„Jedes Kind weiß, was es tun muss, wenn geschossen wird.“
Wie lebt es sich eigentlich für die Jugend in den umkämpften Gebieten des Donbas‘? Eine Schülerin berichtet von kulturellem Engagement, Schulunterricht im Keller und dem Traum vom Großstadtleben.
Der bewaffnete Konflikt im Donbas dauert nun schon vier Jahre. Von April 2014 bis August 2017 hat er nach offiziellen Angaben der UNO 10.225 Tote und 24.541 Verwundete gefordert, darunter Soldaten, Zivilisten und Kämpfern pro-russischer Einheiten. Jeden Tag hören wir in den Nachrichten von neuen Toten und Verwundeten, d.h. die Zahlen sind weiter gestiegen. Die ständigen Salven, die Tötungen und Verwundungen, das fehlende Personal, aber auch Probleme in der Bildung und Mobilität machen die Entwicklung extrem schwer. Außerdem ist die Infrastruktur vieler Städte zerstört, was das ohnehin schwere Leben der Menschen zusätzlich verkompliziert. In dieser Zeit wird eine Generation erwachsen, die schon bald die Geschicke des Landes in die Hand nehmen soll. Wie lebt eigentlich die Jugend im Donbas?
Ehrenamtliches Engagement nahe der Front
In Kriegszeiten spüren die Menschen verstärkt ihre Selbstwirksamkeit und entwickeln ein Verständnis dafür, dass das Leben besser werden kann, man dafür aber selbst etwas tun muss. Ehrenamtliches Engagement spielt im Donbas eine große Rolle, Ehrenamtliche spenden Geld, übernehmen aber auch soziale und kulturelle Aufgaben. Ausgeführt werden diese Aufgaben von vielen Organisationen, die buchstäblich die Weltsicht der Menschen, insbesondere der Jugendlichen, verändern.
Die siebzehnjährige Marina Dunaj aus Popasna, einer Kleinstadt im Gebiet Luhansk, gehört zu den aktiven Vertreterinnen einer Generation, die Interesse an aus den Kriegsfolgen entstandenen Projekten zeigt. Marina hat bei vielen Projekten mitgemacht, so unter anderem im Jahr 2016 bei dem Projekt Class act: Ost – West. Das ist ein ukrainisches Projekt, das eigentlich aus Großbritannien stammt. Zehn Teenager aus der Ost- und zehn aus der Westukraine werden für zwei Wochen zusammen untergebracht und angeleitet, Stücke zu aktuellen Themen zu schreiben, damit diese später unter Mitwirkung professioneller Schauspieler und Regisseure auf großen Bühnen gezeigt werden können.
Marina Dunaj, zweite von rechts, mit Freunden.
Auch das Stück Kinder und Kämpfer des Theaters der Binnenflüchtlinge (Teatr Pereselenza) war eine Inszenierung von Schülerinnen und Schülern der Schule Nummer 1 in Popasna und ukrainischen Soldaten, die helfen soll, die Berührungsängste zwischen der Bevölkerung und den Menschen in Uniform abzubauen. Heute studiert Marina an der Staatlichen Pädagogischen Universität des Donbas in Slowjansk und gehört der Theatergruppe ihrer Uni an.
„Ich mache in der Theatergruppe mit, weil ich mit dem Projekt Class act mein Talent für Theater entdeckt habe, und das gefällt mir. Ich würde später gerne auch was mit Theater machen, wenn es klappt. Entweder gründe ich meine eigene Choreografie-Gruppe oder ich gehe wieder zurück in meine alte Gruppe nach Popasna, aber dann als Leiterin“, berichtet Marina von ihrem gegenwärtigen Leben.
Soziokulturelle Aktivitäten
In den Gebieten abseits der Front gründen Bürgerinnen und Bürger unabhängige Plattformen für Veranstaltungen, Werkstätten und Auftritte. Zu ihnen gehören zum Beispiel Vilna Khata, Druzi, Tepliza usw. Viele werden mit Hilfe von staatlichen Zuschüssen eingerichtet. Junge Leute können sich mit ihren Ideen dorthin wenden und diese umsetzen, z.B. Lesungen durchführen, eine Band gründen, Kreativwerkstätten anbieten oder eigene kreative Produkte ausstellen. Derartige Plattformen sind weit verbreitet und nötig, weil sie die Entwicklung und Potentialentfaltung fördern.
Es gibt noch viele andere ähnliche Projekte, etwa Gemeinsam gestalten wir die Ukraine, VIDLIK project, Der neue Donbas (Nowyj Donbas) u.a. Die Teilnehmenden arbeiten ehrenamtlich, sie helfen jungen Menschen, ihre Talente zu entfalten, bauen zerstörte Schulen wieder auf, gründen Initiativgruppen und Plattformen.
