Aufbruch in eine offene Gesellschaft
Vor sieben Jahren begannen die Proteste auf dem Maidan, die als „Revolution der Würde“ bekannt wurden. Doch wo steht das Land im Jahr 2020? Von Eduard Klein
Der Investigativjournalist Mustafa Najjem ahnte sicher nicht, welche Lawine er lostreten würde. Am 21. November 2013 rief er mit einer kleinen Nachricht auf Facebook zu einer Protestkundgebung auf, weil der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch auf russischen Druck hin das lange Jahre verhandelte EU-Assoziationsabkommen im letzten Moment doch nicht unterzeichnet hatte. Aus wenigen Dutzend Protestierenden wurden erst Zehntausende, dann Hunderttausende, bis die landesweiten Proteste in der Revolution der Würde kulminierten. Diese bereiteten schließlich dem unbeliebten, kleptokratischen Janukowytsch-Regime ein Ende.
Enttäuschte Erwartungen
Doch so plötzlich dieser revolutionäre Moment neue Perspektiven für das von Oligarchie, Korruption und Misswirtschaft geplagte Land eröffnete – so massiv wurde dieses Momentum auch wieder gebremst. Von außen, weil der Kreml nur wenige Tage später versuchte, mit militärischen Mitteln den Kontrollverlust über die Ukraine zu verhindern. Und im Innern traten reformresistente Akteure aus Politik und Wirtschaft auf die Bremse, da sie zum Status quo ante zurückwollten. So kam der tiefgreifende demokratische Umbau des Landes nur äußerst mühselig und langsam voran. Auf zwei Schritte vorwärts folgte meist einer zurück.
Inzwischen sind sieben Jahre vergangen und es stellt sich die Frage: Wo steht das Land heute? Viele Erwartungen, die der Maidan geweckt hat, wurden enttäuscht. Zuerst von Präsident Poroschenko, der es als Vertreter der alten politischen Elite und selbst Oligarch nicht vermochte, die „Hearts and Minds“ der Ukrainer und Ukrainerinnen für sich zu gewinnen. 2019 musste er abtreten. Nach dem historischen Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj ruhten große Hoffnungen auf Poroschenkos Nachfolger. Aber auch der Politnovize enttäuschte die Menschen und ist nach seinem ersten Amtsjahr endgültig in den Mühen der Ebene angekommen. Von der Erfüllung seiner beiden wichtigsten Versprechen ist er weit entfernt: Den Krieg im Donbas vermochte er nicht zu beenden und die (vor allem politische) Korruption existiert unvermindert fort. Die Enttäuschung ist groß und spiegelt sich in den Umfragen wider: Fast drei Viertel der Bevölkerung sind unzufrieden mit der Entwicklung des Landes.
Von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft
Und doch muss man konstatieren: Die Ukraine nach dem Maidan ist ein gänzlich anderes Land als die Ukraine vor dem Maidan. In den vergangenen Jahren ist vieles erreicht worden, was zuvor undenkbar schien. Einige große Reformergebnisse sind sicht- und spürbar. Aber die meisten Veränderungen laufen eher im Hintergrund, im Kleinen ab und sind daher weniger greifbar. Aber auch sie verändern das Land Schritt für Schritt.
Im Spätsommer 2020 wurde dies mit Blick auf die Ereignisse in Belarus besonders sichtbar. Dort begehrte die Bevölkerung gegen den Machthaber Lukaschenka auf. Der Autokrat wies sämtliche Kritik an den massiven Wahlfälschungen zurück, ließ die friedlichen Proteste brutal niederschlagen und klammert sich an die Macht.
Der Machtwechsel 2019 in der Ukraine hingegen verlief friedlich. Die offene, kritische Auseinandersetzung gehört in der Ukraine heute zum gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Im Parlament gibt es anders als in den meisten postsowjetischen Staaten tatsächlich eine Opposition. Es existiert eine vielfältige Medienlandschaft (auch wenn viele Medien in Oligarchenhand sind, resultiert aus deren Rivalität eine gewisse Pluralität). Im privaten Gespräch oder bei den zahlreichen Demonstrationen haben die Menschen in der post-Maidan Ukraine keine Angst, ihre Meinung frei zu äußern. Die ukrainische Gesellschaft ist zwar noch keine „offene Gesellschaft“ im idealtypischen Popper’schen Sinne. Aber mit dem Maidan hat sie einen großen Sprung gemacht, weg von der postsowjetischen, geschlossenen Gesellschaft.
