Strafmaßnahmen alleine sind unzureichend!
Auch vier Jahre nach der „Revolution der Würde“ sind keine hochrangigen Politiker, Beamten oder Geschäftsleute wegen Korruption verurteilt worden. In und außerhalb der Ukraine wird dies als Scheitern der Antikorruptionsmaßnahmen betrachtet. Der Fokus auf Strafmaßnahmen alleine ist aber unzureichend, um Korruption in der Ukraine nachhaltig zu reduzieren.
Präsident Poroschenko unterzeichnete nach längerem Hin und Her am 26. Juni 2018 das Gesetz zur Einrichtung eines Hohen Antikorruptionsgerichts (HACC). Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Freigabe der nächsten Tranche des Internationalen Währungsfonds (IWF), auf die die Ukraine nach wie vor angewiesen ist. Vielmehr soll das HACC endlich ermöglichen, dass die vom Nationalen Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) angeklagten, hochrangigen Politiker und Beamter vor ein vernünftiges Gericht gestellt werden. Bisher haben die alten, nicht reformierten Gerichte immer wieder Wege gefunden, die vom NABU angestrengten Verfahren zu behindern oder zu verzögern. Von 220 Anklagen, die auf Ermittlungen des NABU zurückgehen, gab es nur 21 Verurteilungen – kein einziger davon ist ein hoher Beamter oder Politiker.
Das NABU wurde von reformistischen Kräften mit starker Unterstützung internationaler Partner gegründet und ist ein starkes Beispiel für eine neue, von der Vergangenheit losgelöste Institution mit hohen professionellen Standards im Vergleich zu anderen Strafverfolgungsbehörden. Die neue Behörde weckt die Hoffnung, dass die Ukraine im Laufe der Zeit ihr Regierungssystem verändern und Rechtsstaatlichkeit herstellen kann.
Schwache Institutionen als zentrales Problem
Derzeit ist die Ukraine aber ein Land mit schwachen Institutionen, die von Eliten künstlich schwach gehalten werden, um ihnen ungehinderten Zugang zu administrativen Rents (Profiten) zu ermöglichen.
Dieses System der „Limited Access Order“ ist durch die Verschmelzung von Macht und Geschäft gekennzeichnet. Der Staatsapparat arbeitet nicht für das Wohl des Landes, sondern für die engen Interessen unterschiedlicher Machtgruppen. Drei Faktoren stützen dieses System: ein Mangel an politischem und wirtschaftlichem Wettbewerb, unanwendbare Gesetze, die selektiv durchgesetzt werden können und eine unterwürfige, politisch beeinflussbare Justiz.
Überfrachtete Erwartungen an das HACC?
Getrieben von der Entschlossenheit des IWF, Reformen durchzusetzen, hat das Antikorruptionsgericht für die Geberländer der Ukraine und Anti-Korruptionsaktivisten eine fast mystische Bedeutung erlangt.
Das bisherige Versäumnis, einen einzigen hohen Beamten des Janukowytsch-Regimes zu verurteilen, spricht Bände über den Zustand der alten ukrainischen Strafverfolgungsbehörden und der Justiz. Es ist jedoch wichtig, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Die Wurzel des Problems ist, dass die Ukrainische politische Elite sich an das Prinzip der kollektiven Solidarität (krugova poruka) hält. Das heißt so viel wie: Es gibt ein gemeinsames Verständnis, dass es trotz großer Unterschiede innerhalb der Elite niemand im Gefängnis landen soll.
Eine in letzter Minute vorgenommene Änderung des Gesetzes über das Hohe Antikorruptionsgericht unterstreicht den Widerstand der Eliten gegen die Schaffung einer wirklich unabhängigen Justizbehörde. Die kürzlich zurückgenommene Gesetzesänderung hätte verhindert, dass Fälle, die von der NABU ermittelt wurden und derzeit vor den alten Gerichten laufen, an den neuen Gerichtshof übergeben werden können. Damit wäre die gesamte Arbeit, die das NABU seit der Gründung im Jahr 2015 geleistet hat, praktisch zunichte gemacht. Jetzt muss abgesehen werden, wie schnell das neue HACC gegründet wird und mit welchen Richtern es besetzt wird. Die Erwartungen an das neue Gericht sind aber fast unerfüllbar hoch.
Übermäßige Betonung auf Strafmaßnahmen?
Die Betonung von Strafmaßnahmen ist verständlich: Eine der zentralen Forderungen der „Revolution der Würde“ 2014 war es, korrupte Beamte endlich rechtsstaatlich verurteilt zu sehen. Weil es bis heute aber keine Verurteilungen hochrangigen Beamten oder Politiker gibt, wird die ukrainische Gesellschaft zunehmend desillusioniert.
Die Glaubwürdigkeit des NABU wird weiter darunter leiden, wenn seine Untersuchungen nicht zu Verurteilungen führen. Theoretisch sollten Strafmaßnahmen auch Korruption verhindern oder mindestens verringern. In Abwesenheit einer systemischen Transformation, die auf einer Öffnung der „Limited Access Order“ beruht, dürften Strafmaßnahmen jedoch nur begrenzte Ergebnisse in Bezug auf die Verringerung der Korruption bringen.
Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist die „Limited Access Order“ nicht nur korrupt. Sie wird angetrieben durch Korruption und wird sie auch weiterhin erzeugen, wenn es keine systemische Transformation gibt. Zweitens werden die Eliten versuchen jeglichen Gerichtsprozessen zu widerstehen, diese zu verzögern oder zu diskreditieren. Rumänien dient hier als interessantes Beispiel. Mehr als 20 Jahre nach dem Sturz des Ceausescu-Regimes dauerte es, bis der erste hohe Beamte ins Gefängnis kamen. Obwohl Rumänien ein viel offeneres politisches und wirtschaftliches System als die Ukraine hat, kämpfen ein Teil seiner Eliten immer noch hart, um die Macht seiner Antikorruptionsbehörde einzuschränken.
Änderung der Anreizstrukturen
Ein wirksamerer Ansatz wird darin bestehen, auf den bedeutenden Errungenschaften der Ukraine seit 2014 aufzubauen. Hier geht es speziell um die Verringerung des Raums für korrupte Praktiken. Die Sanierung der staatlichen Gasgesellschaft Naftogaz, die Reform des Steuersystems, die Schließung betrügerischer Systeme im Bankensektor und die Einführung einer digitalen und transparenten Plattform für öffentliche Aufträge (ProZorro) zeigen, dass echte Fortschritte bei der Verringerung von Korruption möglich sind. Das Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung, ein führender ukrainischer Think-Tank, hat kürzlich berechnet, dass Reformen des Gassektors und Maßnahmen zur Einschränkung des Steuerbetrugs in großem Maßstab 6 Milliarden U.S.-Dollar oder 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eingespart haben.
Dies ist zwar ein ermutigender Anfang, doch gibt es auch in anderen Bereichen viele Möglichkeiten für ähnliche Maßnahmen. Zahlreiche Staatsbetriebe werden noch von Beamten oder gewissen Interessengruppen dominiert. Damit kontrollieren sie die Möglichkeit, Geld direkt aus den Staatsbetrieben abzuführen. Eine mutige Deregulierung und gut durchdachte Privatisierungswelle können dabei helfen, die willkürliche Macht einzelner Offizieller in den betroffenen Betrieben zu begrenzen.
Überregulierung als Teil des Problems
In der ukrainischen „Limited Access Order“ haben Beamte, die mit der Aufrechterhaltung dieses Korruptionssystem betraut sind, oft Befugnisse Unternehmen durch ein System der Überregulierung zu erpressen. Ein Übermaß von komplizierten Regeln und technischen Regularien, die sich teilweise widersprechen, stellen sicher, dass kein Unternehmen jemals die Regeln vollständig einhalten kann. Die Verschmelzung korrupter Interessen in staatlichen Stellen mit der organisierten Kriminalität ist ein besonders hässliches Merkmal dieses Systems und kann nur durch eine grundlegende Reform der Steuerpolizei, des Zollsystems und der Strafverfolgungsbehörden, einschließlich des Sicherheitsdienstes (SBU), angegangen werden.
Nach der klassischen Definition von Robert Klitgaard bedeutet Korruption Monopol plus Diskretion minus Rechenschaftspflicht (C=M+D‑A). Wenn die Ukraine Maßnahmen ergreifen kann, um die Monopolisierung der Wirtschaft zu verringern, den Spielraum für korrupte Bürokraten weiter einzuschränken und die Rechenschaftspflicht zu erhöhen, hat sie die Chance, einen entscheidenden Durchbruch bei der Bekämpfung der Korruption zu erzielen.
Wahlreform als zentrales Schlachtfeld
Die Wahlreform ist das zentrale Schlachtfeld. Im derzeitigen System sind viele Abgeordnete in der Lage, ihre Sitze zu kaufen. Für ihre Unterstützung bei der Gestaltung oder Verabschiedung von Gesetzen, die die Interessen betroffener Partikularinteressen begünstigen, können Sie dann Geld verlangen, um ihre anfangs getätigten „Investitionen“ in das Mandat zurückzuholen. Um dieses System zu durchbrechen muss eine Öffnung der Politik für neue Kräfte, die bereit sind, nach anderen Regeln zu spielen, erfolgen.
Einerseits müssen die „Kosten“ der Politik reduziert werden, um neuen Politikern den Schritt in die Politik zu ermöglichen. Andererseits wird das durch recht niedrige Löhne und die hohe Konzentration des Reichtums erschwert. Deswegen sind vor allem starke kartellrechtliche Maßnahmen, wie sie in den Vereinigten Staaten um 1900 zum Ende des „Gilded Age“ eingeführt wurden, notwendig. Doch diese Prozesse können nicht ohne die politische Unterstützung des fortschrittlichen Teils der Eliten stattfinden, der mehr Wert darauflegt, seine Interessen durch starke Institutionen zu schützen als durch persönliche Absprachen im Verborgenen.
Teufelskreis durchbrechen
Das ist der Teufelskreis, den die Ukraine durchbrechen muss. Um eine solche systemische Transformation zu erreichen, brauchen die reformgesinnten Kräfte in der Ukraine – innerhalb und außerhalb der Regierung – die Unterstützung der internationalen Geberländer und Partner. Ein besseres Verständnis der einzelnen Mechanismen der systemischen Korruption ist daher dringend vonnöten, damit diese systematisch geschlossen werden können. Die zentrale Herausforderung ist es also den Spielraum, einzelner Politiker, Beamter oder Geschäftsleute zu stehlen, zu verringern. Strafmaßnahmen sind dabei ein Teil der Lösung, aber nur ein kleiner Teil.
Aus dem Englischen von Mattia Nelles
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