Ein anderer Blick auf die Ukraine
Für die Ukraine geht es heute darum, einen souveränen Nationalstaat aufzubauen – im Sinne einer politischen Nation, nicht einer ethnischen Gemeinschaft. Von Ralf Fücks
Weshalb ist Geschichte wichtig? Ich würde das gerne in dem Satz bündeln: Weil historische Mythen unseren Blick auf die Gegenwart prägen, unser Bild von der Gegenwart prägen. Zu diesen historischen Mythen über die Ukraine gehört die Ukraine als Täternation, die im zweiten Weltkrieg als Kollaborateur der Deutschen agiert hat und von Russland als Opfernation. Das prägt bis heute die Wahrnehmung, wenn man etwa die Interpretation des Maidan in der deutschen Öffentlichkeit nimmt. Bei uns gibt es eine hohe Bereitschaft, Faschismusalarm auszulösen, also die Ukraine immerzu unter Faschismusverdacht zu stellen. Deshalb ist es so wichtig herauszuarbeiten, dass es zwar einen ukrainischen Faschismus, dass es ukrainische Kollaboration gab, wie es die Kollaboration in Russland, in Frankreich, in den Niederlanden gegeben hat – dass das aber nicht die ganze Geschichte erzählt. Die Ukraine hat einen ungeheuren Blutzoll gezahlt im 2. Weltkrieg. Es gab ukrainische Partisanen gegen die deutsche Besatzung und Millionen ukrainische Soldaten in der roten Armee. Man muss daran erinnern, diesen Mythos von der „faschistischen Ukraine“ zu dekonstruieren.
Wir wollen nicht zurück zu einem neuen Jalta
Das gilt auch für das Vorurteil, das auch ein ehemaliger deutscher Kanzler wiederholt hat: dass die Ukraine gar keine wirkliche Nation sei. Offenbar betrachtete auch Helmut Schmidt die Ukraine als ein Kunstgebilde, dem kein Recht auf politische Souveränität zusteht. Das ist eine hoch aktuelle Frage, wenn es darum geht anzuerkennen, dass die Ukraine wie die anderen postsowjetischen Republiken auch als eigenständiges politisches Subjekt wahrgenommen wird. Der postsowjetische Raum ist eben nicht Verhandlungsmasse für ein neues deutsch-russisches Arrangement über die Zukunft Europas. Das ist der Kern der aktuellen Auseinandersetzung: Wir wollen nicht zurück zu einem neuen Jalta.
Nationale Souveränität ist für die Ukraine eine Frage von Sein oder Nicht-Sein
Ich möchte auf einen weiteren Gesichtspunkt hinweisen, der bisher in der Diskussion kaum eine Rolle gespielt hat: Das ist die historische Ungleichzeitigkeit zwischen der Ukraine und Deutschland. Wir befinden uns in der gleichen Epoche, wir leben in einem Europa, aber es gibt in Deutschland wenig Verständnis dafür, dass die Ukraine an einem anderen Punkt ihrer historischen Entwicklung ist. Für die Ukraine geht es heute darum, sich zur politischen Nation auszubilden und einen souveränen Nationalstaat aufzubauen – im Sinne einer politischen Nation, nicht einer ethnischen Gemeinschaft. Dagegen herrscht bei den deutschen politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Eliten die Vorstellung, wir würden schon im postnationalen Zeitalter leben. So etwas wie nationale Souveränität sei eigentlich ein Anachronismus – während es für die Ukraine eine Frage von Sein oder Nicht-Sein bedeutet. Das gilt auch für die Bedeutung des Militärs als Mittel, die nationale Unabhängigkeit und Freiheit zu verteidigen. Bei uns kann kaum jemand nachvollziehen, weshalb sich Menschen freiwillig melden, um für ihr Land zu kämpfen. An diesem Bewusstsein der historischen Ungleichzeitigkeit zu arbeiten und dafür in Deutschland Verständnis zu schaffen ist ein wichtiger Punkt der geschichtspolitischen Auseinandersetzung.
Was wir tun können
Zum Schluss noch zu der berühmten Frage „Was tun?“. Mir fallen dazu drei Vorschläge ein. Der erste zielt auf die verstärkte wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, den Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen, Künstlern, zivilgesellschaftlichen Akteuren der Ukraine und der Bundesrepublik. Dafür braucht es einen organisierten Rahmen, zum Beispiel Stipendienprogramme oder gemeinsame Forschungsprojekte.
Bei allen Schwierigkeiten ist entscheidend, dass der Prozess der demokratischen Reformen weitergeht
Der zweite Vorschlag zielt auf eine Public Diplomacy – Offensive für die Ukraine. Das kann ich aus Berliner Perspektive nur unterstreichen. Bei allen respektablen Anstrengungen der kleinen diplomatischen Vertretung in Berlin kann man es nicht alleine der ukrainischen Botschaft überlassen für Gegenöffentlichkeit zu sorgen und um Sympathie für die Ukraine zu werben. Dabei spielen auch zivilgesellschaftliche Akteure eine große Rolle. Schließlich ein dritter Punkt: Wenn wir von der deutschen Verantwortung reden, dann erübrigt das nicht die eigene Verantwortung der Ukraine, wie sie heute in Europa wahrgenommen wird. Und dafür ist ganz entscheidend, dass bei allen Schwierigkeiten der Prozess der demokratischen Reformen weitergeht. Die Reformation von Wirtschaft, Verwaltung und Justiz ist eine entscheidende Bedingung dafür, dass die Ukraine im Westen als etwas Hoffnungsvolles wahrgenommen wird und nicht als eine verlorene Sache, die man am liebsten so schnell wie möglich loswerden möchte.
Der Beitrag basiert auf einem Vortrag bei der deutsch-ukrainischen Konferenz „Deutschland und Ukraine in Europa: Verantwortung für die Vergangenheit – Verpflichtung für die Zukunft“, die am 10. Juli im ukrainischen Parlament stattfand.
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