Made in UA – Ukrainische Musik von 1969–2019
Mit einem, bis heute nicht ganz aufgeklärten Mord an Wolodymyr Ivasjuk ging 1979 die VIA-Ära in der ukrainischen Musik zu Ende, die mit der einzigartigen Mischung aus ukrainischer Folklore, Psychedelic Rock, Bubblegum-Pop, Jazz und Funk die ukrainische Musik lange prägten. Unser Autor Yuriy Gurzhy begibt sich auf Spurensuche und erklärt in einem zweiteiligen Feature die Entwicklung der ukrainischen Musik von 1969 bis heute.
Am 24. April 1979 wurde in einem Wald bei Lwiw die Leiche von Wolodymyr Ivasjuk gefunden. Der Dreißigjährige hatte sich angeblich erhängt. Seine Eltern sowie zahlreiche Freunde und Kollegen sind bis heute skeptisch, was Ivasjuks Todesursache angeht. Man redet davon, dass es kein Suizid, sondern ein vom KGB organisierter Mord war. Laut der 2019 durchgeführten forensischen Untersuchung konnte sich Wolodymyr Ivasjuk unter den gegebenen Umständen nicht allein erhängen.
Mit seinem Tod ging auch die VIA-Ära zu Ende, die vielleicht spannendste Zeit für die ukrainische Popmusik, die es vor der Wende gab. „VIA“ steht für Vokal-Instrumentales Ensemble. Ja, bei uns brauchte man eine Abkürzung für etwas, wofür auf der ganzen Welt schon der Begriff “Rock’n’roll-Band” erfunden worden war. Die sowjetische Bezeichnung VIA wurde jedoch kreiert, um mit politisch korrektem Repertoire eine Alternative zur “verdorbenen” westlichen Pop-Rock-Musik zu bilden. die VIA schossen plötzlich wie Pilze aus dem Boden, wobei das absolute Vorbild die belarussischen Folk-Rocker VIA Pesniary waren. Seit 1970 gaben sie mit ihren himmlischen Stimmen a lá Beach Boys und komplizierten Arrangements das Liedgut sowjetischer Komponisten zum Besten.
Aber die VIA boten Abwechslung, denn welche Musik gab es vor ihnen?
Als in den frühen Sechzigern die ganze Welt euphorisch Elvis und The Beatles feierte, war der Rock’n’Roll-Virus bei uns noch nicht angekommen. Das sowjetische Kulturministerium zählte offensichtlich nicht zu den Fans des neuen elektrischen Sounds. Offensichtlich wurde diese Musik auf der höchsten Ebene als gefährlich und unerwünscht eingestuft, und deswegen war sie im Rundfunk und Fernsehen gar nicht präsent. Und während sich auf der ganzen Welt neue Bands gründeten und neue Schallplatten herauskamen, war die ganze Sowjetunion unfreiwillig auf strenger musikalischen Diät. Das Radikalste, was man damals im Radio zu hören bekam, waren Schlager über die Liebe zum Vaterland, quasi Hardcore-Pop-Propaganda.
Seit 1932 wurde in allen Republiken der UdSSR konsequent die Russifizierungspolitik durchgesetzt. Was heißt das eigentlich? Um es kurz zu fassen, immer mehr russische Sprache und russische Kultur für alle!
Klingt zu abstrakt? Gut, um es sich konkreter vorstellen zu können, ein Beispiel: Noch bevor es mit der neuen Welle der Russifizierung losging, wurde in meiner Heimatstadt Charkiw, der damaligen Hauptstadt der sowjetischen Ukraine, in den 1920ern das Slovo-Haus gebaut. Ein spektakuläres, futuristisches Projekt – ein Zuhause für die ukrainischen Literaten, die dort tatsächlich ein paar glückliche Jahre verbracht haben. Doch bald nannte man das Gebäude unter sich “Krematorium”, da bis bis 1938 zwei Drittel der Bewohner festgenommen und erschossen wurden.
Dreißig Jahre später bedeutete Russifizierung in der Ukrainischen Sowjetischen Republik für die Musiker*innen, dass man unter anderem viel bessere Perspektiven hatte, wenn man auf Russisch sang.
Im Prinzip konnte jede Republik eigene Pop-Stars haben, aber nicht zu viele. Auch ihr Image und ihr Repertoire wurden streng kontrolliert. Sie durften Nationaltracht tragen und in eigener Sprache über die Freuden der Völkerfreundschaft singen (aber noch unbedingt ein paar Lieder auf Russisch!). Völkerfreundschaft war ein wichtiges Thema, was bei keinem Konzert, auf keiner Platte fehlen durfte. Jedoch funktionierte diese Freundschaft nur nach klaren Regeln, und die wurden in Moskau geschrieben.
“Fünfzehn Republiken sind fünfzehn Schwestern!”, hieß es in einem Gedicht, das jeder Schüler des großen Landes auswendig lernen musste (natürlich auf Russisch). “Ich, du, er, sie! Zusammen, ein ganzes Land! Zusammen, eine freundliche Familie!”, so sang, mit einem riesigen Kinderchor im Hintergrund, Sofia Rotaru, die Verkörperung des sowjetischen Mythos und des Internationalismus schlechthin – ein moldauisches Mädchen aus einem westukrainischen Dorf, das in den frühen Siebzigern zum sowjetischen Superstar aufgestiegen war und diesen Status übrigens bis heute behalten konnte.