Stellen wir uns nur einmal vor: Wie sähe es in der heutigen Ukraine ohne den Maidan aus? Damals stand die Ukraine am Scheideweg. Die von Janukowytsch am 16. Januar 2014 verabschiedeten „diktatorischen“ Gesetzesverschärfungen zur Einschüchterung der Protestierenden schränkten demokratische Grundrechte wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit massiv ein. Die Ukraine drohte einen ähnlichen Pfad einzuschlagen wie andere autokratische Staaten. In Russland z. B. zog der Kreml nach der Protestwelle 2011/12 aus Angst vor dem Machtverlust die autoritären Zügel drastisch an. Dieses Szenario wurde auf dem Maidan verhindert.
Der Schlüssel für erfolgreiche Reformen
Sicher, ein kompletter Neustart der ukrainischen Politik ist auch sieben Jahre nach dem Maidan nicht geglückt. Viele Parteien werden immer noch von Oligarchen kontrolliert. Abgeordnete nutzen ihre Mandate für informelle Geschäfte, statt die Interessen ihrer Wählerschaft zu vertreten. Und weder Poroschenko noch Selenskyj erwiesen sich als die entschlossenen Korruptionsbekämpfer, als die sie sich ausgaben. Es ist vielmehr die quirlige und aktive Zivilgesellschaft, die auf Probleme aufmerksam macht. Sie erarbeitet Lösungen und fungiert als zentrales Korrektiv, wenn wieder einmal Rückschritte bei den Reformen drohen. Die spürbarsten Fortschritte gibt es in Bereichen wie Gesundheit, Bildung oder in der öffentlichen Verwaltung, wo die Interessen der alten Eliten nicht so stark berührt werden. Bei „brenzligeren“ Themen wie der Bekämpfung der politischen Korruption oder der dringend benötigten Justizreform hakt es hingegen weiterhin.
Doch auch in einigen bisher weitgehend oligarchisch-kontrollierten und früher äußerst korruptionsgeplagten Bereichen wie dem Banken- oder dem Energiesektor gibt es erkennbare Fortschritte. Als Erfolgsmodell kristallisiert sich dabei immer wieder der „Sandwich“-Ansatz heraus: Die Zivilgesellschaft übt mit Protesten, Kampagnen und Reformvorschlägen von innen Druck auf die Entscheidungsträgerer aus. Gleichzeitig nutzt die internationale Gemeinschaft ihre finanziellen und diplomatischen Druckmittel, um von außen zur Umsetzung von Reformen zu mahnen. Vorzeigebeispiele für diesen Ansatz sind die Schaffung des unabhängigen Antikorruptionsgerichts, des elektronischen Beschaffungswesen „Prozorro“ oder des Nationalen Antikorruptionsbüros. Ihnen wird durchaus erfolgreiche Arbeit attestiert. Dieser Ansatz sollte deshalb weiterverfolgt werden.
Auf ihrem steinigen Weg braucht die Ukraine unsere Unterstützung
Für die ukrainische Gesellschaft markiert der Maidan die größte Zäsur seit der Unabhängigkeit 1991. Zuerst auf dem Maidan und nunmehr im Donbas verteidigten die Bürgerinnen und Bürger ihre neu gewonnene Freiheit – und sie bezahlen dafür einen hohen Blutzoll. Daher gibt es für sie auch kein Zurück mehr in die Vor-Maidan Zeit. Vielleicht ist dies vergleichbar mit der Situation in Deutschland nach 1989. Auch hier gab und gibt es für die Menschen keinen Weg mehr zurück in das alte System, trotz aller Probleme, die die Wiedervereinigung mit sich brachte und die selbst heute, 30 Jahre später, zum Teil noch bestehen.
Daran sollten wir uns erinnern, wenn uns wieder einmal Nachrichten über die „chaotische“, „korrupte“ und schlicht „nicht reformierbare“ Ukraine erreichen. Denn so wie die Menschen 1989 in Leipzig und anderswo von Freiheit und einem vereinigten Deutschland träumten, träumen heute die Ukrainerinnen und Ukrainer von einem modernen, demokratischen, prosperierenden, friedlichen und irgendwann wiedervereinigten Staat.
Diesen langen und steinigen Weg muss die Ukraine selbst beschreiten. Der Maidan war sicher nicht das Ende. Vielmehr war er das Aufbruchssignal, das die Marschrichtung für das Land in Richtung Europa vorgab. Deutschland und Europa sollten daher die europäischen Ideale verteidigen und nicht zuletzt auch aus eigenem Interesse den Krieg vor der eigenen Haustür beenden. Wir sollten die Ukraine und die engagierten Ukrainerinnen und Ukrainer auf ihrem schwierigen Weg mit Empathie, Unterstützung und Entschlossenheit begleiten.
Der Text basiert auf einem Beitrag des Autors in den Ukraine-Analysen und wurde für den LibMod-Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ umfassend überarbeitet.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.