­zeugt, sodass sich der Westen keine Sank­ti­ons­mü­dig­keit leisten kann – unge­ach­tet der weit­rei­chen­den wirt­schaft­li­chen Kosten.

Der Weg zum Sieg

Trotz der ersten Erfolge der Ukraine mag es für west­li­che Poli­ti­ker schwie­rig sein, sich vor­zu­stel­len, wie wir Russ­lands größere und besser aus­ge­rüs­tete Streit­kräfte besie­gen können. Aber wir haben einen Weg zum Sieg. Mit aus­rei­chen­der Unter­stüt­zung kann die Ukraine sowohl Russ­lands Vor­marsch stoppen als auch weitere Gebiete zurückerobern.

Im Osten kann die Ukraine mit moder­ne­ren schwe­ren Waffen die Ober­hand gewin­nen, sodass wir Moskaus zer­fal­lende Inva­sion im Donbass all­mäh­lich auf­hal­ten können. (Die Erfolge des Kremls in dieser Region mögen zwar für Schlag­zei­len sorgen, aber man darf nicht ver­ges­sen, dass sie begrenzt sind und zu extrem hohen rus­si­schen Ver­lus­ten geführt haben). Der ent­schei­dende Moment wird kommen, wenn unsere Streit­kräfte die rus­si­sche Artil­le­rie mit vom Westen zur Ver­fü­gung gestell­ten Mehr­fach­ra­ke­ten zer­stö­ren und das Blatt auf der gesam­ten Front­li­nie zuguns­ten der Ukraine wenden. Danach werden unsere Truppen ver­su­chen, Teile des Landes zurück­zu­er­obern und die Russen zum Rückzug zu zwingen.

An der Front im Süden führen die ukrai­ni­schen Streit­kräfte bereits Gegen­an­griffe durch. Wir werden fort­schritt­li­che Waffen ein­set­zen, um die geg­ne­ri­schen Ver­tei­di­gungs­li­nien weiter zu durch­bre­chen. Unser Ziel ist es, die Russen an den Rand der Not­wen­dig­keit zu bringen, Cherson auf­zu­ge­ben – eine Stadt, die für die stra­te­gi­sche Sta­bi­li­tät der Ukraine von zen­tra­ler Bedeu­tung ist. Wenn wir sowohl im Süden als auch im Osten vor­rü­cken, können wir Putin zwingen, sich zwi­schen der Aufgabe süd­li­cher Städte, ein­schließ­lich Cherson und Meli­to­pol und der Aufgabe neu besetz­ter Gebiete in Donezk und Luhansk ent­schei­den zu müssen.

Rückzug aller rus­si­schen Truppen

Wenn dieser Zeit­punkt erreicht ist, wird Putin wahr­schein­lich ernst­haf­tere Waf­fen­still­stands­ver­hand­lun­gen anstre­ben. Unser Ziel ist es nach wie vor, die rus­si­schen Truppen aus der Ukraine zu ver­trei­ben. Wenn wir den Druck auf­recht­erhal­ten, könnte Putin dazu gebracht werden, eine Ver­hand­lungs­lö­sung zu akzep­tie­ren, die den Abzug der rus­si­schen Truppen aus allen besetz­ten Gebie­ten beinhal­tet. Immer­hin hat Putin die rus­si­schen Truppen aus den Gebie­ten rund um Kyjiw abge­zo­gen, nachdem er genug Rück­schläge durch unsere Streit­kräfte hin­neh­men musste. Wenn unser Militär stärker und erfolg­rei­cher wird, wird er gute Gründe haben, dies erneut zu tun.

So wird es bei­spiels­weise leich­ter sein, einen Rückzug als einen Akt des guten Willens vor wei­te­ren Ver­hand­lun­gen dar­zu­stel­len, statt als einen Akt der pein­li­chen Not­wen­dig­keit, wenn er orga­ni­siert und nicht über­stürzt erfolgt. Putin könnte sogar behaup­ten, dass die „Spe­zi­al­ope­ra­tion“ ihr Ziel der Ent­mi­li­ta­ri­sie­rung und Ent­na­zi­fi­zie­rung der Ukraine erfolg­reich erreicht hat – was auch immer das für ihn bedeu­tet. Durch die Ver­öf­fent­li­chung von Bildern zer­stör­ter ukrai­ni­scher Ein­hei­ten und Aus­rüs­tun­gen wird Putins Pro­pa­gan­da­ma­schine die Bot­schaft vom Erfolg unter­mau­ern. Die Pro­pa­ganda kann Putin auch dabei helfen, den Rückzug als Zeichen seiner humanen Behand­lung der rus­si­schen Sol­da­ten und als klugen Schritt in Rich­tung Frieden im All­ge­mei­nen darzustellen.

Bleibt Putin jedoch unnach­gie­big, kann die Ukraine so lange weiter in Luhansk und Donezk vor­rü­cken, bis er bereit ist, in gutem Glauben zu ver­han­deln, oder bis unsere Armee die inter­na­tio­nal aner­kannte Grenze der Ukraine erreicht und sichert. Und unab­hän­gig davon, ob sich die rus­si­schen Truppen zurück­zie­hen wollen oder dazu gezwun­gen werden, kann die Ukraine aus einer Posi­tion der Stärke heraus mit Russ­land spre­chen. Wir können eine faire diplo­ma­ti­sche Lösung mit einem geschwäch­ten und kon­struk­ti­ve­ren Russ­land anstre­ben. Das bedeu­tet letzt­lich, dass Putin gezwun­gen sein wird, die ukrai­ni­schen Bedin­gun­gen zu akzep­tie­ren, auch wenn er dies öffent­lich abstreitet.

