Ein Jahr danach: Wie der Tomos die ortho­doxe Welt und die Ukraine ver­än­dert hat

© Shut­ter­stock

Die Aner­ken­nung der Eigen­stän­dig­keit der Ortho­do­xen Kirche der Ukraine war ein his­to­ri­sches Ereig­nis. Doch sie hat auch neue Stig­ma­ti­sie­run­gen und Span­nun­gen erzeugt. Ob die Unab­hän­gig­keit der ukrai­ni­schen Kirche mehr ist als ein poli­ti­sches Projekt wird sich erst in der Zukunft zeigen.

Portrait von Regina Elsner

Dr. Regina Elsner ist Theo­lo­gin und ver­tritt seit April 2023 den Lehr­stuhl für Ost­kir­chen­kunde und Öku­me­nik an der Uni­ver­si­tät Münster.

Vor einem Jahr, am 5./6. Januar 2019, erhielt eine ukrai­ni­sche Dele­ga­tion unter der Leitung von Metro­po­lit Epifany (Dumenko) und Prä­si­dent Petro Poro­schenko in Istan­bul die Urkunde über die Aner­ken­nung der Eigen­stän­dig­keit der erst im Dezem­ber 2018 begrün­de­ten Ortho­do­xen Kirche der Ukraine (OKU). Es war ein his­to­ri­sches Ereig­nis, seit vielen Jahr­zehn­ten von Mil­lio­nen Gläu­bi­gen ersehnt und von vielen ukrai­ni­schen Patrio­ten erhofft. Im Jahr 2018 hatten der andau­ernde Krieg Russ­lands gegen die Ukraine und der Wahl­kampf des dama­li­gen Prä­si­den­ten Poro­schenko die Frage der Abhän­gig­keit der Ukrai­ni­schen Ortho­do­xen Kirche (UOK) von Russ­land massiv poli­ti­siert und der seit 1992 schwe­len­den Hoff­nung auf eine natio­nale, unab­hän­gige ortho­doxe Kirche in der Ukraine neue Aktua­li­tät ver­lie­hen. Im Januar 2019 wurde nun der Traum Wirk­lich­keit, die sich aller­dings nüch­ter­ner zeigte, als die anfäng­li­che Eupho­rie es versprach.

Statt zuvor drei ortho­do­xer Kirchen, von denen nur eine kir­chen­recht­lich aner­kannt war, gibt es nun zwei ortho­doxe Kirchen im Land, die des Kyiver und die des Mos­kauer Patri­ar­chats , welche sich nicht in ihrer Glau­bens­lehre, wohl aber in ihren poli­ti­schen Ansich­ten unter­schei­den. Umfra­gen des Raz­um­kov-Zen­trums zeigen, dass viele Gläu­bige von der Poli­ti­sie­rung der Kir­chen­frage ermüdet sind. Dem ent­spricht, dass Petro Poro­schenko die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung auch mit Fragen der Reli­gion nicht (mehr) mani­pu­lie­ren konnte und die Wahl verlor. Die fort­be­stehende Spal­tung zwi­schen den beiden ortho­do­xen Kirchen zeigt auch, dass die Unab­hän­gig­keit der OKU kaum wie erhofft zu einer Ver­ei­ni­gung und Befrie­dung des Landes bei­getra­gen hat, sondern sogar im Gegen­teil neue Stig­ma­ti­sie­run­gen und Span­nun­gen erzeugte.

Die Ukrai­ni­sche Ortho­doxe Kirche des Mos­kauer Par­tri­ar­chats bleibt wei­ter­hin die größte Reli­gi­ons­ge­mein­schaft des Landes

Die aus­drück­lich neu­trale Haltung des neuen Prä­si­den­ten wird in dieser Hin­sicht von allen begrüßt – auch von der Ukrai­ni­schen Ortho­do­xen Kirche des Mos­kauer Par­tri­ar­chats (UOK), die wei­ter­hin in Gemein­schaft mit Moskau steht. Ihr wurde und wird vor­ge­wor­fen, als Pro­pa­ganda-Arm Russ­lands die Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine zu unter­wan­dern, und sie war beson­ders auf lokaler Ebene mas­si­vem admi­nis­tra­ti­ven Druck aus­ge­lie­fert. Einige Wechsel von Gemein­den und Kirch­ge­bäu­den zur neuen Kirche waren von Dro­hun­gen, Mani­pu­la­tio­nen und teil­weise von Gewalt beglei­tet. Die Kir­chen­lei­tung der OKU distan­zierte sich zwar von der Gewalt, dennoch ver­brei­tet die UOK das Bild einer neuen Kirchenverfolgung.

