Neue Wege der Kommunikation unter der Präsidentschaft von Selenskyj
Nachdem sich Präsident Selenskyj Journalisten gegenüber bisher sehr bedeckt gehalten hat, knackt er mit seinem jüngsten Presse-Marathon direkt einen Weltrekord: 14 Stunden lang stellte er sich im hippen Kyjiwer Food Market den Fragen hunderter Journalisten. Sébastien Gobert berichtet über diese völlig neue Art von „Pressekonferenz“.
Der Journalist Roman Kravets von Ukrainska Pravda bringt es in einem Facebook-Post auf den Punkt: „Am 9. Oktober stellte man sich noch die Frage, wann Präsident Selenskyj endlich vor Journalisten sprechen würde. Am 10. Oktober fragte man sich dann, ob er nicht irgendwann dem Reden überdrüssig werden würde.“ Nach fünf Monaten im Amt hat Wolodymyr Selenskyj Journalisten ganz unerwartet zu einem „Pressemarathon“ am 10. Oktober im neuen und modernen Kyjiw Food Market eingeladen. Die Ankündigung erfolgte weniger als 24 Stunden vor Beginn der Veranstaltung. Doch der Präsident versuchte nicht, sich zu drücken. Er verbrachte über 14 Stunden damit, die Fragen hunderter Journalisten zu beantworten. Am Ende des Tages kamen in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #SaveZelensky erste Forderungen auf, ihn zu erlösen.
Dieser Auftritt ist in der Geschichte politischer Kommunikation einmalig. Selenskyj brach damit nach Angaben eines Vertreters des Nationalregisters für Rekorde sogar den Weltrekord der längsten Pressekonferenz. Dabei handelt es sich um eine weitere Demonstration der neuen Medienwirklichkeit, die das Team um Selenskyj gegenüber der ukrainischen Medienlandschaft durchgesetzt hat. Die „Gladiatoren-Debatte“ zwischen dem Kandidaten Selenskyj und Petro Poroschenko im Olympiastadion von Kyjiw während des Präsidentschaftswahlkampfs im April ist allen in Erinnerung.
Man hätte meinen können, dass der ehemalige Komiker nach der Amtsübernahme zu einem traditionelleren Kommunikationsstil übergehen würde. Jetzt wird klar, dass das während seiner Präsidentschaft nicht zu erwarten ist. Doch die Kommunikationspolitik ist dennoch nicht offensichtlich. Verschiedene aktuelle Versuche und Debatten zeigen, wie zurückhaltend Behörden im Umgang mit Medien sein können. Klar ist dagegen, dass Journalisten ihre Rollen in der neuen Medienwirklichkeit neu definieren müssen.
Experimente und Unsicherheiten
Die Absichten des Präsidentenbüros im Bereich der Kommunikation waren in den letzten Monaten nur schwer zu durchschauen. Kurz nach der Amtsübernahme von Selenskyj wurden Journalisten zu einem inoffiziellen Nachmittag in eines der staatlichen Gebäude bei Kyjiw eingeladen. Im Juni gab der Präsident auch der deutschen Boulevardzeitung Bild ein langes Interview. Sein Austausch mit „traditionellen Medien“ kam danach aber mehr oder weniger zum Erliegen. Er hielt stattdessen einen Monolog, als er einen Tesla fuhr, oder beantwortete zuvor vereinbarte Fragen von Stanislaw Boklan, der in der Fernsehserie „Diener des Volkes“ den korrupten Premierminister an Selenskyjs Seite spielte. Missverständnisse mit den Medien verschärften sich aufgrund der harschen Reaktion von Andrij Bohdan, dem Chef des Präsidentenbüros, gegenüber Journalisten noch. Neben anderen Zwischenfällen verschmähte man die Veröffentlichung eines Fotos vom Treffen mit dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj im Büro des Präsidenten als reines Trolling.
Die immer größeren Schwierigkeiten, offizielle Stellungnahmen von Beamten zu bekommen, waren für die Vision und Strategie des Präsidenten nicht unbedingt förderlich. Der „Medel-Skandal“, als Selenskyjs neue Pressesprecherin Journalisten physisch daran hinderte, Fragen zu stellen, sorgte in den Medien für eine Welle der Ablehnung gegenüber dem neuen Regierungsteam. Obwohl die Mitarbeiter um Selenskyj über jahrelange Erfahrung in der Öffentlichkeitskommunikation im Unterhaltungsgeschäft verfügen, schienen ihnen die Dinge zu entgleiten.
