Cher­vona Ruta /​/​ Inde­pen­dence Rock

Ein Fes­ti­val, welches die musi­ka­li­sche Land­schaft eines ganzen Landes kom­plett ver­än­dert? Geht so etwas über­haupt? Es mag unglaub­wür­dig klingen, doch genau das ist in der Ukraine vor 30 Jahren pas­siert. Drei Visio­näre und ein kana­di­scher Mil­lio­när ukrai­ni­scher Abstam­mung erklär­ten der offi­zi­el­len sowje­tisch-ukrai­ni­schen Kultur den Kampf….und haben gewonnen!

Portrait von Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhy ist in der Ukraine geboren und lebt in Berlin. Er ist Musiker, DJ, Kom­po­nist und Produzent.

Das Fes­ti­val “Cher­vona Ruta” – benannt nach dem Ever­green von Wolo­dymyr Ivasyuk – war das, was man heute mit dem hippen Wort “Game­ch­an­ger” bezeich­nen könnte. Manche behaup­ten sogar, es war eine Revo­lu­tion. Es sollte nicht nur ein Fes­ti­val sein, sondern auch ein Wett­be­werb, der 1989 in Ivasjuk’s Hei­mat­stadt Tscher­niwzi zum ersten Mal ver­an­stal­tet wurde.  Ihre Orga­ni­sa­to­ren, Oleh Repets­kij, Ana­t­loij Kali­ni­chenko und Myros­law Melnyk, trafen sich schon drei Jahre zuvor in Kyjiw beim Fes­ti­val “Rock-Perehrest’a”, wo sie sich darüber auf­reg­ten, dass im gesam­ten drei­tä­gi­gen Pro­gramm nur ein ein­zi­ges Lied auf Ukrai­nisch zu hören war.

Dank der finan­zi­el­len Unter­stüt­zung aus der Dia­spora durch den kana­di­schen Mil­lio­när Mykola Moroz konnten sie ein pro­fes­sio­nel­les Studio ein­rich­ten. Ihr Ziel war, neue ukrai­ni­sche Musik zu pro­du­zie­ren. Für das Fes­ti­val wurden beson­dere Preise aus­ge­lobt. Die Fes­ti­val­ge­win­ner sollten in diesem neuen Studio Alben auf­neh­men dürfen. Für die Teil­nahme am Fes­ti­val mussten die Musiker nur eine Bedin­gung erfül­len, aus­schließ­lich auf Ukrai­nisch singen.

Und so wech­sel­ten einige Bands damals ins Ukrai­ni­sche, eigent­lich nur um an “Cher­vona Ruta” teil­neh­men zu können. Ende der Acht­zi­ger­jahre war es noch unvor­stell­bar gewesen, dass manche dieser Bands heute, nach 30 Jahren, als Pio­niere der ukrai­ni­schen Pop/​Rockmusik gelten.

Dass das Fes­ti­val über­haupt statt­fin­den durfte, grenzte an ein Wunder. Die lokalen Behör­den hatten Angst vor mög­li­chen Unruhen und machten den Ver­an­stal­tern sowie dem Publi­kum das Leben schwer. Von den 80 Loca­ti­ons, wo die Kon­zerte statt­fin­den sollten, sagten 77 in der Woche vor dem Fes­ti­val ab. Plötz­lich man­gelte es in Tscher­niwzi an Über­nach­tungs­mög­lich­kei­ten. Trotz aller wid­ri­gen Umstände konnte “Cher­vona Ruta” jedoch stattfinden.