Iwanka Diman, Teilnehmerin am Projekt Gemeinsam gestalten wir die Ukraine berichtet über ihr Team und ihr Projekt: „Die Leute sind jung und voller Energie, zwischen 20 und 27. Angeleitet werden wir von Bogdan, unserem großen Ideengeber, einem klugen und aktiven Gestalter, der 50 Jahre alt ist. Wir sind vierzehn Personen, in verschiedenen Städten der Ukraine und im Ausland gibt es mehr als 1.300 Freiwillige. Von Studierenden der Geisteswissenschaften bis zu exzellenten Bauarbeitern, Künstlern und IT-Spezialisten, sogar Nonnen waren dabei. Viele Berufe, viele Menschen, aber jeder ist anders und hat eigene Talente. In diesem Jahr haben wir drei verschiedene Arbeitsgebiete in zehn Städten: Renovierungen für Familien – wir helfen kinderreichen und materiell benachteiligten Familien sowie Familien von ukrainischen Kämpfern aus dem Anti-Terror-Kampf –, Gestaltung öffentlicher Plätze für die Bevölkerung und Bemalung von Wänden.“
In der Nähe der Kontaktlinie, die die ukrainischen Städte von den separatistischen Gebieten der sog. „Volksrepubliken“ Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) trennt, schlägt sich die Zivilbevölkerung schon das vierte Jahr unter Kriegsbedingungen durch.
Heute ignorieren die Bewohner die Detonationen.
„Einmal lag unsere Stadt (Popasna, Anm. d. Red.) unter starkem Beschuss, das war 2014, ich war in der Neunten. Das Schuljahr begann erst am 30. September (statt am 1. September, Anm. d. Red.), wir mussten in den Bombenkeller. An diesem Tag fand der Unterricht dort unten im Keller statt. Heute ignorieren die Bewohner die Detonationen“, erzählt Marina über die Kriegszeit.
Bildung und Entwicklung
Für die jungen Menschen in den frontnahen Orten sind die Möglichkeiten, sich kulturell zu betätigen, abgesehen von Arbeitsgemeinschaften in den Kulturpalästen, und eine solide Bildung zu erwerben, sehr begrenzt. In den Städten ist das Fehlen von Personal und Büchern für die Bildung, von finanziellen Mitteln zur Erneuerung der Ausstattung besonders spürbar. Die Fenster sind mit Klebeband umwickelt und mit Sandsäcken abgedichtet, und jedes Kind weiß, was es machen muss, wenn geschossen wird. Vielleicht träumen deswegen die Schulabgänger von einem Studium in einer großen Stadt.
Jedes Kind weiß, was es machen muss, wenn geschossen wird.
„Viele wollten ins Landesinnere, möglichst weit weg von zu Hause. Ich wollte nicht so weit weg. Schließlich sind alle hier, im Donbas, meine Familie, meine Angehörigen. Und wie könnte ich z.B. in Charkiw ruhig leben, wenn ich weiß, dass hier die ganze Zeit geschossen wird?“, erzählt Marina.
Aus Marinas Klasse ist niemand zum Studium nach Russland oder in die Separatistengebiete gegangen, keiner wollte das, alle studieren in der Ukraine. Leider gibt es noch immer Schulabgänger aus den besetzten oder frontnahen Gebieten, die sich für ein Studium in Russland oder in einem Ort der so genannten „LNR“ oder „DNR“ entscheiden. Die Tendenz ist sinkend, verblüfft aber dennoch. Absolventen von diesen Hochschulen haben außerhalb der besetzten Gebiete keine Zukunft, da ihre Abschlüsse nur dort anerkannt werden. Das Studium ist teuer, ein Zahnmedizinstudium im besetzten Donezk kostet 62.400 Rubel (890 Euro). Lohnt sich diese Ausgabe, wenn man in ein paar Jahren möglicherweise ohne etwas dasteht?
Das Leben normalisiert sich, und ich würde gern zurückkommen.
„Viele sprechen von ihrer Abneigung gegenüber Popasna. Eine Kleinstadt, ein gottverlassenes Nest. Aber ich denke, man muss zurückkehren und die Stadt wieder zum Leben erwecken. Nach dem Krieg hat unsere Stadt einen Aufschwung erlebt: es wurde ein Springbrunnen gebaut, jeder Stadtteil hat zu Neujahr seinen Tannenbaum, Straßen werden gebaut. Das Leben normalisiert sich, und ich würde gern zurückkommen“, erzählt Marina über ihr Verhältnis zur Stadt und zur Zukunft.
Die heutige Jugend verfügt über ein großes Entwicklungspotential. Ohne die Unterstützung von soziokulturellen Projekten und talentierten jungen Menschen im Donbas sind bald nur noch die Erschöpften mit einem großen inneren Misstrauen übrig. Deswegen ist es ungemein wichtig, die Städte in der Ostukraine zu entwickeln, sie nicht nur finanziell zu unterstützen, sondern auch soziokulturelle Programme anzubieten. Dann können wir gemeinsam die Beziehungen im Land in Ordnung bringen und an einer neuen Generation von Bewohnern in der Ukraine mitwirken, die um den Wert der Unabhängigkeit und des menschlichen Lebens weiß.
Aus dem Russischen von Claudia Dathe.
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