Ins­ge­samt ver­lie­fen die Wechsel jedoch weitaus unspek­ta­ku­lä­rer für beide Seiten: Am Ende des Jahres 2019 hatte die UOK sogar einen leich­ten Zuwachs an Gemein­den zu ver­zeich­nen und ist mit über 12.000 Gemein­den wei­ter­hin die größte Reli­gi­ons­ge­mein­schaft des Landes. Die neuen OKU folgt mit knapp 7000 Gemein­den, dies sind zum größten Teil die ehe­ma­li­gen Gemein­den des frü­he­ren Kyiver Patri­ar­chats und ca. 500 Gemein­den, die sich der Kirche im Laufe des Jahres ange­schlos­sen hatten. Der Zuwachs lies nach dem Wahl­sieg Zel­en­s­kijs radikal nach – ein Hinweis auf den dem Wahl­kampf geschul­de­ten Druck in den Regionen.

Oft sind die Kirchen mehr mit sich selbst beschäf­tigt als mit den  bren­nen­den sozi­al­ethi­schen Themen

Auch in Fragen der Zuge­hö­rig­keit zeigen Umfra­gen, dass für die meisten Men­schen die Auf­schrift am Kir­chen­tor weit weniger ent­schei­dend ist, als die ortho­doxe Tra­di­tion an sich: etwa 40% der Gläu­bi­gen geben an, „einfach ortho­dox“ zu sein. Das Nach­las­sen des poli­ti­schen Drucks führt so in der Ukraine zu einer Situa­tion, die für Länder in West­eu­ropa längst Nor­ma­li­tät und in kirch­li­cher Hin­sicht ohnehin die span­nen­dere Frage ist: Mehrere ortho­doxe (und andere christ­li­che) Kirchen exis­tie­ren neben­ein­an­der und ver­su­chen, die Men­schen mit ihrer Bot­schaft zu errei­chen und an gesell­schaft­li­che Debat­ten teil­zu­neh­men. Dabei bleibt nach wie vor abzu­war­ten, ob die ortho­do­xen Kirchen tat­säch­lich ohne poli­ti­sche Pri­vi­le­gie­rung zurechtkommen.

Der Kon­flikt um das Gesetz zur zwangs­läu­fi­gen Umbe­nen­nung der UOK als rus­si­sche Kirche und die schritt­weise, schlei­chende Aneig­nung des Namens „Ukrai­ni­sche Ortho­doxe Kirche“ durch die OKU in ihren Doku­men­ten, aber auch die Frage der Zulas­sung von Geist­li­chen der UOK als Mili­tär­seel­sor­ger illus­trie­ren, dass der rechts­staat­li­che Schutz der Reli­gi­ons­frei­heit eine blei­bende Her­aus­for­de­rung ist.

Die für die Ukraine bren­nen­den sozi­al­ethi­schen Themen wie soziale Gerech­tig­keit, Frieden, Umwelt­schutz, Wirt­schafts­ethik etc. spielen dagegen wei­ter­hin für keine der beiden ortho­do­xen Kirchen eine wich­tige Rolle – im Unter­schied zu mora­li­schen Themen, die unter dem Motto der „tra­di­tio­nel­len ukrai­ni­schen Werte“ wie eine leicht modi­fi­zierte Neu­auf­lage der rus­si­schen patri­ar­cha­len Ideen wirken. Ob die Unab­hän­gig­keit der ukrai­ni­schen Kirche mehr ist als ein poli­ti­sches Projekt wird sich erst zeigen, wenn ihr tat­säch­lich eine ernst­hafte Aus­ein­an­der­set­zung mit der Viel­falt der ukrai­ni­schen Gesell­schaft und ein auf­rich­ti­ger Dialog mit dieser gelingt.

