Russlands Entmenschlichung der Welt
Der ukrainische Philosoph Vakhtang Kebuladze hat die russische Invasion aus seiner Heimatstadt Kyjiw mit verfolgt. Ein Essay
Kyjiw, Hauptstadt der Ukraine, der zweite Monat des neuen russischen Kriegs gegen das ukrainische Volk. Gegen unseren Staat. Gegen die Menschheit.
Krieg. Das merkwürdige Zeitgefühl: Es ist, als ob alles starr wäre und zugleich ändert sich alles ständig.
Die Russen töten uns jeden Tag und jede Nacht. Sie bombardieren unsere Städte. Sie vernichten Wohngebäude, Krankenhäuser und Schulen. Sie töten Frauen und Kinder. Auf dem okkupierten Territorium der Ukraine plündern russische Soldaten Häuser und Geschäfte, foltern und erschießen Zivilisten, vergewaltigen Frauen.
Im Magazin Der Spiegel habe ich über das Interview des deutschen Kanzlers Olaf Scholz im Fernsehen Folgendes gelesen: „Er spricht über die Opfer dieses Kriegs, auch auf Seiten des Aggressors. Er habe sich bei seinem letzten Besuch »die jungen Gesichter der Soldaten, die Spalier gestanden haben in Moskau«, sehr genau angesehen und gedacht, käme es zum Äußersten, dann würden diese jungen Leute sterben“.
Ich war schockiert und möchte fragen: Herr Scholz, kümmern Sie sich wirklich weiter um die Leben russischer Soldaten, die ukrainische Städte vernichten, die Kinder töten und Frauen vergewaltigen? Erinnern Sie sich dabei nicht an die jungen Gesichter der deutschen Nazis, die während des Zweiten Weltkriegs Ukrainer und Ukrainerinnen getötet haben?
Wir sind vereint
Ich bleibe in Kyjiw, in meiner Heimatstadt. Die Russen sind nah, das heißt der Tod ist nah. Ich hoffe aber, dass Kyjiw nie getötet wird. Meine Stadt ist zu einer Festung geworden, wo jeder Mensch weiß, was er zu tun hat, um die eigene Stadt, das eigene Leben und das Leben der Anderen zu verteidigen. Wir sind vereint. Der Hass gegen den Feind hat uns vereint. Aber dieser Hass entmenschlicht uns nicht. Es wird den Russen nie gelingen, uns zu entmenschlichen. Wir unterstützen einander. Kyjiw bleibt weiter eine Stadt der Liebe und der Würde.
Ich wurde in Kyjiw geboren. Meine Mutter ist Griechin. Auch sie wurde in Kyjiw geboren, aber ihre Eltern stammen aus der Region Donezk. Donezk wird seit 2014 von Russland okkupiert. Meine Urgroßmutter, die mir das Lesen und Schreiben beibrachte, hat Anfang des 20. Jahrhunderts in Mariupol das Gymnasium absolviert. Mariupol wurde von den Russen komplett vernichtet.
Mein Vater kommt aus der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Seine Mutter war Russin. Georgisch und Russisch sind seine Muttersprachen. Seit Langem sind Teile Georgiens von Russland okkupiert. Meine Frau ist Ukrainerin. Welche Abstammung hat meine Tochter? Es spielt keine Rolle. Wir alle sind die Bürger der Ukraine, des freien Landes, das gegen das faschistische Russland für Freiheit und Würde kämpft – nicht nur für die Freiheit und Würde der Ukraine selbst, sondern auch für die Freiheit und Würde Europas und der ganzen freien Welt.
Nur die Verteidigung zählt
Ich bin von Beruf Philosoph und es gewöhnt, nicht so sehr über die aktuelle politische Situation, sondern eher über die ewigen philosophischen Probleme der Menschheit nachzudenken und zu schreiben. Ich bin Schriftsteller und Übersetzer, aber das spielt heute keine Rolle – genau so wenig wie meine ethnische Abstammung, die Sprachen, die ich spreche, die Bücher, die ich lese, übersetze und schreibe. Wir sind Ukrainer, wir sind freie Menschen, wir leben in unserem Land.
Wir müssen uns verteidigen.
Meine Aufgabe besteht heute nicht darin, Bücher zu schreiben und an der Universität zu unterrichten, sondern mich selbst, meine Mitmenschen, mein Volk und die ganze Welt gegen Russland zu verteidigen.
Die Formel des russischen Neonazismus ist simpel: Alle Ukrainer sind Unterrussen, und die Ukrainer, die damit nicht einverstanden sind, müssen getötet werden.
Eine Geschichte der Entmenschlichung
Während dieser schrecklichen Tage der russischen Invasion in meinem Heimatland habe ich aber eine merkwürdige Sache verstanden: Es gibt eigentlich keine Russen. Es gibt so eine politische Nation gar nicht. Es gibt in Russland nur eine terroristische Organisation, die sich russischer Staat nennt, und eine Bevölkerung, die von diesem Staat ständig dehumanisiert wird. Während die Entwicklung der europäischen oder westlichen Zivilisation von einer allmählichen, nicht immer erfolgreichen Vermenschlichung der Welt begleitet wurde, war die ganze Geschichte Russlands eine Geschichte der Entmenschlichung der Menschen.
