Der russische Aufmarsch ist mehr als nur Drohgebärde
Die russischen Truppenbewegungen in und um die Ukraine beherrschen die Schlagzeilen vieler Medien. Experten streiten, ob dieser Aufmarsch nur eine Drohung ist, oder doch eine ernsthafte Kriegsvorbereitung, und wenn zweiteres, wie ein möglicher Krieg abzuwenden sei. Bei letzterer Aufgabe hat sich Europa nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Von Gustav Gressel
Zunächst zum militärischen: Die von der „Washington Post“ und der „Bild“-Zeitung kolportierten russischen Angriffspläne decken sich durchaus mit dem in Russland und besetzten Teilen der Ukraine beobachtbaren Truppenaufmarsch. In Jelnja im Gebiet Smolensk ziehen sich Teile der 41. Armee zusammen, die entweder über Homel in Belarus oder über Brjansk in Richtung Kijyw vorstoßen könnten. Die 20. Armee, ohnehin an der nordöstlichen Grenze der Ukraine stationiert, befindet sich in voller Gefechtsbereitschaft. Sie wird verstärkt durch Einheiten der ersten Gardepanzerarmee, die sich am Truppenübungsplatz Pogonowo an der ukrainischen Grenze sammeln. Im Umland von Kursk wurden Einheiten aus dem Westlichen Militärbezirk gesichtet. Die 8. Armee im Gebiet Rostow-am-Don ist in voller Gefechtsbereitschaft, in den vergangenen Wochen intensivierte sich die Verlegung russischer Truppen und Munition in den Donbas – wo die Streitkräfte der sogenannten Separatisten der 8. Armee unterstehen.
Auch auf der Krim ziehen sich Truppen aus dem Nordkaukasus und Krasnodar zusammen, Landungsschiffe der Nordmeerflotte, die bereits im März in das Schwarze Meer verlegt wurden, erhöhen die amphibische Schlagkraft dieser Flotte. Die 4. Luftarmee im südlichen Militärbezirk und die 6. Luftarmee im westlichen Militärbezirk befinden sich in erhöhter Einsatzbereitschaft, letztere konnte am 21. November den frisch renovierten und erweiterten Stützpunkt Woronesch-Baltimor in Betrieb nehmen.
Aufmarsch mit mehr Verschleierung
Im Vergleich zum Frühjahr versucht das russische Militär, den Aufmarsch und vor allem Details davon der Beobachtung zu entziehen – Truppen werden bei Nacht verlegt, kurzfristige Manöver sollen die Verlegungen verschleiern und weite Teile des Grenzgebietes zur Ukraine wurden zum Sperrgebiet erklärt, das westliche Journalisten nicht mehr betreten dürfen.
Daher sind viele Details schwer zu bewerten. Munitions- und Treibstoffkonvois wurden gesichtet, aber das genaue Ausmaß der logistischen Vorbereitung ist schwer abzuschätzen. Eine Verlegung von Nationalgarde-Einheiten – eine paramilitärische Organisation, die im Falle eines Einmarsches für die Errichtung des Besatzungsregimes zuständig wäre – wurde bisher nur im Donbas beobachtet. Sollte eine weiträumigere Eroberung und dauerhafte Besatzung geplant sein, müssten weitere Einheiten verlegt werden.
Dennoch ist die an der ukrainischen Grenze und den besetzten Gebieten versammelte Streitmacht nicht unerheblich. Allein auf russischem Gebiet tummeln sich 45 taktische Bataillonskampfgruppen (BTG), hinzu kommen weitere Kampfunterstützungstruppen (Artillerie, Raketenartillerie, Pioniere, Fliegerabwehr) und die russischen Kräfte im Donbas (noch einmal mehr als 20 BTG, allerdings teils mit geringerer Kampfkraft als reguläre russische Einheiten). Drei Luftlandedivisionen (die 56. in Krasnodar, die 96. und 104. im Raum Moskau) könnten zudem noch relativ kurzfristig verlegt werden.
Gefahr droht schon zu Weihnachten
Damit wäre die russische Armee schon heute in der Lage, die Ukraine erfolgreich anzugreifen – wenn auch nicht dauerhaft zu besetzten. Die Zeit um Weihnachten, wenn im Westen Entscheidungen etwas länger dauern – könnte bereits gefährlich werden. Sollte eine langfristige Besatzung angestrebt werden, müssten weitere Kräfte, insbesondere Nationalgarde und Spezialkräfte zur Guerillabekämpfung herangeführt werden, was für den in der „Washington Post“ und „Bild“ zitierten Angriffstermin von Januar-Februar 2022 mit weit mehr Kräften (75–100 BTG zum Einmarsch, 50–100 BTG für Besatzungsaufgaben) spricht.
