Kein „Zeuge des Sofas“
Der Autor und Publizist Christoph Brumme bietet mit „111 Gründe, die Ukraine zu lieben“ eine brisante Mischung aus Reportageband, politischem Buch und unterhaltsamem Reiseführer.
Der lang unterschätzte Komödiant kam gerade an die Staatsspitze, als dieses Buch beendet wurde. Was Christoph Brumme jetzt wohl an seiner klug abwägenden Einschätzung Selenskyjs von damals ändern würde? Dass man auf sein politisches Urteil sehr gespannt wäre, zeigt eine Wirkung seines ohne Zweifel wichtigen, dabei außergewöhnlich abwechslungsreichen und exzellent geschriebenen Buches. Wölfe, Wodka, Wyschywanka kommen hier natürlich vor und alle erwartbaren Ukraine-Klischees, aber in jedem Fall überraschend. Auf diese Weise entsteht so etwas wie produktive Verwirrung. Das macht das Buch zu weit mehr als einer platten Liebeserklärung.
Sein Autor, Christoph Brumme, kennt die Ukraine besser als mancher Ukrainer, weil er das Land seit 20 Jahren bereist, meist auf dem Fahrrad. Gleichwohl bleibt er bescheiden: „In der Ukraine bin ich gerne Ausländer. Hier werde ich immer in der Rolle des Schülers und des Zuhörers sein, und das gefällt mir.“ Deshalb gründen seine Recherche-Ergebnisse aus vielen Quellen auf einer extrem reichen und unmittelbar persönlichen Erfahrung. Dass er seit seiner Heirat mit einer Ukrainerin im Mai 2016 im Land lebt, vertieft seine Kenntnisse natürlich. Ähnlich bedeutsam ist, dass er als DDR-Bürger am eigenen Leib den Systemwechsel von kommunistischer Diktatur zu kapitalistischer Gesellschaft erfuhr. Das schärft, wie man im Buch immer wieder bemerkt, seinen Blick. So begegnet er Sowjet-Nostalgie stets mit entlarvenden Gegenargumenten. Schließlich sollte man noch erwähnen, dass Brumme seit Jahrzehnten Romane verfasst, Hörspiele, Reiseberichte und dazu politische Analysen oder Reportagen für Sender wie den WDR oder die „Neue Zürcher Zeitung“. Das erklärt seine bestechende Verbindung von kritischer Aufklärung und stilistisch überzeugender Erzählung.
Was sind nun seine „Gründe, die Ukraine zu lieben“? Hier eine kleine Auswahl aus den neun thematischen Kapiteln: „Weil die Ukrainer Fußballweltmeister sind. Weil Lwiw zu sich selbst gefunden hat. Weil ukrainische Frauen schöner als Rosen sind. Weil im Donbas die gastfreundlichsten Menschen der Ukraine leben. Weil Wiktor Janukowytsch ein Wettergott war. Weil Poltawa die verrückteste Stadt der Ukraine ist. Weil Ukrainer sich von der Last ihrer grausamen Geschichte befreien konnten. Weil Kinder zwei Sprachen lernen können. Weil Ukrainer sich nicht alles gefallen lassen. Weil die Ukraine ein Land ohne Zäune ist. Weil Ukrainer mehr über Deutsche wissen als Deutsche über Ukrainer. Weil Kosakentee Körper und Seele stärkt. Weil es so schöne Mosaike gibt.“
Diese Mosaike kann man übrigens in den beiden farbigen Bildteilen des Buches sehen, deren Fotos oft von Brumme selbst stammen und wirkungsvoll den Text unterstreichen.
Seine Liebeserklärung an „Das schönste Land der Welt“, so der Untertitel, wirkt immer wieder mal schwärmerisch, doch kaum regt sich Misstrauen, bringt Brumme Humor, Ironie, Polemik oder eine schwebende Kritik ins Spiel, die vergnüglich zum Überdenken des Gelesenen anregt. Damit folgt er einer angelsächsischen Tradition, die Unterhaltung nie verachtete. Brumme setzt sie souverän ein, um den Leser im umfassend über dieses in Deutschland doch weithin nur klischeehaft bekannte europäische Land aufzuklären.