Rotaru wurde zur erfolgreichsten Interpretin der Songs von Wolodymyr Ivasjuk, der für die ukrainische Popmusik so wichtig war wie Burt Bacharach für die US-amerikanische. Seinen größten Hit hat er bereits 1970 mit 19 Jahren geschrieben. „Chervona Ruta“ (Die rote Weinraute) ist ein Evergreen im wahrsten Sinne des Wortes, bis heute regelmäßig gecovert und bei jeder Party, wo Ukrainer dabei sind, im Chor gesungen. 1971 feierte der Song, gemeinsam vorgetragen von VIA Smerichka und Ivasjuk, seine Premiere im sowjetischen Fernsehen, in einer der bekanntesten Musiksendungen von damals, „Das Lied des Jahres“.
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Die Ukrainer folgten bald mit Dutzenden eigenen Bands (Entschuldigung, VIAs), die mit der einzigartigen Mischung aus ukrainischer Folklore, Psychedelic Rock, Bubblegum-Pop, Jazz und Funk ihren eigenen, besonderen Sound entwickelten. Wolodymyr Ivasjuk lieferte noch einige Hits u.a. für VIA Vodogray, VIA Kobza, VIA Vatra. Die Bands durften öffentliche Konzerte geben und immer wieder mal ein paar Lieder oder gar ein Album aufnehmen, wenn ihr Repertoire nicht zu “nationalistisch” war. Die Platten erschienen in viel kleineren Auflagen als die ihrer Russisch singenden Kollegen, waren schnell ausverkauft und kosten heute ein kleines Vermögen.
Als besonders wertvoll gelten heute unter Plattensammlern die frühen Vinyls des VIA Kobza, einer ungewöhnlichen Band aus Kyjiw, die ganz auf E‑Gitarren verzichtete (ein unerhörter Schritt in der Pop-Rock-Welt dieser Zeit!) und dafür gern auf E‑Kobza spielten (das verstärkte / elektrifizierte ukrainische Nationalinstrument). Kobza mit Tonabnehmer gab es bis dahin nicht, und dieser Versuch war ein gewagtes Experiment, das diesem VIA einen Ehrenplatz in der ukrainischen Pop-Geschichte erspielt hat. Bis heute haben Kobza’s erste zwei Platten nichts an Frische verloren. Sie können locker mit den besten Alben von Jethro Tull und anderen Folk-Prog ‑Rock-Größen mithalten.
In diesem Jahr führte Albert Tsukrenko in seiner Sendung auf Hromadske TV ein ausführliches Interview mit Waleri Witer, dem Sänger vom VIA Kobza. Unter anderem erzählte Witer dort über Dreharbeiten in den Achtzigern für die Silvester-Fernsehsendung in Moskau, bei der nur ganz wenige ukrainische Acts mitmachen durften:
“Wir hatten vor, ein Weihnachtslied zu singen, das kennt man ja, “Freut Euch, das Christkind ist geboren!” Aber “Christkind” durfte man im Fernsehen nicht sagen, deswegen haben wir es in “Neues Jahr” geändert. Freut Euch, das neue Jahr ist geboren! Und so marschieren wir ins Studio, in unseren Nationaltrachten, und dort sitzen alle diese Helden der sozialistischen Arbeit, Kosmonauten und Sportler mit Limonade in ihren Champagner-Gläsern, denn Alkohol trinken durfte man natürlich auch nicht, und wir kommen rein, singend. Und bei der zweiten Strophe kommt der aufgeregte Regisseur heraus und schreit ‚Stop! Stop! Was sind denn das für religiöse Gesänge hier?! Macht doch einen anderen Song!‘ – ‚Haben wir nicht‘, antworten wir, ’nur diesen hier‘. Wir haben für eine echte Krise gesorgt!”
Heute wird die VIA-Ära als die Renaissance des ukrainischen Pop gesehen und bewundert. Der Kyjiwer Musikenthusiast Witali Bardetski, der früher Skryabin managte, eine der bekanntesten ukrainischen Bands der 1990er, und der heute Inhaber der Kyjiwer Audiophile-Bar GRAM ist, nennt diese Epoche ironisch “Mustache Fank”. Er erläutert den Begriff gern: Die Musik klang stark nach Funk, und die überwiegende Mehrheit der VIA- Musiker trug Schnurrbart. Bardetski produzierte die gleichnamige Doku, die 2020 in die ukrainischen Kinos kommen soll.
Die Zeit der VIAs war zu Ende. Die Achtzigerjahre haben für die ukrainische Popmusik eher unspektakulär angefangen, bis die Perestroika in der zweiten Dekadenhälfte alles veränderte und ganz neue Welten eröffnete. Mit der gleichen, wenn nicht größerer Intensität wie 15 bis 17 Jahre zuvor die VIA, gründeten sich überall in der Ukraine neue Underground Bands. Oft sangen sie auf Russisch, da ihnen ihre russischen Kollegen als Vorbild dienten, die zu dieser Zeit bereits eine starke Szene und gut funktionierende Netzwerke hatten.
Und 1989 fand in Czernowitz zum ersten Mal das “Chervona Ruta”-Festival statt, genannt nach dem Hit von Ivasjuk. Dieses Festival hat die musikalische Landschaft der Ukraine wie kein anderes beeinflusst. Mehr dazu im zweiten Teil.
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