Ein Jahr danach: Wie der Tomos die orthodoxe Welt und die Ukraine verändert hat
Die Anerkennung der Eigenständigkeit der Orthodoxen Kirche der Ukraine war ein historisches Ereignis. Doch sie hat auch neue Stigmatisierungen und Spannungen erzeugt. Ob die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche mehr ist als ein politisches Projekt wird sich erst in der Zukunft zeigen.
Vor einem Jahr, am 5./6. Januar 2019, erhielt eine ukrainische Delegation unter der Leitung von Metropolit Epifany (Dumenko) und Präsident Petro Poroschenko in Istanbul die Urkunde über die Anerkennung der Eigenständigkeit der erst im Dezember 2018 begründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Es war ein historisches Ereignis, seit vielen Jahrzehnten von Millionen Gläubigen ersehnt und von vielen ukrainischen Patrioten erhofft. Im Jahr 2018 hatten der andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine und der Wahlkampf des damaligen Präsidenten Poroschenko die Frage der Abhängigkeit der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) von Russland massiv politisiert und der seit 1992 schwelenden Hoffnung auf eine nationale, unabhängige orthodoxe Kirche in der Ukraine neue Aktualität verliehen. Im Januar 2019 wurde nun der Traum Wirklichkeit, die sich allerdings nüchterner zeigte, als die anfängliche Euphorie es versprach.
Statt zuvor drei orthodoxer Kirchen, von denen nur eine kirchenrechtlich anerkannt war, gibt es nun zwei orthodoxe Kirchen im Land, die des Kyiver und die des Moskauer Patriarchats , welche sich nicht in ihrer Glaubenslehre, wohl aber in ihren politischen Ansichten unterscheiden. Umfragen des Razumkov-Zentrums zeigen, dass viele Gläubige von der Politisierung der Kirchenfrage ermüdet sind. Dem entspricht, dass Petro Poroschenko die ukrainische Bevölkerung auch mit Fragen der Religion nicht (mehr) manipulieren konnte und die Wahl verlor. Die fortbestehende Spaltung zwischen den beiden orthodoxen Kirchen zeigt auch, dass die Unabhängigkeit der OKU kaum wie erhofft zu einer Vereinigung und Befriedung des Landes beigetragen hat, sondern sogar im Gegenteil neue Stigmatisierungen und Spannungen erzeugte.
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Partriarchats bleibt weiterhin die größte Religionsgemeinschaft des Landes
Die ausdrücklich neutrale Haltung des neuen Präsidenten wird in dieser Hinsicht von allen begrüßt – auch von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Partriarchats (UOK), die weiterhin in Gemeinschaft mit Moskau steht. Ihr wurde und wird vorgeworfen, als Propaganda-Arm Russlands die Souveränität der Ukraine zu unterwandern, und sie war besonders auf lokaler Ebene massivem administrativen Druck ausgeliefert. Einige Wechsel von Gemeinden und Kirchgebäuden zur neuen Kirche waren von Drohungen, Manipulationen und teilweise von Gewalt begleitet. Die Kirchenleitung der OKU distanzierte sich zwar von der Gewalt, dennoch verbreitet die UOK das Bild einer neuen Kirchenverfolgung.
Insgesamt verliefen die Wechsel jedoch weitaus unspektakulärer für beide Seiten: Am Ende des Jahres 2019 hatte die UOK sogar einen leichten Zuwachs an Gemeinden zu verzeichnen und ist mit über 12.000 Gemeinden weiterhin die größte Religionsgemeinschaft des Landes. Die neuen OKU folgt mit knapp 7000 Gemeinden, dies sind zum größten Teil die ehemaligen Gemeinden des früheren Kyiver Patriarchats und ca. 500 Gemeinden, die sich der Kirche im Laufe des Jahres angeschlossen hatten. Der Zuwachs lies nach dem Wahlsieg Zelenskijs radikal nach – ein Hinweis auf den dem Wahlkampf geschuldeten Druck in den Regionen.