Die russischen Kriegsvorbereitungen sind also als ernsthaft zu betrachten. Allerdings gehören auch die Vorbereitung und Vorübung möglicher militärischer Szenarien zu den Aufgaben einer Armee, so dass das nicht automatisch heißt, dass Präsident Wladimir Putin auch einen Einsatz befehlen wird. Was könnte ihn davon abhalten?
Zunächst muss man leider davon ausgehen, dass Moskau den Willen der Ukraine, Widerstand zu leisten – auch über einen russischen Sieg hinaus – als geringer einschätzt als es sollte. Selbst relativ liberale Kreise bezeichnen widerstandsbereite Ukrainer als „Nationalisten“ und nehmen die Möglichkeit einer eigenständigen ukrainischen Reaktion – unabhängig von Entscheidungen des Westens – nicht besonders ernst. Dies ist freilich Moskauer Wunschdenken, hat sich aber durch jahrzehntelange Propaganda so verinnerlicht, dass es für Tatsachen gehalten wird.
Desweiteren hat massive Repression in Verbindung mit strenger Überwachung digitaler Kommunikation nach chinesischem Vorbild bereits erfolgreich zur Unterdrückung von Oppositionsbewegungen in Belarus und Russland beigetragen. Der Kreml könnte dieses Problem für lösbar halten. Die öffentliche Meinung in Russland scheint einen Krieg derweil zu unterstützen, es fragt sich nur wie lange und zu welchem Preis sie das weiter tun würde, wenn einmal die Blase vom „gemeinsamen Volk“ blutig geplatzt ist.
Luftverteidigung ist die Achillesferse der Ukraine
Zumindest aus Putins Weltsicht problematisch ist der Faktor Zeit. Die ukrainische Armee ist schon lange nicht mehr in dem desolaten Zustand von 2014, als erwartet wurde, dass Russland in drei bis vier Tagen zur rumänischen Grenze durchmarschiert. Sieben kampferprobte luftbewegliche Brigaden aus Berufssoldaten, vier Panzer- und neun mechanisierter Brigaden bilden das Rückgrat der ukrainischen Verteidigung. Diese erst einmal niederzuringen dauert trotz aller materiellen Überlegenheit Russlands Zeit. Polen hielt 1939 in ähnlich aussichtsloser Lage die Wehrmacht fünf Wochen hin, der Karabach-Krieg 2020 war auch früh entschieden, dauerte aber trotz kleinerer geografischer Ausdehnung eine Woche länger.
Ähnliches gilt für Russlands Möglichkeit, die Ukraine durch eine strategische Luftoffensive in die Knie zu zwingen. Zwar ist die Luftverteidigung die Achillesferse der ukrainischen Armee – Flugzeuge und Fliegerabwehrlenkwaffen sind alle aus sowjetischer Produktion, Russland könnte diese Systeme gut lokalisieren, stören und bekämpfen -, doch die Liste möglicher Ziele ist lang: zuerst müssten Luftwaffe und Luftverteidigung ausgeschaltet werden, dann die strategische Führungsinfrastruktur, wichtige Bewegungslinien und logistische Einrichtungen (Depots, etc.) zerstört werden, dann erst kann man sich der Zerschlagung der Armee aus der Luft widmen. Es besteht kein Zweifel, dass die russischen Luftstreitkräfte, unterstützt durch Angriffe mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen, das könnten. Aber sie brauchen dafür Zeit.
Der Zeitfaktor wird vor alle dann ein Problem, wenn eine Reaktion der USA und der NATO nicht ausgeschlossen werden kann. Um das zu unterbinden, müssten etwa im Fall einer Invasion mögliche Aufmarschräume in der Westukraine frühzeitig durch Fallschirmjäger in Besitz genommen werden. Diese würden dann aber Tage bis Wochen ohne Anschluss and andere russische Einheiten durchhalten müssen, tief in feindlischem Gebiet umgeben von ukrainischen Garnisonsstätten. Im Falle eines strategischen Bombenkrieges müsste dieser auf die gesamte zivile Verkehrsinfrastruktur im Westen ausgedehnt werden, und somit wiederum vom eigentlichen Ziel, der Zerschlagung der ukrainischen Führung und des Militärs, ablenken.
