„Blind­fold“ von Taras Dron oder: Die Kunst, sich zu befreien

Die MMA-Kämp­­fe­rin Yuliya hat ihren Freund im Krieg in der Ost­ukraine ver­lo­ren. Sie setzt auf eine neue Bezie­hung, um ihr Leben vor­an­zu­brin­gen. Eine Film­kri­tik von Nicole Jundt.

Zunächst erscheint der Film „Blind­fold“ (Ori­gi­nal­ti­tel: Із зав’язаними очима, dt: Mit ver­bun­de­nen Augen) wie ein Lie­bes­drama vor dem Hin­ter­grund des Krieges in der Ost­ukraine. Doch bei genaue­rem Hin­schauen wird deut­lich, dass der Film weder das typi­sche Nar­ra­tiv eines Kriegs­films noch das kit­schige Bild einer Lie­bes­be­zie­hung erfüllt. Viel­mehr wird auf die Trau­mata eines noch immer andau­ern­den Kon­flikts verwiesen. 

Die Hand­lung folgt der jungen MMA-Kampf­sport­le­rin Yuliya Valenko (Maryna Kosh­kina). Ihr Partner Denys Sko­ro­zub (Oleg Davydov) war als Soldat in den Krieg gegan­gen und gilt seit län­ge­rer Zeit als ver­misst. Trotz seiner phy­si­schen Abwe­sen­heit ist er jedoch all­ge­gen­wär­tig. Mit ihrem neuen Freund Maksym (Oleg Shluga) wagt Yuliya den Aus­bruch aus dem ewigen War­te­zu­stand. Selbst als eine SMS eine Nach­richt vom Ver­schol­le­nen bringt, rückt sie davon nicht ab. Doch lässt sie dieses Signal wirk­lich so kalt? 

Taras Drons Film zeich­net sich durch eine geschickt in die Hand­lung imple­men­tierte Kreis­struk­tur aus. In ihr spie­gelt sich auch die Situa­tion in der Ukraine wider. Yuliya bricht immer und immer wieder aus gewohn­ten Struk­tu­ren aus – um am Ende doch wieder am Anfangs­punkt anzu­ge­lan­gen. Am deut­lichs­ten wird die Meta­pher des Käfigs in dem Moment, da sich Yuliya kurz vor dem Kampf in einem tat­säch­li­chen Käfig wie­der­fin­det. Im Augen­blick ihres Zusam­men­bruchs läuft sie wie ein gefan­ge­nes Tier unruhig vor dem Zaun auf und ab, den Blick gehetzt in die Zuschau­er­menge gerich­tet. Dieses „Gefan­gen-Sein“ wird kraft­voll durch die Sprache der Film­bil­der ver­mit­telt. Immer wieder erscheint die Prot­ago­nis­tin im Bild­aus­schnitt durch das Arran­ge­ment ihrer Umge­bung wie ein­ge­rahmt. Dia­go­nale und ver­ti­kale Linien sowie zahl­rei­che Nacht­sze­nen mit stark poin­tier­ter, spär­lich ein­ge­setz­ter Beleuch­tung erin­nern ein­drucks­voll an die ästhe­ti­schen Attri­bute des Film-Noir. 

Im Verlauf kom­bi­nie­ren sich Hand­lung und Technik kunst­voll zu einer Einheit, die den Betrachter:innen die Viel­schich­tig­keit des Films offen­bart und das Innen­le­ben der Prot­ago­nis­tin mit­hilfe der Bild­spra­che nach außen kehrt. Die emo­tio­nale Bindung gelingt durch unmit­tel­bare Betei­li­gung am Gesche­hen, konkret durch die Kame­ra­per­spek­tive – den soge­nann­ten „Over the Shoulder“-Shot. Yuliya ist dabei meist von hinten zu sehen, die Kamera blickt ihr als Stell­ver­tre­te­rin der Zuschauer:innen über die Schul­ter – wodurch sich der Ein­druck einer unmit­tel­ba­ren Teil­nahme an der Hand­lung ver­stärkt. Erwäh­nens­wert ist in diesem Zusam­men­hang, dass die Kamera (Olek­sandr Pozdn­ya­kov) zwar öfter intime Ein­bli­cke gewährt, jedoch nie voy­eu­ris­tisch oder auf­dring­lich wird. Erfri­schend wirkt auch der Umstand, dass die Erzäh­lung und ihre Visua­li­sie­rung nie darauf zielen, die Erwar­tungs­hal­tun­gen und Kli­schees west­li­cher Seh­ge­wohn­hei­ten zu bedienen. 

„Blind­fold“ bietet eine klug insze­nierte Geschichte mit alter­na­ti­ven Ant­wort­mög­lich­kei­ten. Der Film stellt wich­tige, leider viel zu selten gestellte Fragen: Wie ver­ar­bei­ten die Men­schen in der Ukraine die Gegen­wart des Krieges? Eines Krieges, der sich nicht im Zustand einer offen­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung befin­det, sondern latent immer wei­ter­geht, also noch längst nicht abge­schlos­sen ist. Und: Ist ein Her­aus­tre­ten aus dieser Situa­tion über­haupt möglich?

Diese Film­kri­tik ist im Work­shop „Young Critics“ des Ukrai­nian Film­fes­ti­val Berlin ent­stan­den. Geför­dert durch das Pro­gramm „Culture for changes“ der Ukrai­ni­schen Kul­tur­stif­tung und der Stif­tung EVZ. Das zweite ukrai­ni­sche Film­fes­ti­val fand vom 7. – 17. Oktober in Berlin, Stutt­gart und online statt. 

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