Neue Partei: Syla Lyudey – Die Kraft der Menschen. Der Name ist Programm
Die ukrainische Parteienlandschaft ist durchdrungen von oligarchischen Interessen und Korruption. Eine neue, demokratisch organisierte Partei will das ändern und geht damit völlig neue Wege in der ukrainischen Politik.
Dieser Text ist der erste unseres neuen Dossiers Wahlen, das von nun an regelmäßig verschiedene Aspekte der bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 – von Präsidentschaftskandidaten über politische Parteien bis hin zur Rolle der Medien – beleuchten wird. Hier geht es zu weiteren Artikeln des Dossiers: Wahlen.
Einen passenden Namen zu finden hat lange gedauert. Den Gründern war wichtig, dass sich der Parteiname auf Russisch und Ukrainisch weder in der Aussprache noch in der Schreibweise unterscheidet. Damit will man Solidarität demonstrieren, neben Menschenwürde, Freiheit, Verantwortung und Rechtsstaatlichkeit ein zentraler Wert für Syla Lyudey (SL). Solidarität bedeutet für SL, sich nicht nur für die Menschen im Westen oder im Zentrum der Ukraine einzusetzen, sondern auch für die Menschen entlang der Frontlinie, der faktischen Grenze zu den nicht von der Ukraine kontrollierten Gebieten.
Eine Graswurzelpartei
Nach ukrainischen Maßstäben besonders ist, dass die Partei sich von unten nach oben aufbaut und sich landesweit im direkten Austausch mit den Bürgern vor Ort organisiert – permanent und schrittweise und nicht nur kurz vor Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen. Bekanntheit im ganzen Land erlangte SL zum ersten Mal bei den Kommunalwahlen 2015. Durch Mut zu neuen Wegen und Engagement gegen alte Missstände gelang es SL aus dem Stand in Mariupol, einer wichtigen Stadt nahe der Front, zweitstärkste politische Kraft zu werden – gleich nach dem „Oppo(sitions)block“, der Nachfolgepartei der lokal verankerten, korrupten „Partei der Regionen“ des Ex-Präsidenten Janukowytsch. Den oligarchennahen Medien war ihre Verwunderung über die Neulinge anzumerken.
Viermal boten mir die Organisatoren oligarchischer Parteiprojekte ein Rada-Mandat an. Solch ein Deal beinhaltet typischerweise die Verpflichtung, die Interessen derer zu verteidigen, denen das Parteiprojekt gehört. Doch so lässt sich die Ukraine nicht verändern.
Als die „Revolution der Würde“ 2014 in die Präsidentschafts- und dann Parlamentswahl mündete, entschied Parteigründer Oleksandr Solontay seine ganze Kraft in den Aufbau einer demokratischen Partei auf der Basis liberaler Werte und Themen zu investieren. Schon länger trug er sich mit dem Plan, mit der ukrainischen Praxis künstlicher „Parteiprojekte“ zu brechen, die auf prominente Führungspersonen zugeschnitten sind und oft dazu dienen, ihre Wirtschaftsinteressen politisch abzusichern: „Viermal boten mir die Organisatoren oligarchischer Parteiprojekte ein Rada-Mandat an. Sie brauchten mich als öffentliche Person, die bei jungen Menschen ankommt. Solch ein Deal beinhaltet typischerweise die Verpflichtung, die Interessen derer zu verteidigen, denen das Parteiprojekt gehört. Doch so lässt sich die Ukraine nicht verändern. Deshalb habe ich den anderen Weg gewählt, Ukrainer zu vereinigen, die sich auf ihre eigene Kraft besinnen“, erklärt Solontay seine Motivation.
