Einfluss von Nord Stream 2 auf die europäischen Gasflüsse
Trotz heftiger Widerstände steht das deutsch-russische Pipeline-Projekt Nord Stream 2 kurz vor der Fertigstellung. Ein Verlierer stand dabei schon vorher fest: die Ukraine. Bisher generiert die Ukraine wichtige Transiteinnahmen durch den Durchfluss von russischem Gas nach Europa, diese werden nach Inbetriebnahme von Nord Stream 2 deutlich verringert sein. Der Energieexperte Dr. Maik Günther hat für uns einmal vorgerechnet, wie die Gasflüsse in Europa im Jahr 2030 aussehen könnten.
Erdgas spielt in Europa eine wichtige Rolle in der Energieversorgung. Zudem sind seine Anwendungsfelder sehr vielfältig. Es dient als Brückentechnologie in der Energiewende und hat ein erhebliches Potenzial zur Senkung der aktuellen CO2-Emissionen im Verkehrs- und Wärmesektor. Langfristig ist davon auszugehen, dass der Gasbedarf in Europa sinkt, wobei einige Studien auch einen relativ konstanten Gasbedarf für die nächsten Jahrzehnte prognostizieren. Zur gleichen Zeit ist jedoch mit einem signifikanten Rückgang der Eigenproduktion in Europa zu rechnen, sodass Europa langfristig noch stärker von Gasimporten abhängig sein wird. Dieser zusätzliche Importbedarf wird vor allem von russischem Pipelinegas und durch LNG gedeckt werden. Derzeit befindet sich die Pipeline Nord Stream 2 durch die Ostsee im Bau. Sie hat eine jährliche Kapazität von 55 Mrd. m³ und stellt wie Nord Stream 1 eine direkte Verbindung zwischen Russland und Deutschland her.
Die Nord Stream 2 Pipeline ist ein kontrovers diskutiertes Projekt. Auf der einen Seite hätte Deutschland mit ihr mehr Transitgasflüsse und bei einem Ausfall alternativer Routen eine weitere Option zur Gasversorgung. Nord Stream 2 würde es aber auch ermöglichen, Transitgasflüsse Russlands durch die Ukraine zu reduzieren. Mit Nord Stream 2 und der aktuell ebenfalls im Bau befindlichen Pipeline Turkish Stream, die von Russland direkt zur Türkei führt, würde Russland, ohne Gasflüsse durch die Ukraine hinzuzuzählen, über eine Exportkapazität von 205,9 Mrd. m³ nach Europa verfügen. Damit kann das aktuell bestehende Monopol für Transitgaslieferungen osteuropäischer Staaten gebrochen werden, sodass die Transiteinnahmen der Ukraine, aber auch Polens signifikant sinken.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Einfluss Nord Stream 2 auf die europäischen Gasflüsse hat. Zur Analyse der langfristigen Effekte im Jahr 2030 wird das Gasmarktmodell WEGA genutzt. Hierfür werden zwei Szenarien erstellt: ein Basisszenario sowie ein Szenario, bei dem Nord Stream 2 nicht gebaut wird, welches ansonsten aber exakt dem Basisszenario entspricht. Durch den Vergleich der Ergebnisse beider Szenarien lässt sich der Einfluss von Nord Stream 2 auf die europäischen Gasflüsse ableiten. Beim europäischen Gasbedarf orientiert sich das Basisszenario am New Policies Scenario des World Energy Outlooks, sodass ein Rückgang des Bedarfs von 2018 bis 2040 um 15 % unterstellt ist. Zudem wird angenommen, dass im gleichen Zeitraum die Eigenproduktion in Europa um 40 % und die Produktion in Norwegen um 55 % sinken. Im Basisszenario werden Nord Stream 2, Turkish Stream sowie die Trans Adriatic Pipeline (TAP) gebaut. Zudem ist zu beachten, dass die Transitgaspipelines der Ukraine verhältnismäßig alt sind und der Erneuerung bedürfen. Derzeit findet dies nur bei der Urengoy-Pomary-Uzhgorod (UPU) Pipeline statt. Die Finanzierung für die anderen Pipelines ist nicht gesichert, sodass deren Einsatzfähigkeit langfristig fraglich ist. Von russischer Seite wurde in der Vergangenheit wiederholt bekräftigt, die Ukraine bei Gaslieferungen nach Europa umgehen zu wollen. Daher wird im Basisszenario die Annahme hinterlegt, dass Transitgaslieferungen durch die Ukraine in 2030 nicht möglich sind. In Sensitivitätsberechnungen mit WEGA ohne diese Einschränkung steigen die Transitgaslieferungen in 2030 ohnehin nicht signifikant an. Sie werden aber zwingend benötigt, falls es zu einem Ausfall alternativer Routen kommt, weniger LNG nach Europa gelangt oder eine längere Kältewelle auftritt.
