Morden ohne Folgen?
Warum der bisher ungesühnte Mord an der Aktivistin Katja Handsjuk für den ukrainischen Rechtsstaat richtungsweisend ist. Ein Kommentar von Lennart Jürgensen
Heute vor einem Jahr starb die ukrainische Aktivistin und Lokalpolitikerin Katja Handsjuk an den Folgen eines Schwefelsäure-Angriffs. Für die Aktivisten rund um die Initiative „Wer hat Katja Handsjuk auf dem Gewissen“ [wörtliche Übersetzung: „bestellt“] ist der Mordfall weiterhin eindeutig: lokale Behörden und Generalstaatsanwaltschaft kooperieren und versuchen den Mord zu vertuschen. Auch der neue Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka, der unter Präsident Selenskyj berufen wurde, hat bisher wenig bewegt. Die Aktivsten kämpfen aber weiterhin beharrlich für die Aufklärung des Falles und gehen mit der Losung „Ein Jahr ohne Katja“ in vielen ukrainischen Städten auf die Straßen.
Katja Handsjuk arbeitete in ihrer Heimatstadt Cherson im Südosten der Ukraine als zivilgesellschaftliche Aktivistin und setzte sich gegen pro-russische Tendenzen und Korruption in der Lokalpolitik ein.
Als eine Stimme der Gerechtigkeit machte sie sich damit aber auch viele Feinde in der Hafenstadt.
In einem besonders brisanten Fall deckte sie die unrechtmäßige Abholzung eines Naturschutzgebietes auf. Nachdem sie diesen Korruptionsfall sowie viele weitere Missstände öffentlich anprangerte, wurde sie Opfer eines Schwefelsäure-Angriffs, durch den 39 Prozent ihres Körpers verätzt wurden. Am 4. November 2018 starb sie nach elf Operationen und drei Monaten im Krankenhaus an den Folgen des Angriffs.
Die Täter wurden im Austausch für Informationen an den Geheimdienst (SBU) zu niedrigen Haftstrafen verurteilt, die Hintermänner sind jedoch weiterhin auf freiem Fuß. Dazu gehören nach Recherchen von Journalisten Wladyslaw Manher, Vorsitzender des Gebietsrates der Chersonsker Region, der ehemalige stellvertretende Gouverneur der Region Jewhen Ryschtschuk sowie der ehemalige Chef der Regionalverwaltung Andrij Hordjejew. Letztere sollen Bestechungsgelder an die Generalstaatsanwaltschaft gezahlt haben, damit gegen sie nicht ermittelt wird. Manher, der weiterhin im Amt ist, konnte sich mit Hilfe lokaler Institutionen und der Polizei bereits mehreren gerichtlichen Vorladungen nach Kyjiw entziehen und Ermittlungen vor Ort zurückhalten.
Die Hinterhältigkeit des Mordanschlages und die offensichtliche Verwicklung lokaler Politiker haben zu großer Empörung in der ukrainischen Zivilgesellschaft geführt.
So wurde als Reaktion auf die Vertuschungsversuche die Initiative „Wer hat Katja Handjsuk auf dem Gewissen“ gegründet, in der sich mehrere hundert Aktivisten mit sehr unterschiedlichen politischen Vorstellungen vereinigen. Auf den Veranstaltungen der Initiative treten linke Aktivisten, moderate Menschenrechtsgruppen und national-patriotische Gruppen auf. Die politische Gesinnung scheint dabei in den Hintergrund zu treten und zeigt, dass zivilgesellschaftliche Gruppierungen auch über politische Gräben hinweg zusammenarbeiten können. Dass die radikalen Kräfte diese Situation auch für ihre eigenen Interessen ausnutzen, kann dabei nicht ausgeschlossen werden.
