Weizen als Waffe
Durch die russische Blockade ukrainischer Häfen und gezielte Zerstörung von Infrastruktureinrichtungen in der Ukraine droht eine Nahrungsmittelkrise. Betroffen sind vor allem ärmere Länder. Eine Analyse von Iryna Kosse
Am 24. Februar 2022 begann Russland einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine. Die Armee blockiert die ukrainischen Seehäfen und zerstört ukrainische Lagereinrichtungen und Transportinfrastruktur. Der Schaden für landwirtschaftliche Betriebe seit Februar wird auf 4,3 Milliarden US-Dollar und der Schaden der Infrastruktur auf 31,3 Milliarden Dollar geschätzt, davon 25,4 Milliarden Dollar Straßenschäden.
Vor dem Krieg war die Ukraine ein wichtiger Nahrungsmittelakteur auf dem Weltmarkt und exportierte Getreide und andere Nahrungsmittel. Die ukrainischen Agrar- und Lebensmittelexporte sind in den letzten 15 Jahren von 10 Prozent Anteil an den Gesamtexporten der Ukraine im Jahr 2004 auf 37 Prozent im Jahr 2021 gestiegen, was einem Wert von 3,25 Milliarden beziehungsweise 24,46 Milliarden Dollar entspricht. Die Ukraine war der weltweit führende Exporteur von Sonnenblumenöl (39,5 Prozent der weltweiten Ausfuhren), der viertgrößte Exporteur von Mais (13,2 Prozent) und Gerste (11,8 Prozent) und der fünftgrößte Exporteur von Weizen (8 Prozent).
Der Krieg hat zu einer Situation geführt, in der die Ukraine zwar über die Waren verfügt, sie aber aufgrund logistischer Probleme nicht an die Empfänger liefern kann. Vor dem Krieg exportierte die Ukraine rund 90 Prozent ihres Getreides und Pflanzenöls auf dem Seeweg. Durch die Blockade der wichtigsten Häfen (Piwdennyj, Tschornomorsk, Odesa, Mykolajiw) und die Besetzung des Hafens von Cherson können landwirtschaftliche Erzeugnisse nur noch über die Donauhäfen Reni und Ismajil, die nur über eine geringe Kapazität verfügen, oder über den Schienen- und Straßenverkehr exportiert werden.
Die Ukraine exportiert monatlich etwa zwei Millionen Tonnen Getreide über diesen alternativen Weg, aber diese Kapazität reicht bei Weitem nicht aus, um das gesamte Getreide zu transportieren. Anfang Juli waren noch 18 Millionen Tonnen Getreide und 0,5 Millionen Tonnen Öl aus der Vorjahresernte in Lagern vorhanden. Es wird erwartet, dass in diesem Jahr weitere 66 Millionen Tonnen Getreide geerntet werden, obwohl die Anbauflächen aufgrund der Besetzung, der aktiven Kämpfe und der militärischen Verunreinigung zurückgegangen sind. Die ukrainischen Landwirte schätzen, dass sie in diesem Jahr 2,5 bis 2,7 Millionen Tonnen Sonnenblumenöl exportieren können.
Mangel und Preisanstieg
Somit werden beträchtliche Mengen an Getreide und Sonnenblumenöl blockiert und drohen vernichtet zu werden, während Entwicklungsländer, vor allem in Afrika, unter Nahrungsmittelmangel leiden. Die folgenden Länder sind am stärksten von Störungen der ukrainischen Agrarexporte bedroht: Libanon, Tunesien, Sri Lanka, die Niederlande, Litauen, Kenia und Polen, so die Studie „Ukraine’s Role in Global Food Supply: Individual Countries’ Vulnerability“. Die Analyse ergab, dass die Länder mit der höchsten Marktanfälligkeit nur einen winzigen Teil der weltweiten Importe aus der Ukraine beziehen. Daher werden sie in der Lage sein, den Versorgungsschock recht schnell zu bewältigen. Starke Preissteigerungen bei Lebensmitteln machen die Produkte jedoch weniger erschwinglich und können zu Defiziten führen. „Dies ist ein besonderes Problem für zwei der drei am stärksten gefährdeten Länder, Sri Lanka und Tunesien – beides Länder mit niedrigem mittlerem Einkommen, die nur begrenzte Möglichkeiten haben, den Schock abzufedern”, heißt es in der Studie.
Logistische Einschränkungen bei der Ausfuhr werden sich auch auf die Erträge des nächsten Jahres auswirken. Wenn die ukrainischen Landwirte ihre Erzeugnisse nicht verkaufen können, haben sie nicht genügend Mittel, um die nächste Ernte auszusäen. Und mit dem anhaltenden Krieg schrumpft auch die landwirtschaftlich nutzbare Fläche (ein Teil des Landes ist von der russischen Armee besetzt und andere Teile müssen erst entmint werden, bevor die landwirtschaftliche Arbeit beginnen kann).
Außerdem stellt sich die Frage nach Düngemitteln für die Ernte des nächsten Jahres. Angesichts der logistischen Einschränkungen und der fehlenden Mittel der Landwirte wird die Produktivität in der Landwirtschaft sinken und die Ernte im nächsten Jahr geringer ausfallen. Wenn die Beschränkungen nicht aufgehoben werden, wird die Getreideproduktion der Ukraine schließlich auf die Menge sinken, die im Inland verbraucht und über den Schienen- und Straßenverkehr exportiert werden kann. Je höher die Produktion, desto niedriger der Inlandspreis. Damit werden vermutlich weitere Landwirte aus dem Geschäft gedrängt.
