„Eine solche Minenbelastung habe ich vorher noch nie gesehen“
Weite Gebiete der Ukraine sind durch Russlands Angriffskrieg mit Landminen und Blindgängern verseucht. Es wird Jahrzehnte dauern, die Regionen für die Menschen wieder sicherzumachen – was sich auch auf den globalen Getreidehandel auswirkt. Sascha E. Ostanina sprach darüber mit der NGO „The HALO Trust“.
30 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets sind aktuell mit russischen Minen und Blindgängern belastet – das verminte Gelände in der Ukraine ist damit doppelt so groß wie Österreich.
Bereits während des Krieges im Donbas zwischen 2014 und 2022 hinterließen die russischen Truppen Minen und Blindgänger: Etwa acht Prozent des ukrainischen Staatsgebiets waren kontaminiert. Schon damals war die Ostukraine damit eines der größten minenverseuchten Gebiete der Erde: Über zwei Millionen Einwohner gerieten dadurch in Gefahr. Weltweit stand die Ukraine an dritter Stelle bei den Unfällen mit Antifahrzeugminen – und an vierter Stelle bei den durch Minen und Blindgänger verursachten Todesopfern.
Durch die russische Invasion seit Februar 2022 wurde der Donbas nun erneut kontaminiert. Darüber hinaus sind jetzt auch die nördlichen und südlichen Regionen der Ukraine stark betroffen.
„Eine solche Minenbelastung habe ich vorher noch nie gesehen, nicht einmal in Syrien“
„Es handelt sich um ein gewaltiges Ausmaß. In Gebieten wie Balaklija oder Isjum [Region Charkiw, Anmerkung der Redaktion] ist die Dichte der Minenfelder untragbar. Man bekommt das Gefühl, jemand hätte eine riesige Anzahl von Minen zur Verfügung gehabt und beschlossen, sie alle zu verwenden. So etwas habe ich vorher noch nie gesehen, nicht einmal in Syrien“, erklärt Julia Tschykolba, die bei der NGO „HALO Trust“ mit der Aufklärung über Kampfmittelrisiken befasst ist.
Russland hatte sich verpflichtet, den Einsatz von Minen einzuschränken
Dabei hat Russland sich mit der Ratifizierung der Konvention über bestimmte konventionelle Waffen (Protokoll II über Landminen, Sprengfallen und andere Vorrichtungen) im Jahr 2004 verpflichtet, den Einsatz von Minen, Sprengfallen und ähnlichen Vorrichtungen einzuschränken, um die Zivilbevölkerung vor diesen Waffen zu schützen. Verstöße gegen diese Verpflichtung – wie zum Beispiel das Versäumnis, die genauen Standorte der ausgelegten Minen und Sprengfallen zu kartieren – stellen ein Kriegsverbrechen dar.
Komplizierte Minenräumung
Die russischen Landminen in der Ukraine sind willkürlich und planlos über zivile Gebiete verstreut. Nur wenige Gebiete, in denen den russischen Truppen die Zeit oder das Fachwissen fehlte, um die Umgebung gründlich zu verminen, sind relativ gefahrlos zugänglich. Die Region Kyjiw zählt zu diesen Gebieten. Dort schafften die russischen Truppen es lediglich, Antifahrzeugminen als Verteidigungslinien zu legen, bevor sie von den ukrainischen Streitkräften zum Rückzug gezwungen wurden. Deshalb wurde die Region Kyjiw zu einem der ersten Standorte der humanitären Minenräumung.
Sprengfallen an Kinderspielzeug und Haushaltsgeräten
Je länger ein Gebiet durch die russischen Streitkräfte besetzt war, desto komplizierter stellt sich dort die Minenräumung dar. Die Region Tschernihiw zum Beispiel ist mit russischen Antipersonen- und Antifahrzeugminen, Sprengfallen, mit an Spielzeug und Haushaltsgeräten befestigten Minen – sowie mit menschlichen und tierischen Leichen – übersät. Hinzu kommen tonnenweise Blindgänger: Geschosse, Streumunition, Überreste von Hightechwaffensystemen, Überreste thermobarer Waffen, Trümmer von Sprengstoffdrohnen. Ähnliche Herausforderungen werden in den vor Kurzem befreiten Gebieten wie der Region Cherson erwartet.