Beide Kirchen kon­kur­rie­ren nun mit­ein­an­der –  ein inter­es­san­tes Modell ortho­do­xer Vielfalt

Die Ortho­doxe Kirche der Ukraine (OKU) wirbt auf ihrer Home­page mit dem Motto „Unsere Kirche ist offen für alle“. Nach der Über­win­dung erster inter­ner Krisen wie dem Macht­kampf des „Ehren­pa­tri­ar­chen“ Filaret (Denis­enko) zeugen die Ent­schei­dun­gen und Stel­lung­nah­men des Bischofs­kon­zils ein Jahr nach der Kir­chen­be­grün­dung vom Wunsch, sich auf Fragen der Seel­sorge zu kon­zen­trie­ren und einen mög­li­chen Reform­be­darf im Aus­tausch mit den Gläu­bi­gen zu erschließen.

Dazu gehören die Themen des Weih­nachts­ter­mins, also eine Ände­rung des kirch­li­chen Kalen­ders, der Lit­ur­gie­spra­che und anderer Fak­to­ren zur bes­se­ren Ver­ständ­lich­keit des Got­tes­diens­tes, aber auch Fragen der Ökumene, der Sozi­al­ar­beit und der Auf­ar­bei­tung der eigenen Geschichte. Die  OKU demons­triert Offen­heit gegen­über der Ukrai­nisch-Ortho­do­xen Kirche des Mos­kauer Patri­ar­chats, deren Kir­chen­lei­tung wie­derum deutet jede Ver­än­de­rung als Beweis des Abfalls von der Ortho­do­xie. Aller­dings hat sich die UOK auch auf ihre inter­nen seel­sor­ge­ri­schen Ange­le­gen­hei­ten zurück­ge­zo­gen und ver­sucht, pas­to­rale und soziale Arbeit zu ent­wi­ckeln. Wenn wei­ter­hin größere poli­ti­sche Mani­pu­la­tio­nen der Reli­gi­ons­frage aus­blei­ben, könnte sich also in der Ukraine ein inter­es­san­tes Modell ortho­do­xer Viel­falt entwickeln.

Inter­na­tio­nale Aus­wir­kun­gen – unge­löste Fragen in der ortho­do­xen Welt

Mit der Über­gabe des Tomos durch den Öku­me­ni­schen Patri­ar­chen Bar­tho­lo­maios I. im Januar 2019 wurde aber nicht nur die Ukraine, sondern auch die ortho­doxe Welt ver­än­dert. Bereits im Herbst 2018 war deut­lich gewor­den, dass das Patri­ar­chat von Moskau alles ihm Mög­li­che gegen eine unab­hän­gige Kirche in der Ukraine unter­neh­men würde. Das Vor­ge­hen des Öku­me­ni­schen Patri­ar­chen in der Ukraine wurde als grober Ein­griff in den Zustän­dig­keits­be­reich der Rus­si­schen Ortho­do­xen Kirche (ROK) ver­stan­den und bereits im Oktober 2018 mit dem ein­sei­ti­gen Abbruch der Kir­chen­ge­mein­schaft bestraft. Keine andere ortho­doxe Kirche folgte Moskau in diesem Schritt, so dass es zu keinem tat­säch­li­chen Schisma kam. Aller­dings brachte der Kon­flikt zwi­schen Moskau und dem Öku­me­ni­schen Patri­ar­chen in der Ukraine einige tief­grei­fende unge­löste Pro­bleme inner­halb der ortho­do­xen Kirche zum Vorschein.