Neue Abgeordnete konnten die ukrainische Politik nur bedingt verändern
2014 war ein einzigartiger Moment, weil viele Parteien ihre Wahllisten mit Euromajdan-Aktivisten schmücken wollten. So erhielten Vertreter aus der Zivilgesellschaft, Journalisten oder mittelständische Unternehmer Zugang zur sonst abgeschotteten politischen Elite, ohne sich, wie sonst üblich, das Parlamentsmandat kaufen zu müssen. Ob sich das in dieser Form bei den Wahlen 2019 wiederholt, darf bezweifelt werden.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die mit diesen Reformern verbundene Hoffnung auf Veränderung der ukrainischen Parteien und Politik von innen nur zum Teil aufgegangen ist. Zwar sorgten etwa die auf unterschiedliche Parteien verstreuten sog. „Eurooptimisten“ für eine nie dagewesene Transparenz und machten die politischen Deals jenseits aller programmatischen Auseinandersetzung öffentlich, die früher unter dem Teppich geblieben wären. Aber sie sind nie eine geschlossene politische Kraft geworden, sondern Einzelkämpfer geblieben.
Eine junge, dynamische Partei wächst heran
Solontays Strategie scheint dagegen aufzugehen: Die Partei hat landesweit demokratisch organisierte Strukturen (außer auf der Krim und in den sog. Volksrepubliken). Sie arbeitet auf der Basis eines Programms, in dessen Mittelpunkt der einzelne Bürger mit seiner Verantwortung und seinen Fähigkeiten steht, seine Umgebung und sein Land zu gestalten. Zwar ist SL noch vergleichsweise klein und finanzschwach. Die Partei hat mehr als 220 Sitze in Kommunalparlamenten (durch die sich mit der Gebietsreform neu vereinigenden Gemeinden kommen neue hinzu), fünf Bürgermeister und mehr als 3.000 Parteimitglieder, die, das ist in einem Land mit kleinem Mittelstand ungewöhnlich, Mitgliedsbeiträge zahlen. Viele übernehmen auf lokaler Ebene Verantwortung und helfen so beim Aufbau regionaler Strukturen.
90 Prozent der 3.000 Kandidaten haben erstmals kandidiert
Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder ist 35. Es sind etwa junge Lehrer, Juristen, Unternehmer, Journalisten oder Aktivisten, die meisten zum ersten Mal überhaupt politisch tätig und entsprechend unerfahren. Bei den Kommunalwahlen 2015 haben laut Solontay 90 Prozent der 3.000 Kandidaten erstmals kandidiert. Dafür bringen sie Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit und eine neue Dynamik in die noch immer überwiegend von Partikularinteressen bestimmte ukrainische Politik. Sie wollen reformieren und nicht nur imitieren und streiten beherzt über Sachthemen und inhaltliche Lösungen, anstatt blind einer mächtigen Führungsfigur zu folgen. Auf diesem anspruchsvollen Weg haben sie es immerhin als berechenbare Größe in landesweite Meinungsumfragen geschafft.
Präsenz im ganzen Land und solide Finanzierung im Blick
Zum kommenden Wahlzyklus 2019/2020 – zunächst die Präsidentschafts- und die Parlamentswahl und zuletzt die landesweiten Kommunalwahlen – geht es für SL vor allem darum, ihren Bekanntheitsgrad weiter auszubauen. Auch wenn Solontays Lieblingssatz lautet „Sei realistisch – fordere das Unmögliche!“: Über die Fünfprozenthürde ins Parlament zu gelangen wird die Partei kaum schaffen, zwei Prozent liegen aber im Bereich des Machbaren. Ein 2016 gegen den massiven Druck der alten Eliten durchgesetztes Parteienfinanzierungsgesetz spricht Parteien, die mehr als 2% der Wählerstimmen erhalten, öffentliche Finanzierung zu. Das könnte die kleine Partei gut brauchen, die sich kaum Mitarbeiter leisten kann.
Die Mehrheit arbeitet pro-bono und steckt dazu noch eigene finanzielle Mittel in die Parteiarbeit. SL bemüht sich zudem um Spenden mittelgroßer Unternehmer, die ein Interesse an offenen Märkten, zuverlässigen Regeln und gleichen Bedingungen für alle haben und – das muss im ukrainischen politischen Umfeld im Vordergrund stehen, um das kostbare Gut der eigenen Glaubwürdigkeit nicht zu verspielen – die Partei nicht kompromittieren. Unterstützer müssen tatsächlich für die geforderten Reformen stehen und dies nicht nur vorgeben. Deshalb werden auch die mehr als 3.000 neuen Mitgliedsanträge sorgfältig geprüft.