Auf den 300 Seiten fehlt es nicht an hilfreichen Hinweisen zu Landschaften, Städten, Spezialitäten, Verhaltensregeln für Reisende, an Informationen über Geschichte und Leute, die man allerdings in dürrer Form auch andernorts finden könnte. Brumme geht weit darüber hinaus, indem er die Fakten stets einbindet: in eine Erzählung, in eine Reportage, in eine politische Analyse, in persönliche Erlebnisse. Und einseitig, gar liebesblind wird der Autor dabei nie.
So liest man über den Sozio- und Genozid Stalins an den Ukrainern, dem Holodomor, aber auch über Pogrome an Juden durch andere Ukrainer. Der Bewunderung lebendiger Demokratie und eines politisch aktiven Freiheitsdrangs steht Kritik an Korruption im Alltag und bis in die Justiz hinein gegenüber, Kritik an schlechten Straßen, an Vermüllung der Natur, am schlechten Gesundheits- oder Rentenwesen und an Watteköpfen, Watnikis, wie man Propagandagläubige nennt.
Dabei ist sich Brumme im klaren, dass ein gewaltiger Wandel ungeheure Anpassungsleistungen von allen verlangt, dass der Schattenkrieg Putins gegen das Land enorme Belastungen verursacht, von der Annexion der Krim zu schweigen. Der Autor erklärt zudem die besondere Einstellung Regeln und Regierungen gegenüber: „Ukrainer haben nicht solch ein humorloses Verhältnis zu Gesetzen und zum Staat wie die Deutschen. Sie müssen über den Staat lachen, sonst würden sie ihn nicht ertragen.“ So zitiert er auch die verbreitete Weisheit: „Es ist leichter, einen Wolf mit Gras zu füttern, als einem Politiker das Stehlen abzugewöhnen.“
Brumme spielt sich sympathischerweise nirgendwo als Besserwisser auf und erwähnt mehrfach eigene Irrtümer und Fehleinschätzungen. Sie stammen durchweg aus der Zeit, als er noch, wie er es nennt, „Zeuge des Sofas“ war und die Ukraine – wie aktuell leider viele Berichterstatter – nur aus den Medien und der Ferne kannte. Er weiß gleichwohl um Grenzen seiner Kenntnisse, weshalb er beispielsweise zwei Gastbeiträge zu den besten Cafés in Lwiw und zur makroökonomischen Situation des Landes einflicht.
An der Einschätzung Russlands als bedrohende und destabilisierende Macht lässt er keinen Zweifel. Er untermauert diese Einschätzung mit historischen Daten, zahlreichen Zitaten und Fakten. Dass sehr viele Ukrainer keineswegs Brüder eines solchen großen Bruders sein wollen, versteht man dadurch sehr klar. Und ebenso die Europa-Ausrichtung des Landes, das seinen Fortschritt im Sozialen, Wirtschaftlichen und Sicherheitspolitischen dort sieht.
Im Kulturellen dagegen weniger. Die Ukraine erfreut sich, wie Brumme zeigt, schließlich eines großen Reichtums auf diesem Gebiet, ob es um die freiheitsliebenden Kosaken geht, um das Ukrainische, das 300 Jahre an Unterdrückung überstand, um Kulinarisches, Architektur, Feste, Rituale oder die Literatur.
Und hier sieht der Autor genauso wie sehr viele Ukrainer in Nikolaj Gogol einen, der allerlei Widersprüchliches, Seltsames, Unverständliches, manchmal Monströses im Alltag benennbar macht. „Das ist gogolesk“, kann man das Wort dafür übersetzen, dessen Bedeutungsreichtum so unausschöpflich ist wie der der Ukraine selbst.
„111 Gründe, die Ukraine zu lieben“ ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen, 14,99€.
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