Wenn man heute über die Russen spricht, geht es nicht um ethnische Abstammung, Sprache oder Geografie. Es geht um eine Art sozial-historische Perversion. Wann hat dieser Prozess der Entmenschlichung in Russland angefangen? Diese Frage kann ich nicht beantworten. Vielleicht war diese Entmenschlichung von Anfang an die Grundeigenschaft der russischen Geschichte. Die russischen Kommunisten haben diesen Prozess in der Sowjetunion beschleunigt. Der Begriff „Sowjetvolk“ war ein wirksames Instrument der Entmenschlichung.
Die Hauptidee der russischen Kommunisten bestand darin, alle sowjetischen Menschen auf das materielle, biologische Niveau zu reduzieren, um danach aus ihnen eine neue soziale Einheit – das „sowjetische Volk“ – zu bilden. Dafür sollten alle von den Russen kolonisierten Völker auf ihre kulturellen Traditionen verzichten, um sich mit der primitiven russischen Einheit zu verschmelzen. Aber Menschen, die auf so eine Ebene reduziert wurden, haben keine Chance mehr, wieder zu echten Menschen zu werden. Die Russen haben den Begriff „Sowjetvolk“ akzeptiert, weil der Kern dieses Begriffs primitiv russisch war. Die Russen wurden von diesem Begriff absolut vergiftet. Sie haben versucht, alle von ihnen kolonisierten Völker auf diese primitive Ebene zu bringen. Es ist ihnen glücklicherweise nicht gelungen – aber sie haben sich selbst dabei entmenschlicht.
Die russische Todeswelt
Putin hat diese Entmenschlichung auf die Spitze getrieben. Die Russen sehen sich selbst nicht mehr als freie Menschen, sondern als Ressource des russischen Staats. Sie sind Teil der vollendeten Form des absoluten Faschismus, wo ein menschliches Leben keinen Wert mehr hat. Wo das Leben selbst keinen Wert mehr ist. Die russische Welt ist eine Todeswelt. Die Russen entmenschlichen sich selbst und deshalb entmenschlichen sie alle andere Menschen auch. Die Entmenschlichung der Menschen führt zur Vernichtung der Menschheit.
Die Russen entmenschlichen buchstäblich unsere ukrainischen Städte und Dörfer. Sie vernichten keine Militärobjekte, sondern Wohnbezirke, Krankenhäuser, Schulen, Theater und Museen. Sie versuchen unser Land zu einem Territorium humanitärer Katastrophe zu machen, auf dem Menschen nicht mehr frei leben können. Auf diese teuflische Weise schaffen sie einen entmenschlichten Lebensraum für sich selbst. Im Grunde genommen ist es kein Lebensraum mehr, sondern der Todesraum der „russischen Welt“.
Krieg. Die Zeit wird zu einem teuflischen Zirkel.
Die Russen töten uns jeden Tag und jede Nacht, und seien Sie sicher, dass sie dazu bereit sind, auch Sie zu töten. Um die Welt zu vernichten, sind sie bereit, auch sich selbst zu vernichten. Deshalb müssen wir die russische Aggression in der Ukraine stoppen. Und selbst wenn es uns gelingen wird, die russische Aggression gegen die Menschheit in der Ukraine zu stoppen, dürfen wir nicht vergessen, dass Russland weiter versuchen wird, unsere gemeinsame menschliche Welt zu entmenschlichen, um sie schließlich zu vernichten.
Das Böse stoppen
Der russische Staat ist der Feind der Menschheit. Die freie Welt muss das moderne russische Reich besiegen und kontrollieren, um sich selbst, Russland und alle Völker, die von diesem schrecklichen geopolitischen Untier versklavt wurden, vor der Entmenschlichung und Vernichtung zu retten. Russland ist nicht „ein Theil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Es ist das wahre Böse. Russland ist jene Kraft, die stets das Böse will und stets das Böse schafft.
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, sagt Hölderlin. Heutzutage ist die wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit der freien Welt von Russland eine große Gefahr. Der totale Verzicht auf russisches Erdöl und Erdgas könnte unsere Zivilisation retten. Wir sollten den Ring der russischen Macht in den Abgrund des russischen Mordors werfen, um das Böse der „russischen Welt“ zu vernichten und uns zu retten. Dafür braucht auch unsere ukrainische Armee mehr Waffen.
Retten Sie uns, retten Sie sich selbst, retten Sie die Welt!
Das Böse ist schwach. Das Böse ist nicht lebendig. Ihm fehlt die Energie des Lebens. Das Böse ernährt sich vom Tod und auf diese Weise tötet es sich selbst. Die Russen sind schwach. Sie kämpfen nicht gegen unsere Armee, sondern gegen unsere Kinder und Frauen. Ihr Ressentiment ist allerdings sehr stark. Ihr Ressentiment vergiftet und vernichtet sie, vernichtet uns und kann die ganze Welt vernichten. Wir müssen sie stoppen, um die Welt zu retten.
Wir sind noch da
Während ich diesen Text geschrieben habe, hat die ukrainische Armee den Kyjiwer Bezirk von russischen Truppen befreit. Es ist unser erster kleiner Sieg in diesem Krieg gegen das faschistische russische Reich. Nach diesem Sieg haben wir das schreckliche Bild der „russischen Welt“ in Butscha und in anderen ukrainischen Städten gesehen: erschossene Zivilisten mit gefesselten Händen in den Straßen, vergewaltigte und danach getötete Frauen, das Schrecken der russischen Todeswelt. Das ist der russische Genozid am ukrainischen Volk.
Krieg. Die Russen sind nah. Der Tod ist nah. Der Tod ist ein Meister aus Russland.
Wir sind noch da.
Wir, die Ukrainer. Wir, die Menschen.
Wir, die Ukrainer. Wir, die Menschen.
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