Sowjetische Mosaike in der Ukraine
An Tausenden von Häuserfassaden in der Ukraine gibt es Mosaike aus der Sowjetzeit, die aktuell bedroht sind. Laut Dekommunisierungsgesetz von 2015 müssen kommunistische Symbole aus dem öffentlichen Raum verschwinden. So ist auch dieses kulturelle Erbe von der Zerstörung bedroht. Der junge Kyjiwer Fotograf Jewgen Nikiforow hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Mosaike zu fotografieren und ihre kunst- und kulturhistorische Bedeutung international bekannt zu machen. Das Interview führte Karoline Gil vom ifa (Institut für Auslandsbeziehungen).
Herr Nikiforow, was macht die Mosaiklandschaft in der heutigen Ukraine so einzigartig?
Für mich bieten die Mosaike die Möglichkeit, mich mit der Kultur meines Landes und den visuellen Code verschiedener Städte vertraut zu machen. Mit der sowjetischen modernistischen Monumentalkunst und Architektur habe ich mir ein bislang ungewohntes Terrain erschlossen.
In der Sowjetzeit war diese Kunst vor allem ein Instrument, um politische Botschaften zu vermitteln. Aber sie wurde eben von ukrainischen Künstlern gemacht. In den späten 1930er Jahren wurden die Künstler der sogenannten „Schule von Michail Boychuk“, darunter auch Boychuk selbst, hingerichtet. Erst in den 1960-er Jahren wollte man die Mosaike aufgrund einer Art „nationalen“ Aufschwungs wiederbeleben.
Die sowjetische Monumentalkunst griff auf volkstümliche, auch ukrainische Motive zurück. Die Mosaike an den Gebäuden zeigen häufig Menschen in traditionellen Kostümen und mit Volksmusikinstrumenten.
Gerade diese Motive haben sich in kleinen Städten und Dörfern durchgesetzt. So war diese Kunstform der 1960er Jahre sowohl propagandistisch, sie ließ aber auch innovative künstlerische Ideen zu. Die Mosaike aus der Sowjetzeit wurden von den bedeutendsten Künstlern geschaffen. Ihre Werke sind wie in einem Freilichtmuseum im ganzen Land zu sehen – es sind dieselben Künstler, deren Werke sonst in den großen Museen ausgestellt werden. Die Mosaike sind Teil unserer Geschichte und Identität.
Was hat dich inspiriert, dich für sowjetische Mosaike zu interessieren, sie zu fotografieren und zu dokumentieren? Gibt es einen Bezug zu deiner Biografie?
Es begann alles 2013 mit einem Auftrag für das Buch „Art of Ukrainian Sixties“. Für das Buch habe ich auch einige Mosaike der 1960er Jahre fotografiert. Ich war von Anfang an fasziniert und habe mich gefragt, wie viele von ihnen generell noch in Kyjiw erhalten sind, wo es Informationen gibt und, ob sie bislang professionell fotografiert wurden. Es gab zwar einige Fotografien. Aber ihren richtigen Wert kann man aus diesen Arbeiten nicht ableiten. Und wenn man die Mosaike mit seinen eigenen Augen sieht, versteht man: Das ist Kunst.
Wie sieht deine tägliche Arbeit aus?
Ich teile meine Arbeit in zwei Phasen ein – Recherche und Aufnahmen. Meine Recherchen sehen so aus, dass ich nach Informationen und Orten in Dutzenden Quellen suche. Ich arbeite in Bibliotheken, in Archiven, suche archivierte Zeitschriften über die Architektur der 1960er- bis 1980er-Jahre und treffe mich mit Künstlern und ihren Familien. Ein anderer Teil der Arbeit ist die Fotografie. Ich versuche diesen Teil des Projekts möglichst im Winter und im Frühjahr zu machen, wenn die Wetterbedingungen für diese Arbeit am besten sind.
