Radioaktive Strahlung kennt keine Grenzen
Die Politikwissenschaftlerin Oleksandra Keudel warnt vor den europäischen und globalen Folgen im Falle von russischen Angriffen auf ukrainische Kernkraftwerke.
Seit neun schrecklichen Tagen leistet die Ukraine Widerstand gegen den zynischen, barbarischen Angriff Russlands. Die Welt hat mit noch nie dagewesenen Sanktionen reagiert. Doch die Welt stellt sich taub gegenüber dem Appell der Ukraine, ihren Luftraum vor feindlichen Flugzeugen und ihren Bomben zu schützen.
Die Europäer haben Angst vor Putins nuklearer Drohung. Diese Angst macht sie blind, denn Russland kalkuliert die Beschädigung der 15 ukrainischen Atomreaktoren ein. Doch wir haben aus der Tragödie von Tschernobyl gelernt, dass radioaktive Strahlung keine Grenzen kennt. Im Gegenteil, diese würde sich im Falle einer Explosion schnell über ganz Europa ausbreiten. Genau das Risiko dürfte Putin bei der Planung der Invasion mit in Betracht gezogen haben. Putins Krieg in der Ukraine ist also ein Krieg gegen Europa und die ganze Welt.
Die ukrainischen Behörden haben wiederholt vor der Gefahr gewarnt, die von russischen Angriffen auf Kernkraftwerke ausgeht. Jetzt haben russische Truppen die Kontrolle über das Atomkraftwerk (AKW) Saporischschja übernommen, nachdem sie es die ganze Nacht lang beschossen hatten, was zu einem Brand in unmittelbarer Nähe der Reaktoren führte. Am Morgen gab es Berichte über eine Explosion. Da Russland dieses AKW kontrolliert und seinen Vormarsch durch die Ukraine fortsetzt, ist die nukleare Sicherheit Europas weiterhin bedroht.
Gründe für die Gefährdung der nuklearen Sicherheit
Die Verhinderung von Katastrophen steht auf Putins Liste nicht ganz oben. Die europäischen Staats- und Regierungschefs und Experten scheinen zu glauben, dass Putin die Elektrizität der Ukraine braucht und deshalb die Sicherheit der Kernkraftwerke im Auge behält. Laut Ed Lyman, leitender Wissenschaftler für globale Sicherheit bei der Union of Concerned Scientists, wird Russland es vermeiden, AKWs anzugreifen, „weil sie [Russland] das Land, das sie zu besetzen versuchen, nicht verseuchen wollen – aber auch, weil die Ukraine Strom aus diesen Anlagen braucht.“ Angesichts der Tatsache, dass Russland seit einer Woche ukrainische Städte ausradiert, halte ich dies für eine falsche Annahme.
Putin will die Ukraine nicht besetzen; er will die Ukraine als modernes und demokratisches Land zerstören und das frühere sowjetische „Imperium“ wiederherstellen (Fiona Hill, Foreign Policy Program Senior Fellow bei Brookings). Überlegungen zur nuklearen Sicherheit sind für ihn zweitrangig. Im von Russland besetzten Kernkraftwerk Tschernobyl, wo radioaktiver Abfall gelagert wird, zeigen erhöhte Strahlungswerte, dass der Aggressor die Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt. Russland hält die Mitarbeiter des AKW Tschernobyl als Geiseln fest, ohne zu bedenken, dass der Betrieb eines Kernkraftwerks unter solchen Bedingungen dessen Sicherheit gefährden kann. Die rücksichtslose Beschießung von Wohngebieten, Chemieanlagen und Atommülllagern sind nur einige weitere Beispiele dafür, dass Putin nicht die Absicht hat, vorsichtig zu sein. Dass russische Truppen in der Nacht zum 4. März das AKW Saporischschja mit schwerer Artillerie beschossen, unterstreicht einmal mehr, wie wenig Putin sich um die nukleare Sicherheit schert.