Und es wurden natür­lich Gewin­ner gekürt, und zwar in meh­re­ren Kate­go­rien. Als bester Rock-Act wurde Sestrichka Vika (Schwes­ter­chen Vika) aus­ge­zeich­net. Die Sän­ge­rin Vika Vradiy, die hinter dem Pseud­onym steckte, hatte früher mit VIA Arnika gesun­gen und war Front­frau einer Jazz-Rock-Band namens Labi­rint. Aber auf der Bühne von “Cher­vona Ruta” prä­sen­tierte sie einen  explo­si­ven Cock­tail aus radi­ka­lem Post-Punk und sar­kas­ti­schen Texten, womit sie sofort Kult-Status erlangte. Sie pro­du­zierte in den dar­auf­fol­gen­den 20 Jahren nur drei Alben und verfiel dann in Funk­stille. Dennoch ist Sestrichka Vika bis heute eine Legende sowie eine Inspi­ra­tion vor allem für viele junge Künst­le­rin­nen, die ihre Songs covern – unter anderen die Kyjiwer Frau­en­band Dakh Daugh­ters, die jedes Konzert mit Vika’s Song “To moye more” abschließen.

“Cher­vona Ruta” war 1989 nicht bloß ein Musik­fes­ti­val, sondern auch eine Pro­test­ak­tion. Zum einen, weil im Publi­kum die gelb-blaue ukrai­ni­sche Fahne gezeigt wurde, was damals noch ver­bo­ten war. Aber das war noch harmlos. Schlim­mer war, dass man „Sche ne vmerla Ukrayina“ gesun­gen hatte. Das umstrit­tene Lied aus dem Jahre 1863 war auch nicht erlaubt, denn es war ein Mani­fest der unab­hän­gi­gen Ukraine (kein Wunder, dass sie 1991 tat­säch­lich zur offi­zi­el­len ukrai­ni­schen Hymne wurde).

Die zweite Deka­den­hälfte der 1980er Jahre gilt in der Ukraine als die Geburts­zeit der Under­ground-Szene. In den Schulen, Uni­ver­si­tä­ten und Fabri­ken sollten an den sozia­lis­ti­schen Fei­er­ta­gen Ama­teur­bands auf­tre­ten, und so gab es dort oft Pro­be­räume, die mit Instru­men­ten und einer Beschal­lungs­an­lage aus­ge­stat­tet waren. Die jungen Rock’n’Roller nutzten jede Gele­gen­heit, um an die Musik­in­stru­mente ran­zu­kom­men.  Das bedeu­tete zwar, dass man für ein paar obli­ga­to­ri­sche Kon­zerte im Jahr ein lang­wei­li­ges Reper­toire aus den Werken der sowje­ti­schen Kom­po­nis­ten lernen musste, aber hey, das war halt der Preis. Dafür konnten sie auch ihre eigene Musik spielen. Oft sollten sie aber schon nach dem ersten Auf­tritt den Pro­be­raum räumen, denn ihre Inter­pre­ta­tio­nen der Pro­pa­ganda-Schla­ger kamen bei den Offi­zi­el­len nicht gut an. Jedoch konnten in diesen Pro­be­räu­men auch kleine Under­ground-Kon­zerte statt­fin­den. Langsam wurde auch allen Betei­lig­ten klar, dass sich etwas änderte.

Es fing schon in den Sieb­zi­gern an, wenn nicht früher, wo über das ganze Land ver­teilt ein Netz­werk von Musik­samm­lern ent­stand (übri­gens eine fas­zi­nie­rende Geschichte an sich!). Dieses Netz­werk war eine Alter­na­tive zur ein­zi­gen Plat­ten­firma der UdSSR, Melo­diya. Man nahm mit ein­fa­chen Ton­band­ge­rä­ten ver­bo­tene Lieder auf und über­spielte sie anschlie­ßend auf Kas­set­ten, die dann bei­spiels­weise nach Minsk, Kyjiw, Wla­di­wos­tok oder Tallinn ver­schickt wurden. Dort wurden weitere Kopien gemacht, die für drei bis fünf Rubel an die Sammler ver­kauft wurden, und so ging der Copy&Share-Prozess immer weiter, bis die Qua­li­tät so schlecht war, dass man die Musik kaum noch hören konnte.

