„Ich möchte schreien“
Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko war am Tag der russischen Invasion auf Lesereise in Polen. Während ihres unfreiwilligen Exils entstand ihr essayistisches Tagebuch „Die längste Buchtour“, das auch westlicher Ignoranz einen Spiegel vorhält.
Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 wird die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko, die sich zu dieser Zeit gerade auf einer Lesereise in Polen befindet, von einem westlichen Journalisten angerufen. „Als er mit aufrichtiger Neugier fragte, was ich denn meine, was Putin wolle, antwortete ich mit einem Schrei. Ich ging im Zimmer auf und ab und schrie den armen Mann durchs Telefon derart an, als verkörpere er den ganzen kollektiven Westen: ‚Machen Sie sich über mich lustig? Er hat euch doch schon dutzende Male direkt ins Gesicht gesagt, was er will: Dass die Ukrainer verschwinden ... Sie sind gekommen, um uns zu töten, und ihr seht zu und fragt euch auch noch – oh interessant, doch was will der Mörder eigentlich?“
Wider das Talkshow-Geplapper
Oksana Sabuschko, 1966 im nordwestukrainischen Luzk geboren, spricht und schreibt Klartext in ihren soeben erschienenen Aufzeichnungen „Die längste Buchtour“. Und ja, manchmal schreit sie eben auch – am Telefon oder auf diesen Buchseiten, auf denen sie erklären und aufklären will und dabei immer wieder schier verzweifelt an all jenen im Westen, die im angeblichen „Ukrainekonflikt“ vor allem Haltungsnoten an die Opfer vergeben und aus sicherer Talkshow-Distanz vor „weiterer Eskalation“ warnen. Auch deshalb gilt ihr Sarkasmus einem medial und politisch tonangebenden West-Milieu, das sich einerseits so unendlich viel auf die eigene Sensibilität in Sachen „Nachhaltigkeit“ zugutehält, andererseits aber völlig unfähig scheint, politische Horrorereignisse in ihrem Kontext und ihrer nun tatsächlich „nachhaltigen“ Wirkung auch nur ansatzweise zu begreifen.
„Das digitale Zeitalter gibt dem Denken in Clips, in instagramfähigen Bildern statt zusammenhängender Geschichten den Vorzug, Geschichten, die länger dauern können als eine Generation. Deshalb ist es auch das goldene Zeitalter für die Wiedergeburt des Totalitarismus: Totalitäre Propaganda versorgt die Gehirne mit vorgefertigten Textbausteinen zum Erfassen schwer verständlicher Prozesse – und das, bevor das Gehirn die Prozesse selbst zur Kenntnis genommen hat.“
Historische Tiefenschürfungen
Sabuschkos Perspektive, die über die jüngsten Schrecken des Tages hinausgeht und Zusammenhänge und Verbindungslinien aufzeigt, wird dabei zur intellektuellen Gegenwehr. Auch deshalb ist die Autorin beinahe erleichtert, nach Kriegsbeginn nun wenigstens hier im benachbarten Polen zu sein, wo man trotz aller politischen Differenzen die Fähigkeit bewahrt hat, Parallelen zu erkennen. „Vom Heldenmut der Einheiten 1939 auf der Westerplatte, die man in Polen heute mit der ukrainischen Schlangeninsel vergleicht, über den Verrat des Westens und dem in Blut ertränkten Warschauer Aufstand von 1944, den die Alliierten durch ihre Ferngläser beobachteten, so wie die Welt heute die Zerstörung Mariupols im Fernsehen sieht. Und besonders grell: die Massenvergewaltigungen und Raubzüge der Roten Armee im Jahr 1944, worin die Polen die Ereignisse in Irpin und Butscha wiedererkennen. Polen versteht uns von allen Ländern am besten, sie erkennen sich selbst im Spiegelbild des Krieges.“
Was aber ist mit der Leserschaft im Westen, die vielleicht allenfalls zu rühren ist von der Geschichte einer prominenten feministischen Autorin aus Kiew, die nun in diesen ersten Kriegstagen von ihrem Mann und ihrer Familie getrennt ist? Oksana Sabuschko spart das Private nicht aus und beschreibt den Trennungsschmerz und ihre Todesangst um die Liebsten in der mit Bomben und Raketen angegriffenen ukrainischen Hauptstadt – aber sie bleibt dabei nicht stehen. Geht stattdessen gleichsam auf ihr Publikum im Westen zu und versucht die Genese des jetzigen Angriffskrieges zu erklären. Geduldig und luzid, mitunter repetierend, ab und an begreiflicherweise aber dann doch wütend auffahrend, wenn sie im Internet wieder einmal mit der Rhetorik jenes dummdreisten „Tja, mit dem Wissensstand von heute...“ konfrontiert wird.