Daher ist eher zu erwarten, dass Moskau eine militärische Aggression zunächst mit begrenzten Zielen beginnt: eine Offensive der „Separatisten“ würde noch keine formelle russische Kriegsbeteiligung bedeuten. Da die Ukraine aber aufgrund der akuten Bedrohung über der Grenze ihre Reserven zurückhalten müsste, um die eigene Tiefe zu schützen, könnte sie auf eine solche Eskalation nicht adäquat reagieren. Auch ein begrenzter russischer „Sieg“ im Donbas würde die Ukraine innenpolitisch destabilisieren, das Vertrauen in die Armee und politische Führung erschüttern. Auch könnte dann Moskau sehen, ob mit dem Westen zu rechnen sei oder nicht. Sollte die Ukraine dann russische Bedingungen nicht erfüllen und der Westen kneifen, kann immer noch eine der beiden oberen Optionen realisiert werden. Werden die Kosten als überproportional hoch bewertet, kann Putin immer noch zurücksetzen ohne innenpolitische Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzten.
Eine militärische Eskalation ist also nicht unausweichlich, es gibt Stellschrauben, die bewegt werden können, um Putin vor einem Waffengang abzuschrecken. Wirtschafts- und personenbezogene Sanktionen allein werden dies aber nicht tun. Der Westen muss sich zumindest eine militärische Reaktion offenhalten, so unwahrscheinlich sie ist, allein um die russische militärische Planung mit Unwägbarkeiten zu konfrontieren. Eine Vorwärtsstationierung von Truppen in Polen, Rumänien und der Slowakei würde den Abschreckungseffekt verstärken.
Obwohl die Ukraine formell kein NATO-Mitglied ist, sollte ihr Überleben als unabhängiger, souveräner Staat den Europäern nicht gleichgültig sein. Aufgrund der militärischen Unentschlossenheit des Westens besteht durchaus die Chance, dass sich Putin zu einem Angriff auf die Ukraine entschließt, im eigenen Wunschdenken verhaftet, dort auf wenig Widerstand zu stoßen. Die Kosten eines solchen Unterfangens werden erst im Nachhinein offensichtlich, wenn sich Verluste in Menschen und Material häufen.
Freilich wird Putin dann nicht etwa zurücktreten. Wahrscheinlich ist, dass er erneut mit Härte antwortet: Mit Repression im Inneren Russlands, um die Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Krieges zu unterdrücken, und mit totaler Repression in der Ukraine, um Widerstand mit den bereits im Donbas angewendeten Mitteln auszuschalten: Die Errichtung eines engmaschigen Lagernetzes für Inhaftierung und Folter, in denen unerwünschte Personen konzentriert werden.
Wenn wir heute nicht für die Ukraine kämpfen wollen, werden wir morgen für uns selbst kämpfen müssen
Externe Aggression und interne Repression standen schon in der Vergangenheit in enger Wechselwirkung, und die Verrohung und Enthemmung des russischen Sicherheitsapparates in der Ukraine würde sich auch in einer Radikalisierung russischer Außenpolitik niederschlagen, zumal ja schon aus Propagandagründen der Westen an den hohen Verlusten in der Ukraine schuld sein müsse. Dass die ukrainische Kolonie dann gegen den westlichen Feind vorwärts verteidigt werden muss – mit direkten militärischen Vorbereitungen gegen die NATO- und EU-Länder in Südosteuropa – versteht sich von selbst.
Wenn wir also heute nicht für die Ukraine kämpfen wollen, werden wir morgen für uns kämpfen müssen. Selbst ein Eingehen auf die russischen Forderungen am Verhandlungstisch wird daran nichts ändern: eine Isolation der Ukraine von jeglicher NATO-Unterstützung soll eine militärische Intervention Russlands nur erleichtern. Moskaus angeblichen „Sicherheitssorgen“ sind reine Fiktion. Auch wird ein Russland, dem man unter vorgehaltener Waffe nachgegeben hat, die militärische Drohkarte öfter und vielseitiger einsetzen als in der Vergangenheit, da sie scheinbar schneller zum Ziel führt als lange Verhandlungen. Es wird auf diesem Feld also den Europäern nichts erspart bleiben. Russland ist nur durch Stärke und militärischer Abschreckung beizukommen. Je früher, desto besser.
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