Inländische Versorgung gesichert
An der Ernährungssicherheit der Ukraine wird sich durch die Blockade der Häfen nichts ändern. Die Ukraine baut genug Nahrungsmittel an, um ihre Bevölkerung zu ernähren; sie verbraucht beispielsweise nur ein Drittel des von ihr produzierten Getreides. Aber die Ukraine wird weniger Devisenzuflüsse und weniger Zahlungen von Exporteuren an den Staatshaushalt erhalten, da die Ausfuhrmengen zurückgehen. Am stärksten werden die Auswirkungen auf die weltweite Ernährungssicherheit sein. Kurzfristig werden sich ein geringeres Angebot und höhere Preise negativ auswirken, aber mittelfristig wird sich der Markt anpassen und andere Akteure werden die ukrainischen Mengen ersetzen.
Wir sehen bereits, dass die Weltrohstoffpreise wieder das Vorkriegsniveau erreicht haben. So liegt der S&P GSCI Rohstoffindex, der die Preise für Energieträger, Metalle, landwirtschaftliche Erzeugnisse und Vieh misst, bei 657 Punkten und damit mehr als 20 Prozent niedriger als im März oder Juni dieses Jahres. Der Preis für Weizen, der zu Beginn des Krieges um 40 Prozent gestiegen war, liegt jetzt auf dem Niveau von Januar. Die Angst vor einer Getreideknappheit nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine weicht dem Optimismus, dass die wichtigsten Erzeuger große Ernten einfahren werden, um die vom Krieg betroffenen Reserven wieder aufzufüllen.
Das weltweite Angebot an Weizen kann jedoch durch extreme Wetterbedingungen, die im Zuge des Klimawandels immer häufiger auftreten, beeinträchtigt werden. Die Ernten in Europa verwelken, da die Temperatur in Frankreich und anderen Gebieten auf 40 Grad Celsius steigt. Frankreich ist der größte Weizenexporteur der EU. Die dortige Ernte ist aufgrund von Hitze, Trockenheit und Stürmen geschrumpft. Es wird jedoch erwartet, dass die Lieferungen außerhalb der EU trotz der geringeren Ernte ein Dreijahreshoch erreichen werden, da die Käufer nach Alternativen zu den Lieferungen aus der Ukraine suchen.
Auch in Rumänien, einem der größten Maiserzeuger Europas, herrschte eine ungünstige Trockenheit. Das Land forderte seine Bürger auf, den Wasserverbrauch zu reduzieren, da die Dürre die für die Stromerzeugung und die Landwirtschaft benötigten Vorräte belastet. In Teilen der USA herrscht Rekordhitze und auch einige Mais- und Sojabohnenanbaugebiete leiden unter der Dürre. In den Great Plains der USA werden in diesem Sommer rekordverdächtige Temperaturen erwartet. Heißes, trockenes Wetter könnte die Getreideerträge einschränken. Somit wird es schwieriger, Nahrungsmittel zu finden, um den Wegfall der ukrainischen Exporte auszugleichen.
Bedürftige spüren Konsequenzen
All dies wirkt sich auf die weltweite Ernährungssicherheit aus. Selbst wenn die Preise nicht weiter steigen, werden die hohen Lebensmittelpreise wahrscheinlich weiterhin Druck auf die Bedürftigen ausüben. Aus dem Jahresbericht der Vereinten Nationen geht hervor, dass die Zahl der unterernährten Menschen im vergangenen Jahr um rund 6 Prozent auf etwa 768 Millionen gestiegen ist, was einem Zehntel der Weltbevölkerung entspricht. Dieser Anstieg ist auf die ungleichmäßige Erholung der Welt von der Corona-Pandemie und die hohen Lebensmittelkosten zurückzuführen.
Die kürzlich in Istanbul aufgenommenen Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland, der Türkei und der UNO geben Anlass zu der Hoffnung, dass der Seeweg für ukrainische Exporte freigegeben wird. Am 13. Juli 2022 einigten sich die Delegationen der vier Seiten auf die Einrichtung eines Koordinierungszentrums in Istanbul, in dem Vertreter aller Seiten anwesend sein werden, auf gemeinsame Kontrollen bei der Ein- und Ausfahrt von Häfen und auf die Gewährleistung der Sicherheit des Seeverkehrs auf den Transferrouten. Bis zur Unterzeichnung eines endgültigen Abkommens werden noch weitere Treffen erwartet, aber der Markt hat bereits mit niedrigeren Rohstoffpreisen reagiert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine die ukrainischen Rohstoffexporte unterbrochen hat und zu den bereits hohen Lebensmittelpreisen nach der Covid19-Pandemie beigetragen hat. In der Hoffnung auf die neuen Ernteerträge und die Verhandlungen zur Freigabe der Schwarzmeerroute für ukrainische Getreideexporte begannen die Preise zu fallen. Ungünstige Witterungsbedingungen in Europa und den USA können jedoch die Ernten beeinträchtigen und zu einem weiteren Preisanstieg führen. Die Welt verfügt möglicherweise nicht über genügend Nahrungsmittelreserven, um die Lieferungen aus der Ukraine auszugleichen. Daher ist die Frage nach der Beendigung des Krieges in der Ukraine so dringend wie eh und je.
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