Eine nukleare Katastrophe kann durch viele Ereignisse ausgelöst werden – nicht nur durch einen direkten Raketenangriff auf einen Reaktor. Tatsächlich wurden die sowjetischen beziehungsweise ukrainischen AKWs mit Blick auf dieses Risiko gebaut. Dennoch gibt es viele Dinge, die in einem Kernkraftwerk in Kriegszeiten schiefgehen können, wie Mariana Budjeryn, wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Projekts der Harvard-Universität zum Umgang mit Atomstrom mit ukrainischen Wurzeln, gegenüber der englischen Zeitung „The Guardian“ erklärt: Die größte Gefahr sei eine Fehlfunktion des Kühlsystems. Dies könne zu einer Kernschmelze und damit zur Freisetzung von Radioaktivität und zu Explosionen führen. Zu einer Fehlfunktion könne es kommen, wenn zum Beispiel eine Raketenexplosion in der Nähe einen Stromausfall verursacht, während ein gleichzeitig auftretendes Feuer die Kraftstoffreserven für die Notstromgeneratoren zerstört.
Dieses Szenario eines gleichzeitigen Ausfalls des Primär- und des Sekundärsystems scheint in friedlichen Zeiten „unvorstellbar“ und wird in Kriegszeiten „durchaus denkbar“, merkt James Acton, Co-Direktor des Atompolitikprogramms der Carnegie Endowment for International Peace, an.
Russische Kolonnen in der Nähe von AKWs
Pedro Kotin, Leiter von Energoatom, der ukrainischen Agentur für die Verwaltung von Nuklearanlagen, hat festgestellt, dass „russische Kolonnen mit militärischem Gerät, Artillerie und leistungsstarke Raketenabschuss-Anlagen sich regelmäßig in unmittelbarer Nähe der Nuklearanlagen von Energoatom bewegen und Raketen in der Nähe der Kernkraftwerke explodieren“. Dies könne schwerwiegende globale Folgen haben. In der Ukraine gibt es drei weitere Kernkraftwerke, die ebenfalls in Gefahr sind, sollte Putin weiter nach Westen vordringen.
Das AKW Saporischschja nicht nur durch direkten Beschuss gefährdet: Bei anhaltenden Kämpfen um die Stadt Saporischschja droht die Zerstörung des höchstgelegenen Dammes des Wasserkraftwerks Dnipro (DniproHES). „Das AKW Saporischschja (sechs Kernreaktoren) befindet sich stromabwärts von DniproHES am Ufer des Kahowske-Stausees. Eine mögliche Folge der Beschädigung des DniproHES und in der Folge des Saporischschja-Kernkraftwerks ist die Ausbreitung der radioaktiven Strahlung zumindest in ganz Europa“, sagt Professor Mark Zheleznyak vom Institut für Umweltradioaktivität der Universität Fukushima. Aufgrund des Vorrückens russischer Truppen mussten die örtlichen Behörden in Erwartung eines Angriffs am 3. März den gesamten Verkehr über den Damm einstellen.
In Anbetracht des wahllosen Beschusses der Ukraine mit Kurz- und Mittelstreckenartillerie wie der Grad-Raketensysteme mit einer Reichweite von 400 bis 500 Kilometern und Luftangriffen liegen diese Risiken auf der Hand. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass die Luftangriffe noch chaotischer werden könnten, wenn Russland die Lenkbomben ausgehen, von denen es vielleicht gar nicht so viele hat.
Nah ran an der nuklearen Katastrophe
Die nukleare Katastrophe ist näher an Europa, als es vielen erscheinen mag. Wie die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 gezeigt hat, kann man sich nirgendwo verstecken. Damals verbreitete sich die Strahlung als Wolke weit über die Ukraine hinaus bis nach Großbritannien und Skandinavien.
Europa und die Welt müssen handeln, um eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern, indem sie sich der russischen Aggression entschieden entgegenstellen. Dies ist auch eine europäische Verteidigung gegen nukleare und Umweltkatastrophen. Der Energieminister, die staatliche Atomaufsichtsbehörde der Ukraine und Energoatom haben am 3. März in ihrem Appell an die IAEO bekräftigt, die Sicherheit der Atomanlagen zu gewährleisten und den „russischen Atomterrorismus“ zu stoppen. Gemeinsam mit ukrainischen Umweltorganisationen fordern sie die NATO-Länder auf, den Himmel über der Ukraine für russische Flugzeuge und Marschflugkörper zu sperren, um weitere Gräueltaten an der Zivilbevölkerung zu verhindern und die Atomkraftwerke vor Schäden zu schützen.
Weitere Informationen über Aktionen gegen den russischen Krieg finden Sie hier, ebenso wie Kundgebungen in Ihrer Nähe. Ich danke Olena Kravchenko, Sofiya Shutiak und Mark Zheleznyak für ihre Mitarbeit. Dieser Text gibt meine Meinung wieder.
Gefördert durch:
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.