Prä­si­dent gegen Bür­ger­meis­ter – Wer regiert künftig die Haupt­stadt Kyjiw?

© Shut­ter­stock

Prä­si­dent Selen­skyj hat eine „Sanie­rung“ der poli­ti­schen Klasse ver­spro­chen. Bür­ger­meis­ter Klit­schko behaup­tet, den Willen der Kyjiwer Bür­ge­rin­nen und Bürger zu ver­tei­di­gen. Wer wird gewinnen?

Es ist schwie­ri­ger, poli­ti­sche Atta­cken abzu­weh­ren, als einen Boxer im Ring. Diese Erfah­rung macht derzeit der ehe­ma­lige Box­cham­pion und Bür­ger­meis­ter von Kyjiw, Witali Klit­schko. Der Schlag, der ihn soeben traf, ist seinen eigenen Aus­sa­gen zufolge „illegal, ver­fas­sungs­wid­rig und unde­mo­kra­tisch.“ Doch Klit­schko ist anschei­nend selbst angreif­bar. Am 4. Sep­tem­ber wurde er von Minis­ter­prä­si­dent Oleksij Hont­scha­ruk von seinem Posten als Ober­haupt der Kyjiwer Stadt­ver­wal­tung ent­las­sen. Die end­gül­tige Ent­schei­dung liegt nun beim ehe­ma­li­gen Komiker und Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj. Klit­schko warf ihm vor, eine „direkte Prä­si­di­al­re­gie­rung“ in der Haupt­stadt ein­füh­ren zu wollen.

Portrait von Gobert

Sébas­tien Gobert ist Buch­au­tor und freier Jour­na­list in Kyjiw. Er schreibt vor allem für fran­zö­sisch­spra­chige Medien.

Das Büro des Prä­si­den­ten hat der­ar­tige Ambi­tio­nen weder bestä­tigt noch demen­tiert. Doch Wolod­myr Selen­skyj hat bei den jüngs­ten Wahlen zum Prä­si­den­ten und zum Par­la­ment eine „Sanie­rung“ der poli­ti­schen Klasse ver­spro­chen. Er hat es darauf abge­se­hen, eine Reihe dubio­ser und kor­rup­ter Per­so­nen für immer aus ihren Ämtern zu ent­fer­nen. Die Bezie­hung, die Klit­schko anschei­nend mit dem  Immo­bi­li­en­ma­gna­ten und neuen Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten Wadym Sto­la­ruk aus der putin­freund­li­chen Partei „Oppo­si­ti­ons­platt­form – Für das Leben“ unter­hält, ist der Haupt­grund, warum das Team von Selen­skyj ver­sucht, ihn zu feuern.

Klit­sch­kos Abbe­ru­fung kam nicht über­ra­schend. Sie wurde vom Büro­lei­ter der Prä­si­den­ten, Andrij Bohdan, schon im Juli ange­kün­digt. Dennoch schafft sie eine insta­bile Situa­tion. Selen­skyj hat die Macht, Klit­schko von seinem Posten als Ober­haupt der Stadt­ver­wal­tung zu ent­fer­nen. Aber Klit­schko bleibt noch gewähl­tes Ober­haupt des Stadt­ra­tes, da Kyjiw durch ein anti­quier­tes duales System regiert wird. „Nur die Wäh­le­rin­nen und Wähler Kyjiws haben es in der Hand, mich zu ent­las­sen“, wie­der­holt Klit­schko wieder und wieder. Er besteht darauf, die „Kyjiwer Selbst­be­stim­mung“ zu ver­tei­di­gen. Der schwe­lende Kon­flikt wird sich nur schwer lösen lassen. Würde Selen­skyj mit mehr Vehe­menz darauf drängen, Klit­schko tat­säch­lich zu feuern, könnte ihm der Ehrgeiz unter­stellt werden, all­mäch­tig werden zu wollen, obwohl er ohnehin schon ein mäch­ti­ger Prä­si­dent ist.

An und für sich war der Streit auf­grund des spe­zi­el­len Status der Kyjiwer Admi­nis­tra­tion vor­her­seh­bar. Das sowje­ti­sche Erbe des Systems der dualen Regie­rung sorgt seit Jahren für Span­nun­gen. Die stra­te­gi­sche Lage Kyjiws entlang des Dnipro sowie der Zugang zu finan­zi­el­len Res­sour­cen, die Aus­sicht auf saftige Inves­ti­tio­nen im Immo­bi­li­en­be­reich und der Ein­fluss auf die Ver­wal­tung des Zen­tral­staa­tes haben immer einen inten­si­ven Wett­be­werb um die Kon­trolle der Stadt aus­ge­löst. Der erste Prä­si­dent der unab­hän­gi­gen Ukraine, Leonid Krawtschuk, sah sich bereits in den Jahren 1992–93 mit einem ähn­li­chen Kon­flikt um die Führung der Stadt kon­fron­tiert. Eine Ent­schei­dung des Ver­fas­sungs­ge­richts­ho­fes 2003 besagte, dass die gewählte Person als Ober­haupt des Stadt­ra­tes de-facto die Exe­ku­tive, also die Stadt­ver­wal­tung, über­neh­men muss. Das hielt Wiktor Janu­ko­witsch nicht davon ab, den vom Prä­si­den­ten ernann­ten Olek­sandr Popow als allei­ni­gen Ver­wal­ter von 2010 bis 2013 einzusetzen.

