Der Krieg der Vergangenheit, der Krieg der Gegenwart. Erfahrungen einer ukrainisch-russisch-deutschen Studierendenbegegnung
Geschichtsstudierende aus Russland, der Ukraine und Deutschland haben ein Jahr lang untersucht, wie in ihren jeweiligen Ländern an vergessene Opfergruppen des Nationalsozialismus unter deutscher Besatzung erinnert wird. Ziel war es, eine interaktive Internetplattform zu erarbeiten – und zugleich, sich über diese Zusammenarbeit und trotz des aktuellen Krieges in der Ostukraine näher zu kommen. Eine Reportage von Ulrike Huhn.
Zweierlei Kriegsspuren
Der erste Eindruck vom Krieg, noch bevor das Flugzeug die Landebahn berührt: „Es ist strengstens verboten, Film- oder Fotoaufnahmen auf dem Flughafen zu machen“, informiert der Pilot der Austrian Airlines Maschine bei der Landung in Dnipro. Es ist auch schnell klar warum: Am Rande des Rollfelds stehen Militärmaschinen, kleine zwar, und nicht viele, aber es sind keine Relikte aus sowjetischer Zeit, sondern es ist aktuelles Kriegsgerät.
Die neue Zeit und die Relikte aus der alten – sie werden uns in dieser Woche im Mai 2019 in der viertgrößten Stadt der Ukraine (nach Kyjiw, Charkiw und Odessa) immer wieder vor neue Fragen stellen. Es beginnt schon mit dem Namen: Die Millionenstadt Dnipro heißt erst seit 2016 so. Von 1926 bis 2016 hieß die am Dnepr gelegene Stadt Dnipropetrowsk oder Dnepropetrowsk nach dem sowjetischen Revolutionär Grigori Petrowski, dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Ukrainischen Sowjetunion Unionsrepublik.
Dnipro ist für unsere Studierendengruppe aus Bremen die zweite Station in dem für ein Jahr konzipierten trilateralen Projekt, das von dem Berliner Verein „Kontakte-Kontakty“ e.V. verantwortet und von mehreren Geldgebern, darunter das Auswärtige Amt und die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, finanziert wird. Ziel ist es, die Erinnerung an vergessene Opfer des Nationalsozialismus in den drei beteiligten Projektländern Deutschland, Ukraine und Russland zu erforschen und zu bewahren. Dazu erarbeiten Studierende der beteiligten Universitäten eine interaktive Internetplattform, die mit Informationen zu konkreten historischen Orten gefüllt werden soll, an denen während des 2. Weltkriegs Menschen gequält, zur Zwangsarbeit gezwungen und getötet worden sind. Beteiligt sind neben Geschichtsstudierenden der Universitäten Bremen und Dnipro auch Studierende von der Südrussischen Universität Rostow am Don sowie der renommierten Moskauer Higher School of Economics, die in einem englischsprachigen Studiengang Public History studieren und mit digitalen Formaten arbeiten. Sie sind es, die mit Unterstützung einer professionellen Designerin auch die Internetplattform entwerfen. Insgesamt je sechs ukrainische und deutsche sowie acht russische Studierende sind an diesem Projekt beteiligt.
