Sokratische Dialoge in Zeiten des Krieges – Wie die Künstlerin Alevtina Khakidze Kinder und Jugendliche zum Nachdenken bringt
Die aus dem Donbas stammende ukrainische Konzeptkünstlerin Alevtina Kakhidze hat erst nach den Maidan-Protesten begonnen, politische Kunst auch für Kinder und Jugendliche zu machen.
Dabei ist sie mit Änderungen im ukrainischen Bildungssystem konfrontiert worden, die sie dazu bewegt haben, ein eigenes Dialogformat mit Kindern und Jugendlichen zu entwickeln. Sie hat Fragen gesammelt, wie man über ein so komplexe Themen wie Patriotismus und Staatsbürgerschaft in Zeiten des Krieges sprechen kann. Seit nunmehr zwei Jahren führt sie in zahlreichen Schulen des Landes Projektunterricht durch, der auch einen kritischen Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine zulässt.
Alevtina Kakhidze im Gespräch mit Karoline Gil.
Wie haben die Ereignisse auf dem Maidan vor fünf Jahren deine Kunst verändert?
Ich habe mich in meinen Arbeiten schon immer mit Traumata, Ängsten und unbequemen Gefühlen auseinandergesetzt. Insofern hat die „Revolution der Würde“ unmittelbar Einfluss auf mein Leben genommen, dennoch habe ich meinen Stil nicht geändert. Lediglich mein Blick hat sich geweitet. Ich hätte mir bis dahin nicht vorstellen können, mit staatlichen Institutionen zusammen zu arbeiten. Soeben komme ich aus Odessa, wo ich mich mit 40 Lehrern und auch Schülern zu Themen wie Patriotismus und Nationalismus auseinandergesetzt habe. Das ist eine ganz neue Entwicklung in meiner Arbeit, in Schulen und Museen zu gehen.
Was stört dich an der jetzigen Debatte in der Ukraine?
Die Situation ist schwierig. Aktuell gibt es immer noch Krieg in unserem Land, der bislang über 13.000 Menschen das Leben gekostet hat. Daher überwiegt das Narrativ, das Land einen zu müssen. Man hat Angst, den Staat zu verlieren. Patriotische Ideen sind in den Vordergrund gerückt. Und das macht sich auch in unserem Bildungssystem bemerkbar.
Seit 2015 gibt es neue Vorgaben seitens des ukrainischen Bildungsministeriums, was die „patriotische“ Erziehung anbetrifft. In den Schulen sind beispielsweise Schautafeln angebracht worden, die ein vereinfachtes, folkloristisches und homogenes Bild der Ukraine in den Köpfen der Kinder verankern sollen. Von der Ästhetik her erinnern diese Schautafeln an die hässlichsten Sowjetzeiten. Ihr Inhalt wird meiner Ansicht nach weder zur Diskussion gestellt noch mit den Kindern reflektiert. Wie sollen sie auch verstehen, was es zu hinterfragen gäbe?
Wie kam es dazu, dass du den Dialog über die Kunst zu diesen schwierigen Themen wie Identität, Staatsbürgerschaft und Patriotismus in Schulen gewählt hast?
Es begann tatsächlich in meinem Dorf, das außerhalb von Kyiv liegt. Ich bin Konzeptkünstlerin, unterrichte aber von Zeit zur Zeit auch in der Schule. Eines Tages wurde ich gefragt, ob ich beim Anbringen dieser Tafeln helfen könnte. Unter anderem wurden Fotos von Soldaten, die an der Front waren, angebracht. Daraus wurde so etwas wie eine Heldenerzählung an den Wänden im Schulgebäude.
Danach stellte ich mir selbst viele Fragen, die mich bis beute begleiten. Ich habe im Anschluss mit Philosophen, Schriftstellern und Künstlern diskutiert, um weitere Impulse für einen Dialog mit Kindern und Jugendlichen zu sammeln. Mir geht es vor allem darum, dass wir ihre Perspektive einbeziehen und sie nicht mit einer einseitigen Erzählung manipulieren. Die Kunst kann vielleicht einen möglichen Weg aufzeigen.