Klit­schko kann jetzt argu­men­tie­ren, dass er den Willen der Kyjiwer Bür­ge­rin­nen und Bürger ver­tei­digt. Doch als er 2014 an die Macht kam, war auch dies das Ergeb­nis eines Deals, den er mit Petro Poro­schenko aus­ge­han­delt hatte. „Doktor Eisen­faust“, wie Klit­schko genannt wurde, stellte dem „Scho­ko­la­den­kö­nig“ seine Partei „UDAR – Schlag“ zur Seite, um die Prä­si­dent­schafts­wah­len zu gewin­nen, während er sich ein­ver­stan­den erklärte, Kyjiw zu führen, um die Haupt­stadt zu einem Partner für den neuen Prä­si­den­ten zu machen. Der Deal hielt fünf Jahre, bis klar wurde, dass Poro­schenko die Prä­si­dent­schafts­wah­len 2019 ver­lie­ren wird. Klit­schko ver­suchte dann, Kon­takte mit dem neuen Team Selen­skyjs zu knüpfen. Er traf sich sogar mit Donald Trumps Anwalt Rudolph Giu­liani und ver­suchte, seine Posi­tion zu ver­tei­di­gen. Nichts davon half. Klit­schko hat seine poli­ti­schen Ver­bün­de­ten und seine Partei ver­lo­ren. Seine letzte Ver­tei­di­gung ist jetzt „der Wille der Bür­ge­rin­nen und Bürger von Kyjiw“.

Doch dieses Argu­ment über­zeugt nicht jeden, weil Klit­schko auf­grund eines undurch­sich­ti­gen Deals Bür­ger­meis­ter wurde – nach einem Treffen in Wien mit dem Olig­ar­chen Dmytro Fir­tasch und Petro Poro­schenko. Seine infor­mel­len Bezie­hun­gen mit frag­wür­di­gen Geschäfts­leu­ten flo­rier­ten in den letzten fünf Jahren. Die Praxis des ille­ga­len Bauens hörte nicht auf. Manche dieser Inves­ti­tio­nen wurden als rein kos­me­tisch abgetan. Die Sanie­rung des Kon­trak­towa Platzes im his­to­ri­schen Stadt­be­zirk Podil konnte nicht ver­wirk­licht werden. 80 Prozent der Brücken der Stadt sind massiv repa­ra­tur­be­dürf­tig. Eine sym­bol­träch­tige Glas­brü­cke, die Klit­schko am 26. Mai eröff­net hatte, steht auf­grund der Kosten und des Designs im Kreuz­feuer der Kritik. Einige der Glas­bau­steine zer­bra­chen bereits  am Tag der Eröff­nung. Bis Anfang Sep­tem­ber waren sie noch nicht ersetzt, trotz der wie­der­hol­ten Ver­spre­chen durch das Team des Bürgermeisters.

Dennoch wird Klit­schko als der Bür­ger­meis­ter ange­se­hen, der in den ver­gan­ge­nen 28 Jahren am meisten für die Haupt­stadt getan hat. Der Start des Online-Portals „Kyjiw Smart City“ und Ver­su­che, die Bud­get­trans­pa­renz zu erhöhen, ver­bes­ser­ten die Ver­wal­tung der Stadt. Witali und sein Bruder Wla­di­mir, zwei Ikonen des Box­sports, för­der­ten Kyjiws Repu­ta­tion während meh­re­rer Reisen welt­weit. Bür­ger­meis­ter Klit­schko weist alle Kritik als unbe­grün­dete poli­ti­sche Angriffe zurück. An dem Tag, an dem die Regie­rung ihn feuerte, lobte er sich selbst für seine Leis­tun­gen und kün­digte eine Erhö­hung des Stadt­bud­gets von jetzt auf 58 Mil­li­ar­den Hrywna (rund EUR 2,08 Mil­li­ar­den) im Jahr 2020 an. Mei­nungs­um­fra­gen deuten auf seinen Sieg in den nächs­ten Kom­mu­nal­wah­len hin. Er hat bereits ange­kün­digt, wieder kan­di­die­ren zu wollen.