Mit den Russen nur via Skype
Das ist eine vielfache Herausforderung, auch deshalb, weil sich die ukrainischen und russischen Studierenden nur in Bremen begegnen können. Das ukrainische Bildungsministerium hat seit der russischen Annexion der Krim und dem hybriden, offiziell nicht erklärten, aber von russischen Truppen unterstützten Krieg in der Ostukraine die Zusammenarbeit ukrainischer Bildungseinrichtungen mit russischen Partnern untersagt. Für die ukrainischen Studierenden der Staatlichen Oles-Hontschar-Universität Dnipro ist das Projekt offiziell ein bilaterales, deutsch-ukrainisches Projekt. Die russischen Studierenden sind während der Workshops in Dnipro immer wieder via Internet an Absprachen zur weiteren Ausarbeitung der Internetplattform beteiligt. So wird in Dnipro sicherheitshalber hinter geschlossenen Türen gemeinsam von allen Projektbeteiligten darüber abgestimmt, welches der von den Moskauern entworfenen Logotypen zukünftig die Plattform graphisch prägen soll und wer eigentlich zu den Gruppen der „vergessenen NS-Opfer“ gehört. Hitzig wird darüber diskutiert, dass an die sowjetischen Partisanen in Deutschland kaum erinnert wird, während im Verwaltungsgebiet Dnipro „in jedem Dorf“, so einer der Studenten, die in sowjetischer Zeit errichteten Denkmäler stehen. Aber sind Partisanen nun eigentlich als Soldaten oder als Zivilbevölkerung anzusehen, geht es um die von Moskau aus zentral befehligten militärischen Partisanenverbände, oder um Bauern, die in Vergeltungsmaßnahmen für von Partisanenverbänden verübte Anschläge auf Bahnstrecken oder Militäreinrichtungen brutal getötet wurden? In der Abstimmung steht es Patt, die Partisanen finden keine Mehrheit und kommen nicht als eigene Gruppe auf die Seite.
Bremen als Drehscheibe und der rosa Elefant
Bei der ersten Begegnung in Bremen im September des vergangenen Jahres konnten sich alle Projektteilnehmer aus Dnipro, Rostow am Don und Moskau treffen. Die sprachliche Barriere war für die Bremer Studierenden am höchsten. Einige von ihnen lernen Russisch, aber greifen in der Kommunikation doch immer wieder auf Englisch zurück, das allerdings nur die Moskauer flüssig sprechen, nicht aber alle Studierenden aus Dnipro und Rostow. Während der Workshops und der Ausflüge helfen Sprachmittler für die Übersetzung aus dem Russischen, das die Studierenden aus Dnipro fast alle auch als Hauptsprache zuhause in ihren Familien sprechen, auch wenn die offizielle Amts- und Unterrichtssprache Ukrainisch ist. Sprachlich und geographisch, aber auch in ihrem Alltagsleben sind sich die Studierenden aus Rostow und Dnipro also sehr nahe. Die meisten von ihnen bestreiten mit der Reise nach Bremen auch ihre erste Auslands- und Flugreise, während die Moskauer Studierenden durchweg alle schon mehrfach im Ausland waren und mehrfach Praktika oder Stipendien im Ausland wahrgenommen haben.
Der Krieg in der Ostukraine ist während der ersten Projektwoche in Bremen freilich wie ein rosa Elefant immer mit ihm Raum – alle sehen ihn, aber keiner wagt ihn anzusprechen. Dass die russischen und ukrainischen Studierenden in der Jugendherberge miteinander „Mafia“, „activity“ und andere Gruppenspiele spielen, sieht die ukrainische Dozentin, Natalia Wenger, mit Rührung. Sie ist ethnische Russin, ihren Eltern wurde in den 1960er Jahren nach dem Ingenieursstudium im damaligen Dnepropetrowsk dort auch der erste Arbeitsplatz zugewiesen, so blieben sie in der Stadt. Ihre Tochter kam dort zur Welt, für sie ist Dnipro ihre Heimat. Sie leidet unter dem nicht erklärten Krieg in der Ostukraine und wünscht sich für die Ukraine wirtschaftliche Prosperität wie auch eine Stabilität ihrer demokratischen Strukturen. Ihre Tochter ist in die USA ausgewandert; ihren Studierenden wünscht sie eine Perspektive in der Ukraine.
Dass sich russische und ukrainische Studierende näher kommen, sich nicht als Feinde sehen, sondern als Partner begegnen und zusammenarbeiten können, ist eines der erklärten Ziele nicht nur der Projektorganisatorinnen, sondern auch der Geldgeberinnen. Und eine der größten Herausforderungen des Projekts. „Wir können nicht nicht über den Krieg in der Ostukraine reden“, das war den Organisatorinnen Rosanna Dom und Ragna Vogel vom Berliner Verein Kontakte-Kontakty e.V. klar. In Bremen fand während der ersten Projektwoche ein Gesprächsworkshop zur Situation in der Ostukraine statt, der von einer in den Konfliktregionen des Kaukasus und Osteuropas tätigen Mediatorin, Andrea Hapke, geleitet wurde. In gemischten Kleingruppen, jeweils mit einem Studierenden aus den vier Städten, sollen sie sich gegenseitig erzählen – und vor allem zuhören: „Wie hast Du von den bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine erfahren? Hat sich dadurch in Deinem Leben etwas verändert? Was? (Wie) Spürst du den bewaffneten Konflikt und/oder seine Folgen?“ Und schließlich: „Ein Satz, der in diesem Zusammenhang Mut macht“. Jeder hat dafür zehn Minuten Zeit, es wird nichts kommentiert und es werden keine Fragen gestellt. Dann spricht der oder die nächste.