Oft sind die Kirchen mehr mit sich selbst beschäftigt als mit den brennenden sozialethischen Themen
Auch in Fragen der Zugehörigkeit zeigen Umfragen, dass für die meisten Menschen die Aufschrift am Kirchentor weit weniger entscheidend ist, als die orthodoxe Tradition an sich: etwa 40% der Gläubigen geben an, „einfach orthodox“ zu sein. Das Nachlassen des politischen Drucks führt so in der Ukraine zu einer Situation, die für Länder in Westeuropa längst Normalität und in kirchlicher Hinsicht ohnehin die spannendere Frage ist: Mehrere orthodoxe (und andere christliche) Kirchen existieren nebeneinander und versuchen, die Menschen mit ihrer Botschaft zu erreichen und an gesellschaftliche Debatten teilzunehmen. Dabei bleibt nach wie vor abzuwarten, ob die orthodoxen Kirchen tatsächlich ohne politische Privilegierung zurechtkommen.
Der Konflikt um das Gesetz zur zwangsläufigen Umbenennung der UOK als russische Kirche und die schrittweise, schleichende Aneignung des Namens „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ durch die OKU in ihren Dokumenten, aber auch die Frage der Zulassung von Geistlichen der UOK als Militärseelsorger illustrieren, dass der rechtsstaatliche Schutz der Religionsfreiheit eine bleibende Herausforderung ist.
Die für die Ukraine brennenden sozialethischen Themen wie soziale Gerechtigkeit, Frieden, Umweltschutz, Wirtschaftsethik etc. spielen dagegen weiterhin für keine der beiden orthodoxen Kirchen eine wichtige Rolle – im Unterschied zu moralischen Themen, die unter dem Motto der „traditionellen ukrainischen Werte“ wie eine leicht modifizierte Neuauflage der russischen patriarchalen Ideen wirken. Ob die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche mehr ist als ein politisches Projekt wird sich erst zeigen, wenn ihr tatsächlich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vielfalt der ukrainischen Gesellschaft und ein aufrichtiger Dialog mit dieser gelingt.
Beide Kirchen konkurrieren nun miteinander – ein interessantes Modell orthodoxer Vielfalt
Die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) wirbt auf ihrer Homepage mit dem Motto „Unsere Kirche ist offen für alle“. Nach der Überwindung erster interner Krisen wie dem Machtkampf des „Ehrenpatriarchen“ Filaret (Denisenko) zeugen die Entscheidungen und Stellungnahmen des Bischofskonzils ein Jahr nach der Kirchenbegründung vom Wunsch, sich auf Fragen der Seelsorge zu konzentrieren und einen möglichen Reformbedarf im Austausch mit den Gläubigen zu erschließen.
Dazu gehören die Themen des Weihnachtstermins, also eine Änderung des kirchlichen Kalenders, der Liturgiesprache und anderer Faktoren zur besseren Verständlichkeit des Gottesdienstes, aber auch Fragen der Ökumene, der Sozialarbeit und der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Die OKU demonstriert Offenheit gegenüber der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, deren Kirchenleitung wiederum deutet jede Veränderung als Beweis des Abfalls von der Orthodoxie. Allerdings hat sich die UOK auch auf ihre internen seelsorgerischen Angelegenheiten zurückgezogen und versucht, pastorale und soziale Arbeit zu entwickeln. Wenn weiterhin größere politische Manipulationen der Religionsfrage ausbleiben, könnte sich also in der Ukraine ein interessantes Modell orthodoxer Vielfalt entwickeln.
Internationale Auswirkungen – ungelöste Fragen in der orthodoxen Welt
Mit der Übergabe des Tomos durch den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. im Januar 2019 wurde aber nicht nur die Ukraine, sondern auch die orthodoxe Welt verändert. Bereits im Herbst 2018 war deutlich geworden, dass das Patriarchat von Moskau alles ihm Mögliche gegen eine unabhängige Kirche in der Ukraine unternehmen würde. Das Vorgehen des Ökumenischen Patriarchen in der Ukraine wurde als grober Eingriff in den Zuständigkeitsbereich der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) verstanden und bereits im Oktober 2018 mit dem einseitigen Abbruch der Kirchengemeinschaft bestraft. Keine andere orthodoxe Kirche folgte Moskau in diesem Schritt, so dass es zu keinem tatsächlichen Schisma kam. Allerdings brachte der Konflikt zwischen Moskau und dem Ökumenischen Patriarchen in der Ukraine einige tiefgreifende ungelöste Probleme innerhalb der orthodoxen Kirche zum Vorschein.