Die Angst vor der Demütigung

Einige west­li­che Ent­schei­dungs­trä­ger zögern auch deshalb, der Ukraine zu sehr zu helfen, weil sie Angst davor haben, was Putin tun könnte, wenn er auf dem Schlacht­feld eine emp­find­li­che Nie­der­lage erlei­det. Ihrer Ansicht nach könnte ein wüten­der, iso­lier­ter rus­si­scher Prä­si­dent neue inter­na­tio­nale Aggres­si­ons­kam­pa­gnen starten. Sie befürch­ten, dass er gene­rell gefähr­li­cher und schwie­ri­ger zu hand­ha­ben sein wird. Einige befürch­ten, dass er sogar das gewal­tige Atom­waf­fen­ar­se­nal seines Landes ein­set­zen könnte.

Aber Putin ist nicht selbst­mör­de­risch; ein ukrai­ni­scher Sieg wird nicht zu einem Atom­krieg führen. Der­ar­tige Ängste werden mög­li­cher­weise vom Kreml selbst aus stra­te­gi­schen Gründen bewusst geschürt. Putin ist ein Meister des Gas­light­ing, und ich bin mir sicher, dass die Russen selbst mit der Angst vor einem in die Enge getrie­be­nen Putin hau­sie­ren gehen, um die west­li­che Unter­stüt­zung für die Ukraine zu schwächen.

Die Ver­ei­nig­ten Staaten und Europa sollten darauf nicht her­ein­fal­len. Die Erfah­rung zeigt, dass Putin immer dann, wenn er eine Nie­der­lage ein­ste­cken muss, diese her­un­ter­spielt und ver­heim­licht, anstatt sie zu ver­grö­ßern. Die Anträge Finn­lands und Schwe­dens auf NATO-Mit­glied­schaft waren bei­spiels­weise eine klare poli­ti­sche Nie­der­lage für Putin, der behaup­tete, er habe die Inva­sion in der Ukraine gestar­tet, um eine weitere NATO-Erwei­te­rung zu ver­hin­dern. Aber es folgte keine Eska­la­tion. Statt­des­sen spielte die rus­si­sche Pro­pa­ganda ihre Bedeu­tung her­un­ter. Der Kreml behaup­tete, der Rückzug aus Kyjiw – ein wei­te­rer klarer Fehl­schlag – sei eine Geste des „guten Willens“ gewesen, um Ver­hand­lun­gen zu erleich­tern. Das­selbe Muster wird auch bei einer Nie­der­lage auf einem brei­te­ren Schlacht­feld gelten. (Die Stärke seines Pro­pa­gan­da­ap­pa­rats wird dazu bei­tra­gen, die innen­po­li­ti­sche Gegen­re­ak­tion auf die Nie­der­lage in der Ukraine zu minimieren).

Geben, was gebraucht wird

Anstatt sich auf Putins Gefühle zu kon­zen­trie­ren, sollten sich die Ver­ei­nig­ten Staaten und Europa auf prak­ti­sche Schritte kon­zen­trie­ren, um der Ukraine zum Sieg zu ver­hel­fen. Sie sollten beden­ken, dass ein ukrai­ni­scher Sieg die Welt siche­rer machen würde. Er würde die rus­si­schen Streit­kräfte schwä­chen und es Moskau erschwe­ren, sich in Afrika, Asien, Latein­ame­rika und auf dem west­li­chen Balkan ein­zu­mi­schen. Er würde die globale Sta­bi­li­tät im All­ge­mei­nen fördern, indem er das Völ­ker­recht stärkt und anderen poten­zi­el­len Aggres­so­ren zeigt, dass Bar­ba­rei ein schlech­tes Ende hat. Der Westen muss Kyjiw also geben, was es braucht, um die rus­si­schen Angrei­fer zurückzudrängen.

Das Enga­ge­ment für den Sieg der Ukraine hat noch einen letzten Vorteil: Es wird die Unsi­cher­heit in den lang­fris­ti­gen Stra­te­gien der Ver­ei­nig­ten Staaten und Europas gegen­über Russ­land besei­ti­gen und ihnen helfen, nicht länger von Kriegs­mü­dig­keit geplagt zu werden. Sie werden erken­nen, dass unsere Mission – die erheb­li­che Schwä­chung Russ­lands – sie und den Rest der Welt in die Lage ver­set­zen wird, ernst­haft mit einem gede­mü­tig­ten und kon­struk­ti­ve­ren Moskau zu verhandeln.

Wir freuen uns auf diesen Tag; jeder Krieg endet mit Diplo­ma­tie. Aber dieser Moment ist noch nicht gekom­men. Im Moment ist klar, dass Putins Weg an den Ver­hand­lungs­tisch nur über Nie­der­la­gen auf dem Schlacht­feld führt.

 

Dieser Text ist zuerst auf Eng­lisch im ame­ri­ka­ni­schen Magazin Foreign Affairs erschienen.

Textende

Portrait von Dmytro Kuleba

Dmytro Kuleba ist Diplo­mat und Poli­ti­ker. Seit März 2020 ist er Außen­mi­nis­ter der Ukraine. 

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