Es ist ein emotionaler Austausch, und gerade für die ukrainischen Studierenden auch eine große Belastung. Eine Studentin hat Angehörige in der Ostukraine verloren, ein anderer kommt ursprünglich aus Donezk. Seine Eltern leben weiterhin dort, haben sich aber entschieden, den Sohn an einer „richtigen“ Universität studieren zu lassen und nicht in der „Volksrepublik Donezk“, einem nirgends anerkannten Staatsgebilde, dessen Universitätsdiplome außerdem der Stadt nicht gelten. Er erzählt offen von seinen Erfahrungen. Seine Eltern sieht er nun selten, obwohl Donezk nur 250 km von Dnipro entfernt liegt – aber hinter mehreren Checkpoints, sowohl ukrainischen als auch welchen der „Volksrepublik Doneck“. „Ich habe Glück gehabt“, sagt er sachlich, „und keine Leichen gesehen“. Im Mai 2014, als die Kämpfe begannen, hatte er gerade die 10. Klasse abgeschlossen. Seine Eltern mieteten sich mit ihm wochenlang in einem billigen Kurressort an der Küste ein, um vor den Kämpfen in Sicherheit zu sein. Als im September die im ukrainischen Schulsystem letzte und entscheidende 11. Klasse begann, zogen sie in die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer, wo sie Verwandte hatten, mieteten eine billige Wohnung am Stadtrand, so dass er seinen Abschluss machen konnte. „Es war schwer“, sagt er nüchtern. Und: sie lebten am östlichen Stadtrand, hörten dort die Granateinschläge der Kämpfe und mussten zwischenzeitlich befürchten, dass sie der Krieg einholen werde.
Den Bremer Studierenden, die sich vorher fragten, was sie eigentlich zu dem Krieg in der Ostukraine zu sagen hätten, wird über die sehr persönlichen Fragen der Gesprächsrunde deutlich, dass auch das Wissen oder Nichtwissen westlicher Politiker, Parteien und Wähler einen Teil der komplexen Auseinandersetzung ausmachen. In der Abschlussrunde kann jede und jeder noch mal einen ihr oder ihm wichtigen Aspekt herausstellen, der von den anderen nicht kommentiert werden soll. Einer der ukrainischen Studierenden richtet sich sehr emotional an die russische Gruppe: „Ich bin bereit, mit Euch als Historiker zusammen zu arbeiten, aber nicht, mit Euch über die Gegenwart zu reden.“ Eine Studentin artikuliert ihre hilflose Wut: „Es ist doch gar nicht unser Konflikt. Wir als junge Leute haben doch gar nichts damit zu tun. Wir könnten uns gut verstehen.“ Der Workshop endet mit einer weiteren, nun nonverbalen Abschlussrunde: jeder soll mit einer Geste seine gegenwärtige Gefühlslage formulieren. In kurzen pantomimischen Gesten werden Umarmungen und Herzchen, aber auch Tränen gezeigt. Es überwiegt eine Atmosphäre der Erleichterung. Der rosa Elefant steht immer noch im Raum, aber er ist kein Phantom mehr, sondern benannt worden.
