Präsident gegen Bürgermeister – Wer regiert künftig die Hauptstadt Kyjiw?
Präsident Selenskyj hat eine „Sanierung“ der politischen Klasse versprochen. Bürgermeister Klitschko behauptet, den Willen der Kyjiwer Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen. Wer wird gewinnen?
Es ist schwieriger, politische Attacken abzuwehren, als einen Boxer im Ring. Diese Erfahrung macht derzeit der ehemalige Boxchampion und Bürgermeister von Kyjiw, Witali Klitschko. Der Schlag, der ihn soeben traf, ist seinen eigenen Aussagen zufolge „illegal, verfassungswidrig und undemokratisch.“ Doch Klitschko ist anscheinend selbst angreifbar. Am 4. September wurde er von Ministerpräsident Oleksij Hontscharuk von seinem Posten als Oberhaupt der Kyjiwer Stadtverwaltung entlassen. Die endgültige Entscheidung liegt nun beim ehemaligen Komiker und Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Klitschko warf ihm vor, eine „direkte Präsidialregierung“ in der Hauptstadt einführen zu wollen.
Das Büro des Präsidenten hat derartige Ambitionen weder bestätigt noch dementiert. Doch Wolodmyr Selenskyj hat bei den jüngsten Wahlen zum Präsidenten und zum Parlament eine „Sanierung“ der politischen Klasse versprochen. Er hat es darauf abgesehen, eine Reihe dubioser und korrupter Personen für immer aus ihren Ämtern zu entfernen. Die Beziehung, die Klitschko anscheinend mit dem Immobilienmagnaten und neuen Parlamentsabgeordneten Wadym Stolaruk aus der putinfreundlichen Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ unterhält, ist der Hauptgrund, warum das Team von Selenskyj versucht, ihn zu feuern.
Klitschkos Abberufung kam nicht überraschend. Sie wurde vom Büroleiter der Präsidenten, Andrij Bohdan, schon im Juli angekündigt. Dennoch schafft sie eine instabile Situation. Selenskyj hat die Macht, Klitschko von seinem Posten als Oberhaupt der Stadtverwaltung zu entfernen. Aber Klitschko bleibt noch gewähltes Oberhaupt des Stadtrates, da Kyjiw durch ein antiquiertes duales System regiert wird. „Nur die Wählerinnen und Wähler Kyjiws haben es in der Hand, mich zu entlassen“, wiederholt Klitschko wieder und wieder. Er besteht darauf, die „Kyjiwer Selbstbestimmung“ zu verteidigen. Der schwelende Konflikt wird sich nur schwer lösen lassen. Würde Selenskyj mit mehr Vehemenz darauf drängen, Klitschko tatsächlich zu feuern, könnte ihm der Ehrgeiz unterstellt werden, allmächtig werden zu wollen, obwohl er ohnehin schon ein mächtiger Präsident ist.
An und für sich war der Streit aufgrund des speziellen Status der Kyjiwer Administration vorhersehbar. Das sowjetische Erbe des Systems der dualen Regierung sorgt seit Jahren für Spannungen. Die strategische Lage Kyjiws entlang des Dnipro sowie der Zugang zu finanziellen Ressourcen, die Aussicht auf saftige Investitionen im Immobilienbereich und der Einfluss auf die Verwaltung des Zentralstaates haben immer einen intensiven Wettbewerb um die Kontrolle der Stadt ausgelöst. Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk, sah sich bereits in den Jahren 1992–93 mit einem ähnlichen Konflikt um die Führung der Stadt konfrontiert. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes 2003 besagte, dass die gewählte Person als Oberhaupt des Stadtrates de-facto die Exekutive, also die Stadtverwaltung, übernehmen muss. Das hielt Wiktor Janukowitsch nicht davon ab, den vom Präsidenten ernannten Oleksandr Popow als alleinigen Verwalter von 2010 bis 2013 einzusetzen.
Klitschko kann jetzt argumentieren, dass er den Willen der Kyjiwer Bürgerinnen und Bürger verteidigt. Doch als er 2014 an die Macht kam, war auch dies das Ergebnis eines Deals, den er mit Petro Poroschenko ausgehandelt hatte. „Doktor Eisenfaust“, wie Klitschko genannt wurde, stellte dem „Schokoladenkönig“ seine Partei „UDAR – Schlag“ zur Seite, um die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, während er sich einverstanden erklärte, Kyjiw zu führen, um die Hauptstadt zu einem Partner für den neuen Präsidenten zu machen. Der Deal hielt fünf Jahre, bis klar wurde, dass Poroschenko die Präsidentschaftswahlen 2019 verlieren wird. Klitschko versuchte dann, Kontakte mit dem neuen Team Selenskyjs zu knüpfen. Er traf sich sogar mit Donald Trumps Anwalt Rudolph Giuliani und versuchte, seine Position zu verteidigen. Nichts davon half. Klitschko hat seine politischen Verbündeten und seine Partei verloren. Seine letzte Verteidigung ist jetzt „der Wille der Bürgerinnen und Bürger von Kyjiw“.