Demnach könnte der aktu­elle Disput in einer Sack­gasse enden. Falls Selen­skyj eine Mög­lich­keit findet, Klit­schko sowohl als Ober­haupt der Stadt­ad­mi­nis­tra­tion als auch des Stadt­ra­tes los­zu­wer­den, so könnte „Doktor Eisen­faust“ dennoch in vor­ge­zo­ge­nen Wahlen oder in den ver­fas­sungs­ge­mäß für den letzten Sonntag im Oktober vor­ge­se­he­nen Kom­mu­nal­wah­len wie­der­ge­wählt werden. Wie bereits in der Ver­gan­gen­heit lähmt die Kon­kur­renz zwi­schen dem demo­kra­tisch gewähl­ten Bür­ger­meis­ter und dem vom Prä­si­den­ten ernann­ten Leiter der Stadt­ver­wal­tung alle Pro­jekte und Refor­men in der Hauptstadt.

Ange­sichts dieser Pro­bleme mag man sich fragen, welche Moti­va­tion Selen­skyj und der Leiter seiner Ver­wal­tung Bohdan haben, Kyjiw unter ihre Kon­trolle zu bringen. Es ist tat­säch­lich in vielen Ländern üblich, dass die Führung der Haupt­stadt und die Exe­ku­tive nicht der­sel­ben poli­ti­schen Partei ange­hö­ren. Eine funk­tio­nale Koope­ra­tion in diesen Fällen zeigt die Reife der gut funk­tio­nie­ren­den Insti­tu­tio­nen des Landes. Selen­skyjs Ambi­tion, alle wich­ti­gen Insti­tu­tio­nen zu „sanie­ren“, ist ein legi­ti­mes Ziel, das von der über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit der Ukrai­ner unter­stützt wird. Dennoch sollte es nicht den ver­fas­sungs­recht­li­chen Bestim­mun­gen wider­spre­chen. Ein hartes Vor­ge­hen gegen Klit­schko würde an andere Bür­ger­meis­ter im ganzen Land eine furcht­ein­flö­ßende Bot­schaft aus­sen­den. Vor allem wäre es ein Wider­spruch zu Selen­skyjs Ver­spre­chen, eine der wirk­sams­ten Refor­men seit 2014 zu achten: den Dezen­tra­li­sie­rungs­pro­zess des Landes und die gestärkte Auto­no­mie der lokalen Behörden.

Darüber hinaus ist es nicht offen­sicht­lich, dass eine Ablö­sung Klit­sch­kos die Situa­tion in Kyjiw ver­bes­sern würde. Mehrere Ana­ly­sen nennen Olek­sandr Tkat­schenko als poten­zi­el­len Kan­di­da­ten. Der neu­ge­wählte Abge­ord­ne­ter der Partei „Diener des Volkes“ ist der ehe­ma­lige CEO des Fern­seh­sen­ders 1+1. Seine Ernen­nung würde bestä­ti­gen, dass der Besit­zer von 1+1, der Olig­arch Ihor Kolo­mois­kyj, starken Ein­fluss auf Selen­skyj ausübt. Sie würde wahr­schein­lich die Fort­füh­rung einiger undurch­sich­ti­ger Modelle signa­li­sie­ren. Wie der poli­ti­sche Experte Wolo­do­myr Fesenko sagt, „könnte Kor­rup­tion nicht nur durch den gewähl­ten Bür­ger­meis­ter, sondern auch durch das Ober­haupt der Stadt­ver­wal­tung laufen.“

Der Prä­si­dent könnte in dieser Schlacht gegen Klit­schko unter dem Deck­man­tel einer „Sys­temsa­nie­rung“ mehr Macht erhal­ten und die Regie­rung einer dis­kre­di­tier­ten, kor­rup­ten Elite beenden. Die Kyjiwer Stadt­ver­wal­tung auf seine Seite zu bringen scheint ein langer und kom­pli­zier­ter Kampf zu sein, der aller­dings schein­bar die Regeln der Ver­fas­sung nicht respek­tiert. Selen­skyj beweist weiter, dass er alles im Land ver­än­dern möchte – und das auch schaf­fen wird. Er ist mög­li­cher­weise gut beraten, seine weit­rei­chende Macht dafür ein­zu­set­zen, das archai­sche und idio­ti­sche Regie­rungs­sys­tem in Kyjiw zu beenden, für die nächs­ten Wahlen zum Stadt­rat einen Kan­di­da­ten zu formen und zu unter­stüt­zen und Kyjiws Bevöl­ke­rung selbst ent­schei­den zu lassen.

Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Ingrid Müller.

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