Die Initiative machte bisher unter anderem in Fußballstadien mit Bannern, mit Demonstrationen vor dem Geheimdienstgebäude des SBU oder der Präsidialadministration sowie mit einem 8 x 18 m großen Graffiti mit der Aufschrift „Die Mörder von Katja werden ihre Strafe bekommen“ am Stadtratsgebäude von Cherson auf den Fall aufmerksam. Besonders das Graffiti bekam größere mediale Aufmerksamkeit. Diese Aktion richtete sich direkt gegen Wladislaw Manher und die vermeintlichen Hintermänner. Die Aktion wurde offensichtlich von Teilen der lokalen Behörden gedeckt, da die Polizei anwesend war, allerdings nicht eingriff. Daneben besuchen Aktivisten alle Verhandlungen und Pressekonferenzen, die mit dem Fall zusammenhängen. Ihre Ergebnisse zu Recherchen über den Mord teilen sie auf ihrer Facebookseite, der mittlerweile mehr als 12.500 Personen folgen. Die bisher größte Aktion war eine Reihe von Demonstrationen im Mai diesen Jahres in über 50 ukrainischen und auch acht Städten außerhalb der Ukraine, darunter Warschau, New York und Berlin.
Seit einem guten Jahr kämpft die Initiative für eine lückenlose Aufklärung des Falls und fordert dies vom Präsidenten wie auch schon zuvor von dessen Vorgänger Petro Poroschenko. Selenskyj traf sich zwar kurz nach seiner Inauguration mit dem Vater von Katja Handsjuk und versicherte ihm die Aufklärung des Mordes. Seitdem hat sich jedoch nichts getan. Zwar wurde der bereits in unterschiedliche Skandale verwickelte Generalstaatsanwalt Luzenko, der zudem kein ausgebildeter Jurist ist, nicht erneut berufen und von Ruslan Rjaboschapka abgelöst. Letzterer hatte kürzlich in einer Fernsehdebatte beim Sender ICTV immerhin eingeräumt, dass eine Systematik hinter den Überfällen auf ukrainische Aktivisten im vergangenen Jahr steckt.
Allein 2018 gab es über 55 Anschläge auf Aktivisten aus der ukrainischen Zivilgesellschaft, von denen nur die wenigsten eine Strafverfolgung nach sich zogen.
Am letzten Freitag ließ die Generalstaatsanwaltschaft außerdem verlautbaren, dass in den nächsten Tagen in der Sache Handsjuk Fortschritte in den Untersuchungen veröffentlicht werden können. Am gestrigen Sonntag gab der SBU eine Pressekonferenz und bestätigte offiziell viele über den Fall bereits aufgedeckte Details und versicherte, dass die Untersuchungen bis zur Aufklärung des Falls fortgeführt werden. Möglicherweise sind das in der Summe alles Anzeichen dafür, dass die Ermittlungen tatsächlich Fahrt aufgenommen haben.
Solange darauf aber keine Taten folgen, senden der Staat und seine Institutionen weiterhin das Signal, dass Übergriffe auf Aktivisten in der Zivilgesellschaft folgenlos bleiben. Sollten wirklich Fortschritte vorgezeigt werden, könnte dies ein Wendepunkt für den ukrainischen Rechtsstaat bedeuten. Eine lückenlose Strafverfolgung würde das Vertrauen in das Justizsystem stärken.
Der Staat muss dafür ein Exempel statuieren und deutlich machen, dass Übergriffe auf Aktivisten sowohl aus der Vergangenheit als auch in der Zukunft ausnahmslos und gänzlich verfolgt werden. Er könnte damit einen Neustart für den ukrainischen Rechtsstaat schaffen.
Eine fortlaufende Vertuschung würde das angeschlagene Vertrauen in die staatlichen Institutionen noch weiter schwächen. Nicht ohne Grund sehen Umfragen zufolge 55% der ukrainischen Bevölkerung Korruption immer noch als eines der größten Probleme in der Ukraine an, noch vor dem Krieg im Donbas, den 48% als eines der größten Probleme ansehen. Die konsequente Etablierung rechtsstaatlicher Prinzipien wäre für die Ukraine nicht nur für die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie für den Schutz seiner Bürger und Bürgerinnen äußerst wichtig, sondern auch langfristig dafür, um ausländischen Investoren eine sichere Rechtsgrundlage zu bieten. Der Fall Katja Handsjuk nimmt daher unabhängig von seinem Ausgang eine richtungsweisende Stellung für den ukrainischen Rechtsstaat ein. Es liegt nun an Präsident Selenskyj, dass er seinen Versprechen auch Taten folgen lässt – denn bisher besteht seine Politik eher aus Floskeln und halbherzigen Reformen als aus wirklichen Veränderungen.
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