Doch dieses Argument überzeugt nicht jeden, weil Klitschko aufgrund eines undurchsichtigen Deals Bürgermeister wurde – nach einem Treffen in Wien mit dem Oligarchen Dmytro Firtasch und Petro Poroschenko. Seine informellen Beziehungen mit fragwürdigen Geschäftsleuten florierten in den letzten fünf Jahren. Die Praxis des illegalen Bauens hörte nicht auf. Manche dieser Investitionen wurden als rein kosmetisch abgetan. Die Sanierung des Kontraktowa Platzes im historischen Stadtbezirk Podil konnte nicht verwirklicht werden. 80 Prozent der Brücken der Stadt sind massiv reparaturbedürftig. Eine symbolträchtige Glasbrücke, die Klitschko am 26. Mai eröffnet hatte, steht aufgrund der Kosten und des Designs im Kreuzfeuer der Kritik. Einige der Glasbausteine zerbrachen bereits am Tag der Eröffnung. Bis Anfang September waren sie noch nicht ersetzt, trotz der wiederholten Versprechen durch das Team des Bürgermeisters.
Dennoch wird Klitschko als der Bürgermeister angesehen, der in den vergangenen 28 Jahren am meisten für die Hauptstadt getan hat. Der Start des Online-Portals „Kyjiw Smart City“ und Versuche, die Budgettransparenz zu erhöhen, verbesserten die Verwaltung der Stadt. Witali und sein Bruder Wladimir, zwei Ikonen des Boxsports, förderten Kyjiws Reputation während mehrerer Reisen weltweit. Bürgermeister Klitschko weist alle Kritik als unbegründete politische Angriffe zurück. An dem Tag, an dem die Regierung ihn feuerte, lobte er sich selbst für seine Leistungen und kündigte eine Erhöhung des Stadtbudgets von jetzt auf 58 Milliarden Hrywna (rund EUR 2,08 Milliarden) im Jahr 2020 an. Meinungsumfragen deuten auf seinen Sieg in den nächsten Kommunalwahlen hin. Er hat bereits angekündigt, wieder kandidieren zu wollen.
Demnach könnte der aktuelle Disput in einer Sackgasse enden. Falls Selenskyj eine Möglichkeit findet, Klitschko sowohl als Oberhaupt der Stadtadministration als auch des Stadtrates loszuwerden, so könnte „Doktor Eisenfaust“ dennoch in vorgezogenen Wahlen oder in den verfassungsgemäß für den letzten Sonntag im Oktober vorgesehenen Kommunalwahlen wiedergewählt werden. Wie bereits in der Vergangenheit lähmt die Konkurrenz zwischen dem demokratisch gewählten Bürgermeister und dem vom Präsidenten ernannten Leiter der Stadtverwaltung alle Projekte und Reformen in der Hauptstadt.
Angesichts dieser Probleme mag man sich fragen, welche Motivation Selenskyj und der Leiter seiner Verwaltung Bohdan haben, Kyjiw unter ihre Kontrolle zu bringen. Es ist tatsächlich in vielen Ländern üblich, dass die Führung der Hauptstadt und die Exekutive nicht derselben politischen Partei angehören. Eine funktionale Kooperation in diesen Fällen zeigt die Reife der gut funktionierenden Institutionen des Landes. Selenskyjs Ambition, alle wichtigen Institutionen zu „sanieren“, ist ein legitimes Ziel, das von der überwältigenden Mehrheit der Ukrainer unterstützt wird. Dennoch sollte es nicht den verfassungsrechtlichen Bestimmungen widersprechen. Ein hartes Vorgehen gegen Klitschko würde an andere Bürgermeister im ganzen Land eine furchteinflößende Botschaft aussenden. Vor allem wäre es ein Widerspruch zu Selenskyjs Versprechen, eine der wirksamsten Reformen seit 2014 zu achten: den Dezentralisierungsprozess des Landes und die gestärkte Autonomie der lokalen Behörden.
Darüber hinaus ist es nicht offensichtlich, dass eine Ablösung Klitschkos die Situation in Kyjiw verbessern würde. Mehrere Analysen nennen Oleksandr Tkatschenko als potenziellen Kandidaten. Der neugewählte Abgeordneter der Partei „Diener des Volkes“ ist der ehemalige CEO des Fernsehsenders 1+1. Seine Ernennung würde bestätigen, dass der Besitzer von 1+1, der Oligarch Ihor Kolomoiskyj, starken Einfluss auf Selenskyj ausübt. Sie würde wahrscheinlich die Fortführung einiger undurchsichtiger Modelle signalisieren. Wie der politische Experte Wolodomyr Fesenko sagt, „könnte Korruption nicht nur durch den gewählten Bürgermeister, sondern auch durch das Oberhaupt der Stadtverwaltung laufen.“
Der Präsident könnte in dieser Schlacht gegen Klitschko unter dem Deckmantel einer „Systemsanierung“ mehr Macht erhalten und die Regierung einer diskreditierten, korrupten Elite beenden. Die Kyjiwer Stadtverwaltung auf seine Seite zu bringen scheint ein langer und komplizierter Kampf zu sein, der allerdings scheinbar die Regeln der Verfassung nicht respektiert. Selenskyj beweist weiter, dass er alles im Land verändern möchte – und das auch schaffen wird. Er ist möglicherweise gut beraten, seine weitreichende Macht dafür einzusetzen, das archaische und idiotische Regierungssystem in Kyjiw zu beenden, für die nächsten Wahlen zum Stadtrat einen Kandidaten zu formen und zu unterstützen und Kyjiws Bevölkerung selbst entscheiden zu lassen.
Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid Müller.
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