Das betrifft vor allem Fragen des Kir­chen­rechts, Fragen von Zustän­dig­kei­ten, Macht und Ent­schei­dungs­pro­zes­sen. War das Handeln von Bar­tho­lo­maios kir­chen­po­li­ti­sche Anma­ßung oder pas­to­rale Sorge des „Ersten unter Glei­chen“, als welcher der Öku­me­ni­sche Patri­arch gilt? Hat er als Ehren­ober­haupt der Ortho­do­xen Kirche auch recht­li­che Pri­vi­le­gien, oder nur reprä­sen­ta­tive Vor­rechte? Aber auch das Mit­spra­che­recht von Bischö­fen, Pries­tern und Laien bei solch zen­tra­len Ent­schei­dun­gen wie dem Abbruch der Kir­chen­ge­mein­schaft oder der Aner­ken­nung von Kirchen wird von einigen Kir­chen­füh­rern  in Frage gestellt.

All diese Themen sind kir­chen­recht­lich nicht geklärt und werden nun seit einem Jahr inten­siv dis­ku­tiert. Sie brachen auch dort auf, wo weitere ortho­doxe Kirchen die Ortho­doxe Kirche der Ukraine  aner­kann­ten, so im Oktober 2019 die Ortho­doxe Kirche von Grie­chen­land und im Novem­ber 2019 das Patri­ar­chat von Alex­an­drien. In beiden Kirchen gibt es interne Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten zur Aner­ken­nung der Ortho­do­xen Kirche der Ukraine. In anderen Kirchen scheint eine Art „hybride Aner­ken­nung“ (Dmytro Horye­voy) statt­zu­fin­den – immer wieder gibt es Berichte von gemein­sa­men Got­tes­diens­ten von Geist­li­chen mit Pries­tern oder Bischö­fen der OKU, die jedoch offi­zi­ell weder bestä­tigt noch wider­legt (oder sank­tio­niert) werden. Sicher werden weitere Aner­ken­nun­gen folgen und damit einer­seits die OKU stärken, u.a. durch eine zuneh­mende Ein­bin­dung in inter­na­tio­nale theo­lo­gi­sche Dialoge, ande­rer­seits aber auch den Kon­flikt inner­halb der Ortho­do­xie verschärfen.

Das Prinzip der natio­na­len Kirchen schürt gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Konflikte

Ein zweiter Aspekt ist das theo­lo­gisch frag­wür­dige Prinzip der natio­na­len Kirchen, welches die ortho­do­xen Kirchen im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert äußerst anfäl­lig für natio­na­lis­ti­sche Strö­mun­gen in den jewei­li­gen Ländern gemacht hat. Bereits die Ukrai­ni­sche Ortho­doxe Kirche des Kyiver Patri­ar­chats musste sich gegen Vor­würfe wehren, natio­na­lis­ti­schen Grup­pie­run­gen in der Ukraine ihren Segen zu geben. Die Vor­würfe wurden nun zur Grün­dung  der Ortho­do­xen Kirche der Ukraine erneut laut, nicht zuletzt, weil natio­na­lis­ti­sche Bewe­gun­gen die Grün­dung einer „natio­na­len Kirche“ als Frei­brief für Aggres­sio­nen gegen Gläu­bige der UOK aus­leg­ten. Auch auf dem Balkan schüren die natio­na­len Zuge­hö­rig­kei­ten ortho­do­xer Gläu­bi­ger die gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Kon­flikte, aktuell etwa zwi­schen Serbien und Mon­te­ne­gro oder Nord­ma­ze­do­nien. Und auch da, wo alle ortho­do­xen Gläu­bi­gen in der Min­der­heit sind, also etwa in den USA oder in West­eu­ropa, führen die natio­na­len Zuge­hö­rig­keits­ge­fühle der Gläu­bi­gen immer wieder zu Kon­flik­ten, min­des­tens aber wider­spre­chen sie dem Bild von einer einigen Ortho­do­xen Kirche.

So zeigt sich nicht nur inner­halb der Ukraine, sondern auch in der Welt­or­tho­do­xie, dass die Grün­dung und Aner­ken­nung der Ortho­do­xen Kirche der Ukraine im Januar 2019 eher der Beginn neuer Her­aus­for­de­run­gen und Risiken war, als eine glor­rei­che Lösung eines langen Konflikts.

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