Keine Minenräumung in Frontgebieten
„Wenn Gebiete von der ukrainischen Armee befreit wurden, dauert es oft eine Weile, bevor wir als humanitäre Helfer sicher hineingehen und mit der Entminung beginnen können. Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Mitarbeiter nicht in Gefahr bringen. In Frontgebieten können wir keine Minenräumung durchführen, dort gibt es eine Bedrohung durch Artillerie. Außerdem besteht das Risiko, dass sich die Frontlinie verschiebt und die russischen Truppen das Gebiet erneut verminen“, erklärt Mairi Cunningham, Programmmanagerin für die Ukraine bei „HALO Trust“.
Unfälle durch Minen und Blindgänger
Seit Februar 2022 verzeichnete „HALO Trust“ in der Ukraine 313 Unfälle im Zusammenhang mit Minen und Detonationen von Blindgängern. Bei diesen Unfällen, von denen fast die Hälfte durch Antifahrzeugminen verursacht wurde, wurden laut „HALO Trust“ 168 Menschen getötet und 379 verletzt. Die Minen- und Blindgängerdetonationen werden weiter zunehmen, wenn die ukrainische Bevölkerung versucht, zu ihrem normalen Leben zurückzukehren. Diese Dynamik hatte sich bereits im Donbas gezeigt: Die Zahl der Minenopfer erhöhte sich allmählich und lag zwischen 2014 und Ende 2021 bei über 2.000 Opfern.
Beeinträchtigung der landwirtschaftlichen Produktion
Landminen und Blindgänger erschweren aber auch den Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen, Straßen und ländlichen Wegen. In der Ukraine produzieren kleinbäuerliche Betriebe 30 Prozent der Ernte und bis zu 50 Prozent der viehwirtschaftlichen Erzeugnisse. Die Landminen machen Landwirtschaft zu einem großen Risiko und beeinträchtigen die landwirtschaftliche Produktion, was sich wiederum negativ auf das Wohlergehen des Einzelnen, die Sanierung des Staatshaushalts und den internationalen Agrarhandel auswirkt.
Auswirkungen auf den internationalen Weizenpreis
Vor der russischen Invasion lieferte die Ukraine – einer der größten Getreideexporteure der Welt – jährlich 45 Millionen Tonnen Getreide auf den Weltmarkt. Als die russischen Truppen die Kontrolle über die ukrainischen Küstengebiete übernahmen, war die Ukraine gezwungen, ihre Agrarexporte auszusetzen. Das ließ den internationalen Weizenpreis in den folgenden zwei Wochen um 70 Prozent ansteigen. Nach einer fünfmonatigen russischen Blockade konnte die Ukraine den Export von Nahrungsmitteln teilweise wieder aufnehmen und exportierte ab Januar 2023 18 Millionen Tonnen landwirtschaftliche Erzeugnisse, unter anderem in die von Hungersnot bedrohten Gebiete in Kenia, Afghanistan, Bangladesch, Jemen, Äthiopien und Somalia.
Die Ukraine wird jedoch ihre Nahrungsmittelexporte in der kommenden Saison wahrscheinlich weiter reduzieren müssen. Die Aussaatflächen sind im Zusammenhang mit der russischen Invasion deutlich verkleinert – auch durch die Kontaminierung der Böden mit Landminen und Blindgängern.
Anmerkung der Redaktion: Human Rights Watch wirft auch den ukrainischen Streitkräften den Einsatz von Landminen in der Gegend von Isjum vor. Das ukrainische Außenministerium hat eine Untersuchung des Berichts über die eingesetzten Antipersonenminen angekündigt.
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