„Die längste Buchtour“ ist deshalb kein abgeklärt kühler Essay, sondern hat durchaus mitunter Pamphlet-Charakter, der auch Personalisierungen nicht scheut – zum Erkenntnisgewinn der Lesenden, die hier sehr viel erfahren über Ignoranz und hochfahrende Arroganz im Inneren unserer Gesellschaften. „Angesichts des bekannten amerikanischen Politikwissenschaftlers John Mearsheimer – der am Tag des Massakers von Butscha in The Economist den Artikel veröffentlichte ‚Why the West is principally responsible for the Ukrainian crisis´, der in seiner Naivität atemberaubend ist – versprach ich mir, sogar leicht widerwillig, wenn die russische Armee zu ihm nach Chicago kommt und ein Trupp Soldaten in Zugstärke ihn auf unnatürliche Weise höchst persönlich vergewaltigt, dann werde ich, falls ich noch lebe, unbedingt etwas über die ‚Krise in Chicago´ schreiben und wie man sie hätte vermeiden können, wäre der Herr Professor nur ruhig sitzen geblieben.“
Vergreift sich da jemand im Ton? Im Gegenteil: Auf drastische Weise werden hier, aber auch in Sabuschkos prägnanter Analyse des langen beliebten Politikerspruchs von „einem Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ als „Slogan des stalinistischen Nachkriegsimperialismus“ die Konsequenzen eines ebenso empathielosen wie ahistorischen Schwadronierens verdeutlicht. Zur häufig verklärenden Sicht auf den Zweiten Weltkrieg schreibt sie: „Inzwischen sollte man dem Satz ´Die UdSSR besiegte das Nazi-Reich‚ endlich der Wahrheit halber hinzufügen: ‚Die UdSSR hat zusammen mit dem Nazi-Reich den Zweiten Weltkrieg entfesselt und sich nie dafür verantwortet´.“
Ein Blick sogar hinaus über die Ukraine
Ihr Blick – und auch das ist eine nicht zu unterschätzende Leistung angesichts all des Schreckens – verengt sich dabei jedoch keineswegs, sondern weitet sich sogar. Oksana Sabuschko erinnert an Finnland und an den zurückgeschlagenen russischen Angriffskrieg vom Winter 1940, an die Balten und deren ungehörtes Warnen vor großrussischem Expansionismus seit 2014, dazu an Rumänien, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum vulnerablen Moldawien und dem bereits 1992 von Russland okkupierten Transnistrien befindet. „All die ehemaligen ‚Zellengenossen´ erleben nun traumatische Flashbacks, und die vernarbten Wunden beginnen mit neuer Kraft zu schmerzen. Es ist an der Zeit, es endlich zu erkennen: In all den Jahren seit dem ‚Reset‚ von 1991 hat Moskau stetig und konsequent daran gearbeitet, das Imperium wieder herzustellen.“
Detailliert beschreibt sie, wie z. B. unter dem Deckmantel einer „Föderalisierung der Massenmedien“ in der Ostukraine die Kreml-Propaganda von Jahr zu Jahr intensiver wurde und dort fleißig an jenem Wording „einer in pro-westlich und pro-russisch geteilten Ukraine“ gearbeitet wurde, das noch heute viele im Westen nachbeten anstatt zu hinterfragen. Dass sie dann im Gegenzug mitunter ein wenig zu oft homogenisierend von „den Ukrainern“ spricht, als hätte es nicht auch in diesem Nachfolgestaat der UdSSR reichlich postsowjetische Machtstrukturen gegeben, verwundert ein wenig – nicht zuletzt angesichts ihrer eigenen Bücher, welche doch wie keine anderen die anachronistischen Macho-Strukturen ihres Landes seziert hatten. Das aber ist nur ein geringfügiger Einwand, da sie in ihrem Buch doch so unendlich vieles leistet: Individuelle Selbstversicherung in Zeiten des Krieges, tagesaktuelle und historische Analyse – und gleichzeitig eine wütende, doch stets präzise Anrede an all jene im Westen, die sich noch immer vor den mörderischen Konsequenzen der eigenen Blindheit wegducken.
Mögen Oksana Sabuschkos Aufzeichnungen deshalb gerade hierzulande ein Augenöffner sein!
Oksana Sabuschko: „Die längste Buchtour“, aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, Droschl Verlag, Graz 2022, 168 Seiten
Gefördert durch
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.