Außerdem verbringe ich viel Zeit damit, um an Büchern zu arbeiten und mich an Ausstellungen zu beteiligen. Es ist sehr wichtig, diese Kunst in den internationalen Diskurs einzuführen – dies ist eine Möglichkeit, um sie in Zukunft zu schützen.
Du fährst für deine Arbeit Tausende von Kilometer durch die ganze Ukraine. Wie kannst du deine Arbeiten finanzieren?
Ein Projekt wurde von „Osnovy Publishing House“ aus Kyjiw in den Jahren 2015 und 2016 unterstützt. In der Zeit konnte ich mehr als 100 Städte und Dörfer besuchen. Im Jahr 2019 wurde ich vom Goethe-Institut Ukraine gefördert. Die Finanzierung half mir, rund 10.000 km zu fahren und rund 500 neue Kunstwerke im ganzen Land zu fotografieren. Aber zu jeder anderen Zeit finanziere ich mich selbst – ich nutze meine eigenen Ressourcen für Reisen und Forschung. Bisher glaube ich nicht, dass ich staatliche Mittel in der Ukraine bekommen werde, aber ich hoffe, eine Förderung im Ausland zu finden – dies würde mir bei den Aufnahmen sehr helfen.
Die Zeit rennt, denn jedes Jahr verschwinden Hunderte von Mosaiken.
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Gibt es ähnliche Projekte in der Ukraine oder in anderen postsowjetischen Staaten, die wie du die Kunst aus der Sowjetzeit retten wollen?
Ich kenne einige Menschen aus Georgien, Kasachstan, Russland, Belarus, Kirgisistan, die sich bemühen, Bücher zu veröffentlichen, Nachforschungen anzustellen und zumindest monumentale Kunstwerke in ihren Ländern zu dokumentieren. Leider erhalten sie keinerlei Förderung vom Staat. Alles geschieht aus privater Initiative heraus. Auch in der Ukraine arbeiten nur wenige an der Dokumentation von Architektur und von monumentalen Kunstwerken aus der Zeit der Sowjetmoderne.
Du thematisierst immer wieder, wie stark die Mosaike in der Ukraine gefährdet sind. Kannst du Beispiele dafür geben?
Es ist so, dass die Mosaike teilweise selbst zerfallen oder aber, dass sie absichtlich oder unwissentlich zerstört werden. Egal aus welchem Grund, sie verschwinden gerade vor unseren Augen.
Bis auf wenige Werke werden sie nicht von der Regierung oder lokalen Behörden geschützt. Meistens werden die Mosaike bei Renovierungs- oder Reparaturarbeiten einfach abgetragen.
Hinzu kommt, dass im Jahr 2015 in der Ukraine das sogenannte „Dekommunisierungsgesetz“ erlassen wurde, das kommunistische und nationalsozialistische Symbole verbietet. In den Ländern Mittel- und Osteuropas, im Baltikum und auf der Balkanhalbinsel wurde damit bereits nach dem Ende des Kommunismus in den 1990er Jahren begonnen. Archive wurden geöffnet, topografische Objekte umbenannt und Denkmäler abgerissen. Laut dem Gesetz von 2015 müssen nun alle kommunistischen Symbole in der Ukraine im öffentlichen Raum entfernt werden. Auch die Mosaike mit kommunistischen Symbolen sind davon nicht ausgenommen.
Wie viele Mosaike müssen tatsächlich entfernt werden und was heißt das für die Auseinandersetzung der Ukrainer mit der sowjetischen Vergangenheit?
Es gibt in der Tat nur einen relativ kleinen Teil von Mosaiken mit offensichtlichen Symbolen der kommunistischen Ideologie, die unter das Gesetz der Dekommunisierung fallen würden. Auch dann wäre es meiner Meinung nach besser, diese Mosaike stehen zu lassen und mit Informationstafeln zu versehen, die das Kunstwerk historisch einbetten. Man würde wesentlich mehr zur Geschichtsaufarbeitung beitragen, wenn man diese „Beweise“ sichern und nicht absichtlich auslöschen würde. Geschichte toleriert doch keine weißen Flecken. Diese werden unweigerlich mit neuen Mythen gefüllt.