Bürokratie am Don
Bei der Begegnung in Rostow am Don einige Monate später sind dann nur die Bremer Studierenden dabei; die ukrainische Gruppe aus Dnipro kann nicht anreisen. Aus Bremer Perspektive, nach der langen Anreise über Moskau, registrieren wir erstaunt, wie wenig der Krieg in der Ostukraine hier, nur 200 Kilometer von der Stadt Donezk entfernt, präsent ist. Für sie habe sich seit 2014 eigentlich nichts verändert, erklären uns die russischen Studierenden. Dafür machen wir Erfahrungen mit der russischen Bürokratie, die auch den beteiligten Dozenten der Staatlichen Universität, Wjatscheslaw Schtscherbakow, erstaunen: Der geplante Schulbesuch muss bei der Gebietsverwaltung angemeldet werden. Bis zum letzten Tag ist ungewiss, ob wir die Genehmigung bekommen. Dabei betreibt die Schule, die seit 2018 den Namen von Alexander Petscherskij trägt, ein eigenes, sehr beeindruckendes Museum, das wir schlussendlich doch besuchen dürfen. Petscherskij (1909–1990), der aus Rostow stammte, geriet als Rotarmist in deutsche Kriegsgefangenschaft, wurde als Jude in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und führte dort im Oktober 1943 einen erfolgreichen Aufstand an.
Ukrainische Helden, sowjetische Helden? Zwei Museen an einem Ort
In Dnipro ist der Krieg in der Ostukraine dagegen allgegenwärtig. In der Stadt wurde 2016 ein Museum über die „Anti-Terror-Operation“ eingerichtet, und zwar im Gebäude des 1975 eröffneten Dioramas über die Schlacht am Dnjepr im Herbst 1943. Die Ausstellung zum aktuellen Kriegsgeschehen erscheint so als Fortführung des letzten Krieges. Die Ausstellung präsentiert Informationen zum Budapester Memorandum von 1994 und der Garantie für die territoriale Integrität der Ukraine, vor allem aber Geschichten von beteiligten Soldaten und Freiwilligen der Kämpfe, zur Evakuierung der Zivilbevölkerung, dem Beitrag der Militärmediziner und schließlich in einem großen Saal Porträts und persönliche Gegenstände der mehr als 500 gefallenen Militärangehörigen aus dem Verwaltungsgebiet Dnipro. Aus dem alten Kinosaal mit seinen roten gepolsterten Stühlen ist nun jede Bestuhlung verschwunden; ein ca. 15- minütiger Film über den Krieg in der Ostukraine wird – mit verschiedenen Fassungen und Akzenten auf Ukrainisch und Englisch – nun auf alle vier Wänden projiziert. Die englische Fassung betont die internationalen Reaktionen, zeigt aber auch in schneller Schnittfolge mit schwer auszuhaltenden Aufnahmen und unterlegt mit dramatischer Musik die Kampfhandlungen und – teils mit Elementen eines Animationsfilms – die Unterstützung durch die Zivilbevölkerung in Dnipro.
Oleksander Marintschenko, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Museum, das neben dem Diorama-Museum auch das ATO-Museum verantwortet, kommentiert die Ambivalenz des neuen Museums: Einerseits würde in der heutigen Ukraine die sowjetische Vergangenheit abgelehnt und negiert, andererseits aber in diesem Museum das sowjetische Kriegsnarrativ mit seinem Fokus auf den individuellen Heroismus reproduziert, ohne dass sich die Ausstellungsmacher dessen bewusst seien.
Abschied und Einsichten
Solche Ambivalenzen überhaupt wahrzunehmen und auszutauschen, das ist ein Anspruch des Projekts. Im August 2019 werden alle Projektbeteiligte ein weiteres Mal nach Bremen kommen. Hier soll die fertiggestellte Online-Plattform der Öffentlichkeit präsentiert und zugleich Abschied genommen werden. Zu hoffen ist, dass alle Beteiligten nicht nur neue Kenntnisse über die „vergessenen“ Orte deutscher Besatzung und Verbrechen erworben haben, sondern auch die beteiligten Regionen bunter geworden sind und viele neue Gesichter bekommen haben.
Mehr zum Projekt hier:
https://kontakte-kontakty.de/jugend-und-bildungsprojekte/
https://www.geschichte.uni-bremen.de/?page_id=2880
Die Online-Plattform mit dem Titel „Terra oblita“: https://terraoblita.com/de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.