Das betrifft vor allem Fragen des Kirchenrechts, Fragen von Zuständigkeiten, Macht und Entscheidungsprozessen. War das Handeln von Bartholomaios kirchenpolitische Anmaßung oder pastorale Sorge des „Ersten unter Gleichen“, als welcher der Ökumenische Patriarch gilt? Hat er als Ehrenoberhaupt der Orthodoxen Kirche auch rechtliche Privilegien, oder nur repräsentative Vorrechte? Aber auch das Mitspracherecht von Bischöfen, Priestern und Laien bei solch zentralen Entscheidungen wie dem Abbruch der Kirchengemeinschaft oder der Anerkennung von Kirchen wird von einigen Kirchenführern in Frage gestellt.
All diese Themen sind kirchenrechtlich nicht geklärt und werden nun seit einem Jahr intensiv diskutiert. Sie brachen auch dort auf, wo weitere orthodoxe Kirchen die Orthodoxe Kirche der Ukraine anerkannten, so im Oktober 2019 die Orthodoxe Kirche von Griechenland und im November 2019 das Patriarchat von Alexandrien. In beiden Kirchen gibt es interne Meinungsverschiedenheiten zur Anerkennung der Orthodoxen Kirche der Ukraine. In anderen Kirchen scheint eine Art „hybride Anerkennung“ (Dmytro Horyevoy) stattzufinden – immer wieder gibt es Berichte von gemeinsamen Gottesdiensten von Geistlichen mit Priestern oder Bischöfen der OKU, die jedoch offiziell weder bestätigt noch widerlegt (oder sanktioniert) werden. Sicher werden weitere Anerkennungen folgen und damit einerseits die OKU stärken, u.a. durch eine zunehmende Einbindung in internationale theologische Dialoge, andererseits aber auch den Konflikt innerhalb der Orthodoxie verschärfen.
Das Prinzip der nationalen Kirchen schürt gesellschaftliche und politische Konflikte
Ein zweiter Aspekt ist das theologisch fragwürdige Prinzip der nationalen Kirchen, welches die orthodoxen Kirchen im vergangenen Jahrhundert äußerst anfällig für nationalistische Strömungen in den jeweiligen Ländern gemacht hat. Bereits die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kyiver Patriarchats musste sich gegen Vorwürfe wehren, nationalistischen Gruppierungen in der Ukraine ihren Segen zu geben. Die Vorwürfe wurden nun zur Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine erneut laut, nicht zuletzt, weil nationalistische Bewegungen die Gründung einer „nationalen Kirche“ als Freibrief für Aggressionen gegen Gläubige der UOK auslegten. Auch auf dem Balkan schüren die nationalen Zugehörigkeiten orthodoxer Gläubiger die gesellschaftlichen und politischen Konflikte, aktuell etwa zwischen Serbien und Montenegro oder Nordmazedonien. Und auch da, wo alle orthodoxen Gläubigen in der Minderheit sind, also etwa in den USA oder in Westeuropa, führen die nationalen Zugehörigkeitsgefühle der Gläubigen immer wieder zu Konflikten, mindestens aber widersprechen sie dem Bild von einer einigen Orthodoxen Kirche.
So zeigt sich nicht nur innerhalb der Ukraine, sondern auch in der Weltorthodoxie, dass die Gründung und Anerkennung der Orthodoxen Kirche der Ukraine im Januar 2019 eher der Beginn neuer Herausforderungen und Risiken war, als eine glorreiche Lösung eines langen Konflikts.
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