Am 1. Oktober fiel ihnen nichts Besseres ein, als ein Pressebriefing weniger als eine Stunde vor Beginn anzuberaumen, um zu erklären, dass Selenskyj nun die sogenannte „Steinmeiner-Formel“ für die Friedensverhandlungen zur Beendigung des Krieges im Donbas unterstützt. Während des 11-minütigen Auftritts wurde keine der ernsthaften Sorgen der Journalisten oder der Gesellschaft ausgeräumt. Stattdessen wurden Kritik und Verschwörungstheorien über eine „Kapitulation“ gegenüber Russland laut. Am 3. Oktober vermochte man es nicht, Journalisten mit einem Videomonolog zu beruhigen. „Ist es denn zu viel verlangt, schwierige Themen zu erläutern und unsere Fragen zu beantworten?“, schrieb die Journalistin Kristina Berdynskykh am 1. Oktober auf Facebook.
Versöhnung?
Damit war der „Pressemarathon“ vom 10. Oktober zuallererst ein Versuch, die Beziehung zur Presse zu verbessern. Er war auch für Selenskyj selbst wichtig, der von der offensichtlichen Kritik der Medien an ihm getroffen schien. „Ich habe deswegen jede Nacht zwei Stunden weniger geschlafen“, gab er zu. Den Pressemarathon in einem hippen Food Market abzuhalten, gab dem Präsidenten auch die Gelegenheit, einen Tag außerhalb seines Büros in der Bankova zu verbringen, das er hasst.
Obwohl Selenskyj nicht alles beantworten konnte, hat er keine einzige Frage während der 14 Stunden zensiert. Er präsentierte sich als offene und ernsthafte Person, die sich möglichst schnell ins politische System einarbeiten will, um das Ziel einer neuen Ukraine zu erreichen. Hier gestand er auch seine vorige Naivität ein, denn er „war sicher, dass wir alle korrupten Beamten verhaften können... Aber als wir das erste Ziel ausgemacht hatten, beschwerten sich alle und sagten, der Präsident darf die Judikative nicht beeinflussen.“ Ob dies nun aufrichtig ist oder nicht, diese Naivität lässt ihn menschlich wirken.
„Wir machen alle Fehler“, so sein Kommentar, als er zum „Mendel-Skandal“ befragt wird. „Sie hätte nicht so reagieren dürfen“, sagte er im Versuch, den Vorfall damit ad acta zu legen. Aber er kritisierte auch einen der beteiligten Journalisten, Sergij Andruschko: „Er ist groß, springt und fällt einen an, um Fragen zu stellen.“ Diese Rechtfertigung ist kaum zufriedenstellend angesichts der Tatsache, dass Andruschko nicht das einzige Opfer von Mendel war. Ein Video zeigt den Journalisten Christopher Miller, der sich Selenskyj für ein kurzes Gespräch normal nähert und dann von der Pressesprecherin zurückgeschubst wird. Mendel selbst hat sich für ihr Verhalten nie entschuldigt. Sie gab stattdessen „unzivilisierten“ Journalisten die Schuld.
Selenskyj Angriff auf „Nowoje Wremja (Die neue Zeit)“, eine der unabhängigsten und ausgewogensten Zeitungen, könnte ebenfalls Grund zur Besorgnis geben. Die Bewertung des Präsidenten, dass „nur ukrainische Staatsbürger mit pro-ukrainischer Einstellung Medien besitzen sollten“, wirft einige ernsthafte Fragen auf – besonders in einem Land, in dem der Besitz von Medien vor allem als Einflussmittel dubioser Oligarchen und putinfreundlicher politischer Kräfte gilt. Eine solche Bewertung zeugt von einer strukturellen Geringschätzung der Arbeit des modernen Journalismus. Gleichzeitig deutet sich damit an, dass sich das grundlegende Verhältnis zwischen dem Team des Präsidenten und der Presse trotz des „Pressemarathons“ nicht ändern wird.
Einladung oder Falle?
Umso mehr, als dass das Format selbst als Möglichkeit gesehen werden kann, „Journalisten selbst zu Mittätern der pressefreien Strategie von Selenskyj zu machen“, wie der Journalist Oliver Caroll auf Twitter schreibt. Obwohl die Einladung weniger als 24 Stunden vor Beginn des ganztägigen Pressetermins erfolgte, kamen hunderte Gäste und untermauern damit die unstrittige Anziehungskraft des Präsidenten. Zudem hat niemand wirklich damit gerechnet, dass der Staatsführer eines Landes im Krieg, der sich zudem großen Problemen bei der umfassenden Reformagenda gegenübersieht, 14 Stunden am Stück verfügbar ist. Doch genau das hat Selenskyj getan und sogar mehrfach dieselben Fragen beantwortet, da verschiedene Journalisten an seinem Tisch Platz nahmen. Damit stellt sich die Frage, wie relevant ein solch extremes Format zu einer bestimmten Zeit eigentlich ist. Der „Marathon“ könnte seinem Team auch als Entschuldigung dafür dienen, Journalisten die nächsten Monate vom Präsidenten fernzuhalten. „Hatten Sie nicht am 10. Oktober ausreichend Gelegenheit?“, lautet eine typische Erwiderung, die ich mir bereits jetzt gut vorstellen kann.