Die ersten ukrai­ni­schen Bands, deren Auf­nah­men auf dieser Weise mas­sen­haft ver­brei­tet wurden, waren Vopli Vido­pli­as­sova (kurz VV) aus Kyjiw und Braty Gady­u­kiny aus Lwiw. Beide nahmen an der ersten “Cher­vona Ruta” teil und wurden vom Publi­kum eupho­risch emp­fan­gen. Rock­mu­sik auf Ukrai­nisch, abseits von dem, was man seit Jahren im Rund­funk hörte, war eine exo­ti­sche und sehr will­kom­mene Abwechslung.

In der west­li­chen Rock­szene würde man ver­geb­lich nach einem pas­sen­den Ver­gleich für VV suchen; die Band in ihrer klas­si­schen Beset­zung war absolut ein­ma­lig. Ihre Kom­bi­na­tion von rohem Punk­sound und ukrai­ni­scher Volks­mu­sik (die jahr­zehn­te­lang unter den Musik­freaks als uncool galt) war bei­spiel­los und wirkte erfri­schend. Noch nie zuvor klangen eine ver­zerrte Gitarre und ein Bajan (rus­si­sches Knopf­ak­kor­deon) so gut zusammen!

Braty Gady­u­kiny aus Lwiw ließen sich eben­falls von der Volks­mu­sik ihrer Region inspi­rie­ren, auch wenn ihr Stil mehr dem bri­ti­schen Pub Rock ähnelte. Dafür waren ihre Texte, die sich mit Kri­mi­nel­len, Junkies und anderen Losern beschäf­tig­ten, für die Ukraine der späten Acht­zi­ger sehr pro­gres­siv. Vor­ge­tra­gen hat sie der Sänger Serhiy Kuz­min­s­kiy (der selbst wegen Dro­gen­de­lik­ten zwei Jahre im Knast abge­ses­sen hatte) auf Sur­schyk. Seine Into­na­tio­nen glichen denen Johnny Rottens von den Sex Pistols. Braty Gady­u­kiny kre­ierten den per­fek­ten Sound­track zum Zerfall der Sowjetunion.

Die Wende und die Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung von 1991 eröff­ne­ten ein ganz neues Kapitel für die Ukraine und auch für ihre Musiker. Während man in Europa die Ereig­nisse in den ehe­ma­li­gen sowje­ti­schen Repu­bli­ken gespannt ver­folgte, wagten die ukrai­ni­schen Bands ihre ersten Aus­flüge ins Ausland. Nach einer erfolg­rei­chen Tour durch Frank­reich zogen Vopli Vido­pli­as­sova nach Paris um. Viele Kol­le­gen aus Kyjiw, Charkiw und Lwiw folgten ihnen. Als tou­rende Bands sam­mel­ten sie auf­re­gende Erfah­run­gen in Polen, der Tsche­chi­schen Repu­blik und Deutschland.

Der neue ukrai­ni­sche Pop eroberte in den Neun­zi­gern die Herzen des Publi­kums. Es gab keine ver­bo­te­nen Themen mehr, der Pro­pa­ganda-Pop als Genre schien nun end­gül­tig der Ver­gan­gen­heit anzu­ge­hö­ren. Auf Ukrai­nisch zu singen galt nicht mehr als Exotik, im Fern­se­hen lief wöchent­lich “Teri­to­ria A” – die Hit­pa­rade der neu­es­ten natio­na­len Musik­vi­deos. Plötz­lich gab es mehrere unab­hän­gige Rund­funk­sen­der. Es kam einem fast schon so vor, als ob man ver­suchte, alles, was in den Jahr­zehn­ten davor in der musi­ka­li­schen Ent­wick­lung ver­passt worden war, so schnell wie möglich nachzuholen.

“Cher­vona Ruta” fand 1991 in Sapo­rischschja statt, 1993 in Donezk und 1995 auf der Krim.  In regel­mä­ßi­gen Abstän­den wurden neue Stars gene­riert. 1995 kehrten VV aus Frank­reich zurück. Nur fünf Jahre zuvor hatten sie ihre Hei­mat­stadt als Under­ground Band ver­las­sen, aber spä­tes­tens mit der Ver­öf­fent­li­chung des Albums “Musika” wurden sie 1996 zur bekann­tes­ten Rock­band des Landes.

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