Verzerrter politischer Wettbewerb
Die größte Herausforderung dürfte die Schieflage in den politischen Wettbewerbsbedingungen sein. Auch weil sich die meisten Ukrainer noch immer über das Fernsehen informieren, das in den Händen einzelner Oligarchen ist, die es als Instrument nutzen, die öffentliche Meinung in ihrem Interesse zu manipulieren. Die Reichweite neuer sozialer und öffentlich-rechtlicher Medien kommt dagegen bislang nicht an. Das wirkt sich laut Solontay negativ auf die Bekanntheit seiner Partei aus: „Unser Rating ist niedrig, weil wir nicht in die großen Fernsehsender kommen. Die Wähler kennen uns nicht. Jene, die uns kennengelernt haben, stehen uns positiv gegenüber.“
Die Bürger lassen sich durchaus von einem guten Programm überzeugen, wenn man mit ihnen redet
Nach Schätzungen des Ökonomen Anders Åslund kostete die Präsidentschaftswahl 2010 etwa 2 Milliarden US-$. (Im Vergleich dazu wurden für die letzte Bundestagswahl in Deutschland mit seinen mehr als doppelt so vielen Einwohnern 90 Millionen US-$ veranschlagt). Ein Einfallstor für Korruption sind auch die Mehrheitswahlkreise, deren Sieger 50 Prozent der Rada-Mandate erhalten. Auch hier ist der Haupteinsatz Geld, mit dem finanzschwache Bürger „überzeugt“ werden und das die „Investoren“ in Form politisch günstiger Entscheidungen und Protektion zurückerstattet sehen wollen.
Dass die Bürger sich durchaus von einem guten Programm überzeugen lassen, wenn man mit ihnen redet, zeigt der Erfolg von Mariupol. Aber sich ohne große Medien im Rücken einem größeren Teil der Bevölkerung zu präsentieren ist schwer. Solontay selbst hat im letzten Jahr weniger als eineinhalb Monate zu Hause in Kyjiw verbracht, weil er ständig im Land unterwegs ist, um mit Bürgern zu debattieren und Parteistrukturen zu unterstützen.
Glaubwürdige Vertreter sind Basis des Erfolgs
Die Basis der Partei sind ihre vertrauenswürdigen kommunalen Mandatsträger und Bürgermeister: „Wir wollen im Praxistest beweisen, dass unseren lokalen Abgeordneten Macht anvertraut werden kann. SL hat gute Beispiele, wie politische Arbeit lokal aussehen sollte, und die müssen wir teilen“, so Solontay.
Für Menschen, die mehr Offenheit und Transparenz in ihrem Land anstreben und eigene Gestaltungsmacht schätzen, ist SL eine echte Option
Auch Aktivisten, die zwar selbst nicht in die Politik wollen, aber die Partei unterstützen, helfen der Glaubwürdigkeit. Dies ist von zentraler Bedeutung in einem post-sowjetischem Land, in dem Vertrauen ein hohes Gut ist. Nicht selten fassen Neue erst nach der dritten oder vierten Wochenendveranstaltung Vertrauen in Solontay und seine Mitstreiter, weil sie es bislang nie erlebt haben, dass Engagement für eine Sache dauerhaft ohne persönliche Bereicherungsabsicht real sein kann.
Für Menschen, die mehr Offenheit und Transparenz in ihrem Land anstreben und eigene Gestaltungsmacht schätzen, ist SL eine echte Option. Die sowjetisch-paternalistische Klientel zu überzeugen, die von Politikern erwartet, dass sie alle ihre Probleme lösen, ist hingegen schwieriger. Zumal die programmatische Partei bewusst die post-sowjetische Tradition herausfordert, dass nur ein starker Führer den richtigen Weg in die Zukunft weisen kann. Damit steht Syla Lyudey wie keine zweite Partei für den politischen Neuanfang nach dem Majdan.
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