„Was hätten Sie gewollt?“, verteidigte sich der stellvertretende Leiter der Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, im Food Market. „Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn über 300 Journalisten einem Präsidenten Fragen stellen, der wie ein Zar auf der Bühne steht? Er hätte 20 Fragen beantwortet und wäre dann unter Protest derjenigen, die nicht zu Wort gekommen sind, gegangen.“ Tymoschenko bringt damit ein wichtiges Argument vor. Als Pressekorrespondent kenne ich die Frustration aus erster Hand, die bei solchen Veranstaltungen entsteht, ganz zu schweigen von den persönlichen Interviews mit „klassischen“ Politikern. Die neue politische Kommunikation, die wir derzeit unter Selenskyj erleben, bringt unbestreitbar neuen und frischen Wind. Darüber hinaus müssen sich die Medien eher an Selenskyj anpassen als andersherum, wie der Journalist Roman Romaniuk von Ukrainska Pravda hervorhebt. „Das Schicksal der Steinmeier-Formel und der Verhandlungen mit Putin hängen an den Entscheidungen des Präsidenten. Egal, ob man diesen ‚Presse-Marathon‘ mag oder nicht, man kann ihn nicht ignorieren.“
Neudefinitionen gefordert
Die konzeptuellen Folgen des „Presse-Marathons“ halte ich dennoch für problematisch. Die Veranstaltung diente in erster Linie dazu, die Medien zu beruhigen. Es ging weniger darum, Nachrichten und Analysen zu vermitteln, die sich dann auch in der Gesellschaft verbreiten und zur Information der Wähler dienen. Andrij Bohdan hat klar betont, dass sein Team „nicht auf Journalisten angewiesen“ sei, da sie sich für eine Medienstrategie entschieden haben, die auf den sozialen Medien beruht. In dieser Hinsicht hat das Präsidententeam den Tag, den Präsidenten zu treffen, für Journalisten genau so eingerichtet, wie man es für jegliches anderes Unternehmen oder eine andere soziale Gruppe, seien es Veteranen, Lehrer, Krankenpfleger oder Grubenarbeiter, getan hätte. Den Journalisten wird damit ihre besondere Rolle als Vermittler zwischen Politikern und der Gesellschaft aberkannt, die als elementarer Bestandteil einer vielfältigen und informierten demokratischen Gesellschaft verstanden werden kann.
Eine solche Neudefinition vom Verständnis des Journalismus, das ich hier sehe, sollte nicht als endgültige Kritik an der neuen Medienrealität von Selenskyj verstanden werden. Die Entscheidung, soziale Medien zu bevorzugen, bringt auch einen gewissen Mehrwert. So kann in der Tat die Distanz zwischen Politikern und Bürgern verringert werden, indem eine Art direkter, zielgerichteter und enger Kontakt geschaffen wird. Im Kontext einer Wahl hat sich bereits gezeigt, wie effizient eine solche Strategie sein kann. Und sie wird heute mit der 71-prozentigen Zustimmung bestätigt, die Selenskyj innerhalb der Bevölkerung hat. Erneut liegt es an den Journalisten, sich dieser neuen Realität anzupassen.
Die Frage ist dennoch entscheidend. Die direkte Kommunikation über soziale Medien verdrängt die bedeutende Komponente der kritischen Analyse und Kontextualisierung des politischen Diskurses. Der Journalismus dient unter anderem als wichtiges Kontrollinstrument der Macht, er deckt Korruption und Menschenrechtsverletzungen auf. Ihn an die Seitenlinie zu drängen bedeutet, die Bedingungen zu schaffen, dass politische Handlungen ungeprüft bleiben. Verschiedene Fälle weltweit wie Donald Trump in den Vereinigten Staaten und Matteo Salvini in Italien zeigen, wie schädlich eine solche auf soziale Medien beruhende Strategie für die Institution des demokratischen Systems selbst sein kann. In der Ukraine „spielt Selenskyj Allgegenwart gegen Transparenz aus“, so der Journalist Ian Bateson in einem Versuch, die möglichen Gefahren der neuen Medienlandschaft zu ergründen.
Weil das Team des Präsidenten solch extreme Veränderungen umsetzt, reagiert auch die Bevölkerung extrem. In den sozialen Netzwerken reichen die Kommentare zum „Presse-Marathon“ von Verachtung für eine „die Institution des Präsidenten völlig entwürdigende Aktion“ bis hin zur leidenschaftlichen Bewunderung für den „Beweis einzigartiger Offenheit“. Unabhängig von den Journalisten, die sich an eine neue Realität anpassen, muss die ukrainische Gesellschaft selbst entscheiden, ob solche Experimente eine Zukunft haben. Und zufällig wird diese Entscheidung nicht von der Kommunikation abhängen, sondern von den konkreten politischen Ergebnissen von Selenskyj.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.