Darüber hinaus bieten die Mosaike auch die Möglichkeit, in die Kunstgeschichte einzutauchen, in die lokale Geschichte, in ihren visuellen Codes.
Die Mosaikplatten repräsentieren Themen aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, regionale Muster und Kleidung. In der Region Asow gibt es zum Beispiel Mosaike mit Bezug zu den Griechen, in Uschgorod zu den Rusinen, im Süden von Odesa sieht man gagauisische Muster – alle sind nationale Minderheiten in der Ukraine.
Was war der schockierendste, was der beeindruckendste Moment, den du bei der Arbeit mit den Objekten erlebt hast?
Am interessantesten für mich ist, wenn ich etwas Neues entdecke – in der Ukraine gibt es noch in Hunderten von Städten und Dörfern so viel Unbekanntes. Ich bin immer wieder froh, wenn ich Mosaike finde, die in keinem Archiv zu finden sind oder über die es bislang keine Informationen gibt. Und ich bin schockiert darüber, in welchem Umfang der sowjetische Staat damals im öffentlichen Raum visuelle Propaganda betrieben hat und wie viel Geld dafür ausgegeben wurde.
Was war dein bislang größter Erfolg?
Ich bin froh, dass ich bereits zwei Bücher in der Ukraine über monumentale Kunst mit internationalem Vertrieb bei einem deutschen Verlag herausbringen konnte. Auch das erste Buch „Decommunized: Ukrainian Soviet Mosaics“, das 2017 als „ArtBook des Jahres“ auf der ukrainischen Buchmesse „Book Arsenal“ in Kyjiw ausgezeichnet wurde, konnte ich auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen. 2019 nutzte das Ukrainische Institut anhand meiner Mosaikfotos ein 3D-Mapping für eine Fassadenprojektion am Leopold Museum im Wiener Museumsviertel. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass eine staatliche Organisation die Existenz ihres sowjetischen Erbes anerkannte. Es sind nur erste Schritte, um diese Kunst als Kunst ukrainischer Künstler anzuerkennen, und nicht nur als Teil der Staatspropaganda.
Was sollte geschehen, um diese einzigartigen Kunstwerke zu retten?
Ich glaube, dass es meine Mission ist, die hohe künstlerische Qualität und den Wert dieser Kunstwerke aufzuzeigen.
Es war eben nicht nur Propaganda, sondern Teil der lokalen Kunst, die sich in die Architekturlandschaft einfügt.
Leider wurden viele Werke bereits unter staatlicher Mitwirkung und der örtlichen Behörden zerstört. Trotzdem gibt es tausende Werke, die noch da sind. Der Staat könnte sie mithilfe von Gesetzen schützen, indem er ihnen den Status neu entdeckter Architekturdenkmäler verleiht. Das sind elementare Dinge, aber in der Ukraine funktionieren sie immer noch nicht. Ein Moratorium für die Zerstörung monumentaler Kunst wäre ebenfalls hilfreich.
Jewgen Nikiforow (1986) ist ein Kyjiwer Dokumentarfotograf und bildender Künstler, der seit 2013 an unabhängigen Dokumentarfilmprojekten arbeitet. Eines der Hauptthemen, an denen er seit sechs Jahren arbeitet, ist das sowjetische Kulturerbe und die kontroverse Haltung, die er heute dazu einnimmt. Autor der Bücher „Dekommuniziert: Ukrainisch-sowjetische Mosaiken“ (Osnovy-Verlag, Kyjiw- und Dom-Verlag, Berlin, 2017) und „Ukraine. Kunst für Architektur. Sowjetische Mosaiken der Moderne 1960 bis 1990“ (Dom-Verlag, Berlin, 2020)
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