Die Ergebnisse von WEGA sind für das Jahr 2030 in Abbildung 1 für das Basisszenario und in Abbildung 2 für das alternative Szenario ohne Nord Stream 2 dargestellt. Hierbei zeigen schwarze Pfeile Pipelineflüsse an und weiße Pfeile stehen für LNG-Importe. Insgesamt ist zu erkennen, dass Deutschland durch Nord Stream 2 stärker zu einem Transitland wird. So erhöhen sich die Transitgasflüsse in 2030 um 12 Mrd. m³ im Vergleich zum Szenario ohne Nord Stream 2. Auf der anderen Seite sinken jedoch die Transitgasflüsse durch Polen nach Deutschland über die Yamal-Europe Route um 17 Mrd. m³. In 2017 und 2018 war diese Route noch fast voll ausgelastet.
Abb. 1: Gasflüsse in 2030 mit Nord Stream 2 in Mrd. m³ (nur Werte ≥ 1 Mrd. m³, gerundet und zusammengefasst je Land)
Abb. 2: Gasflüsse in 2030 ohne Nord Stream 2 in Mrd. m³ (nur Werte ≥ 1 Mrd. m³, gerundet und zusammengefasst je Land)
Es ist in Abbildung 1 ebenfalls zu erkennen, dass Nord Stream 2 bei einer jährlichen Betrachtung nicht voll ausgelastet ist. Während Nord Stream 1 & 2 über eine Gesamtkapazität von 110 Mrd. m³ pro Jahr verfügen, werden in 2030 nur 95 Mrd. m³ genutzt. In zusätzlichen Sensitivitätsbetrachtungen mit einem höheren Gasbedarf in Europa werden Nord Stream 2 sowie Yamal-Europe jedoch entsprechend höher ausgelastet. Lediglich der Transit durch die Ukraine wird nur als letzte Option genutzt. In 2017 und 2018 hatte die Route durch die Ukraine mit mehr als 80 Mrd. m³ noch eine Auslastung von über 65 %. Folglich wird das aktuell bestehende Transportmonopol der Ukraine gebrochen.
Besonders Turkish Stream ist der Grund, dass die Trans-Balkan Route nicht mehr genutzt wird, um Gas von Russland über die Ukraine, Rumänien und Bulgarien zur Türkei zu transportieren. Mit ihrem ersten Leitungsstrang wird Gas direkt von Russland zur Türkei geleitet. Der zweite Strang soll Gas über die Türkei nach Südosteuropa liefern. In weiteren Sensitivitätsbetrachtungen mit WEGA ohne Turkish Stream waren Gasflüsse über die Ukraine immer erforderlich. Somit spielt Turkish Stream eine entscheidende Rolle, wenn Transitgaslieferungen durch die Ukraine vermieden werden sollen.
Weitere Änderungen in den Gasflüssen betreffen Norwegen. Durch Nord Stream 2 wird norwegisches Gas von Deutschland in Richtung Nordwesteuropa verdrängt, wo wiederum LNG verdrängt wird. Insgesamt sinken die LNG-Importe in Europa durch Nord Stream 2 um 30 Mrd. m³ in 2030. Eine ähnliche Situation konnte in der Vergangenheit beobachtet werden, als Nord Stream 1 in Betrieb genommen wurde. Auch hier wurde norwegisches Gas von Deutschland nach Belgien, Frankreich und UK verdrängt. Es ist zu erwarten, dass Nord Stream 2 zu ähnlichen Effekten führen wird.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Nord Stream 2 die Gasflüsse in Europa erheblich ändert. Deutschland wird eine größere Rolle als Transitland spielen, während die Transitgasflüsse durch Polen und durch die Ukraine in Zukunft signifikant sinken. Transitgasflüsse durch die Ukraine werden jedoch dann zwingend benötigt, wenn es zu einem Ausfall alternativer Routen kommt, weniger LNG nach Europa gelangt oder eine längere Kältewelle auftritt. Nord Stream 2 hat auch einen Einfluss auf die Gasflüsse in Nordwesteuropa. So wird teilweise Norwegisches Gas aus Deutschland verdrängt. Dies bedeutet nicht, dass Gas aus Norwegen nicht mehr benötigt wird. Diese Mengen fließen nach Belgien, Frankreich und Großbritannien, wo sie wiederum LNG verdrängen. Somit wird Nord Stream 2 dazu führen, dass die LNG-Importe in Europa in Zukunft weniger stark ansteigen.
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