Wie kann ein Bürger, der sein Land liebt, kritische Fragen zum gängigen Narrativ stellen? Wie kann man Staatsbürgerschaft, wie kann man die Ukraine, ein Land, das im Krieg ist, hinterfragen?
Wie reagieren Lehrer und Schüler, wenn du sie mit deinen Fragen konfrontierst?
Zunächst sind die Lehrer geschockt. Wie kann ein Bürger, der sein Land liebt, kritische Fragen zum gängigen Narrativ stellen? Wie kann man Staatsbürgerschaft, wie kann man die Ukraine, ein Land, das im Krieg ist, hinterfragen?
Die Schüler hingegen reagieren ganz positiv – wenn auch zunächst vorsichtig – auf diesen partizipatorischen Dialog. Das ist neu für sie und sie schauen immer wieder ängstlich auf ihre Lehrer. Darf ich diese Fragen überhaupt beantworten? Ich taste mich vorsichtig heran, damit sie beginnen, Worte, die sie ständig hören, zunächst einmal zu verstehen. Was heißt es, ein guter Ukrainer zu sein? Kann man sein Land auch kritisch betrachten und dennoch ein guter Ukrainer sein?
Die Schüler lassen sich nach einiger Zeit auf ein ehrliches Gespräch ein und trauen sich Fragen zu stellen, was fantastisch ist. Sie merken, dass ich sie ernst nehme und dass auch sie zu Wort kommen. Wir brauchen genau eine solche Arbeit in unseren Schulen. Ich war bis jetzt in 30 Schulen. Wenn die Lehrer erst einmal das Ergebnis sehen, dann sind sie begeistert.
Gibt es Unterschiede zwischen den Schulen in der Ost- und der Westukraine?
Im Osten der Ukraine ist der Krieg Teil des Alltags der Kinder. Sie sind wesentlich konfliktsensitiver und empfindlicher. Ich treffe auch Kinder, die ihre Zukunft mit Russland verbinden. Wenn man sie nach ihren Träumen fragt, dann ist das Ende des Krieges aber nur ein Traum. Kein realistischer und in weiterer Entfernung.
Wer unterstützt deine Arbeit?
Bis jetzt ist das noch meine private Initiative. Ich versuche, weitere Mitstreiter zu gewinnen, denn die Nachfrage steigt und es wäre sinnvoll, Multiplikatoren zu finden, um mehr Schüler zu erreichen. Die Lehrer fragen nach Materialien zum Schulunterricht. Ich bin gerade dabei, Methodenhefte zu entwickeln. Teilweise habe ich Förderung von der USAID, der Agentur der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung, erhalten oder werde dann direkt von den Schulen eingeladen. Ich habe aber noch keine Unterstützung vom ukrainischen Ministerium für Bildung bekommen. Das ist mein nächstes Ziel. Wenn ich eine Vision habe, dann denke ich an den Garten von Sokrates. Einen Raum in der Ukraine zu schaffen, der die Schönheit der Dialektik hervorholt und tiefgründige Fragen nach unserer Identität und unserem Selbstverständnis zulässt.
Alevtina Kakhidze
1973 im Osten der Ukraine als Tochter eines Georgiers geboren, lernte Alevtina Kakhidze erst mit 22 Jahren Ukrainisch, nachdem sie 1995 nach Kiew gezogen war. Kakhidze sammelte als Kunststudentin in Maastricht von 2004 bis 2006 ihre ersten Auslandserfahrungen. Im Winter 2013–2014 unterstützte sie aktiv die Maidan-Proteste. Der Informationskrieg zwischen der Ukraine und Russland, West und Ost, bilden zusammen mit ihrer persönlichen Biografie die komplexe Grundlage ihrer Arbeit für die Manifesta 10 „Where The Wild Things Are“.
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