Wie soll man in einem endlosen Regen leben?
Das Ukrainische Filmfestival in Berlin wurde mit „This Rain Will Never Stop“ eröffnet – einem kraftvollen und stilvollen Dokumentarfilm in Schwarz-Weiß, der an die Kriege in der Ukraine und Syrien erinnert. In emotionaler Distanz beobachtet die Regisseurin Alina Gorlova den Weg des Protagonisten und lädt ein, über die durch politische Konflikte verzerrte Identitäten nachzudenken. Von Anton Dorokh
Erinnern Sie sich, wer jetzt Mosul oder Aleppo kontrolliert? Kennen Sie die neuesten Entwicklungen in der trilateralen Kontaktgruppe, die über Frieden in der Ostukraine verhandelt? Wie oft wurden ukrainische Stellungen in den letzten 24 Stunden beschossen und wo sind die syrischen Flüchtlinge aus dem Lager auf der Insel Lesbos jetzt? Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon 7, der in Syrien 10 Jahre, aber die Medien scheinen ihn vergessen zu haben, als ob beide Konflikte vorbei wären.
Im Laufe der Jahrtausende hat die Menschheit zum Thema Kriegsende soziale Szenarien geschaffen. Es gibt Tribunale und Wiedergutmachungen, Denkmäler und Museen. Aber was tun mit Menschen, deren Krieg noch andauert und dessen Ende nicht in Sicht ist? Über dieses wichtige Thema sprechen nur wenige Menschen. Wie mit Traumata leben, wenn traumatische Ereignisse noch andauern? Wie erzählt man eine Geschichte ohne Ende? Dieser Frage widmet sich der dritte abendfüllende Film der ukrainischen Regisseurin Alina Gorlova „This Rain Will Never Stop“ (Dieser Regen wird nie aufhören).
Andrij Suleimans Odyssee begann, als er noch Teenager war und in Syrien lebte. Auf der Flucht vor dem Krieg zog die Familie in die Heimat von Andrijs Mutter in die ostukrainische Region Luhansk, wo sie einige Jahre später erneut vom Krieg heimgesucht wurde. Andrij arbeitet als Freiwilliger beim Roten Kreuz: Er verteilt Kanonenöfen an der Demarkationslinie, liest eine Rede zur Feier des 100-jährigen Bestehens der Organisation und versucht den Kollegen die Vielschichtigkeit des syrischen Konflikts zu erklären. Ein Teil von Andrijs Familie lebt noch immer im Nahen Osten, und dorthin führt sein Weg.
Der schwarz-weiße Bilderstrom ist in Kapitel unterteilt. Neben der Geschichte des Protagonisten zeigt es Aufnahmen der Parade zum Unabhängigkeitstag der Ukraine gemischt mit Landschaften der felsigen syrischen Wüste und Bildern der LGBTQ+ Pride-Parade in Hamburg. Der Aufgabe, uns über den Ort des Geschehens zu informieren, werden diese Aufnahmen gerecht, aber abgesehen vom Motiv der Massenrituale haben sie nichts gemein. Die Entscheidung, Deutschland durch eine Christopher-Street-Day-Parade einzuführen, wirkt etwas stereotyp, wenn etwa auch in der Ukraine mittlerweile in mehreren Städten Pride-Veranstaltungen stattfinden. Die Geschichte der Kurden ist eng mit dem Kampf um die Eigenstaatlichkeit verbunden, aber wir sehen sie bei der Novruz-Feier (persisches Neujahr), und nicht bei einer politischen Versammlung.
Auch in ihrem vorherigen Film widmete Gorlova dem Thema Kriegsfolgen. „No Obvious Signs“ (2018) erzählt die Geschichte einer ukrainischen Kriegsveteranin, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, mit Panikattacken kämpft, und zu einem friedlichen Leben zurückzukehren versucht. Die Kamera hat keine Angst vor kurzen Distanzen, wodurch die Zuschauer die Protagonistin und ihren Zustand besser verstehen können. „This Rain Will Never Stop “ ist das genaue Gegenteil. Andrij ist oft zu weit vom Kameraobjektiv entfernt. Irgendwann merkt man, dass so etwas wie ein emotionaler Graben zwischen ihm und den Zuschauern entsteht. Wir wissen nicht, was er durchmacht, was er denkt, was ihn beunruhigt und was ihn glücklich macht. Wenn er Odysseus ist, dann schleppen wir uns auf dem dahinter liegenden Schiff ihm hinterher und versuchen durch das Fernrohr, in den Bewegungen des Kapitäns zumindest eine Motivation zu erkennen.
Harzige Wasserbilder, graue statische Landschaften und eindringliche (ab und zu verstörende) elektronische Musik sind für die Atmosphäre in diesem Film verantwortlich. Manchmal greift die Regisseurin auf rhythmische Schnitte zurück, entweder um die Gefühle des Protagonisten zu ersetzen oder um sie hervorzuheben. Man kommt nicht daran vorbei, die Kameraführung in diesem Film auszuzeichnen. Von den ersten Minuten an fallen die Bilder der Parade zum Unabhängigkeitstag ins Auge und bleiben hängen, bis sie durch die Bilder aus dem nächsten Abschnitt ersetzt werden. Aber irgendwann werden die Augen müde, versuchen sich zu entspannen, und dann sind wir weit weg, in den Landschaften des Nahen Ostens, die sich farblich weder von der Ukraine noch von Deutschland unterscheiden.
Man könnte dies als Mängel bezeichnen, aber vielleicht fühlt sich Andrij genauso? Nach der zweiten Kollision versucht Andrij nicht, dem Krieg zu entkommen, im Gegenteil: Er rückt verhalten an das Zentrum des Sturms heran. Und im Kontrast zu den Aufnahmen der Militärparade scheint uns ein neues Bild geboten zu werden: ein Held ohne Heroisierung. Tatsächlich ähnelt Andrijs Flugbahn eher der Bewegung eines Planeten, der in ein Schwarzes Loch gezogen wird. Wir können nicht verstehen, wie er sich fühlt, aber wir sehen einen Mann, der in das Gravitationsfeld des Krieges geraten ist und sich nicht mehr befreien kann. Und auch wenn wir keine tiefe psychologische Antwort auf die Frage bekommen, wie man leben soll, wenn der Regen nie aufhört, so können wir deutlich sehen, dass das Leben auch im Regen weitergeht.
Diese Filmkritik ist im Workshop „Young Critics“ des Ukrainian Filmfestival Berlin entstanden. Gefördert durch das Programm „Culture for changes“ der Ukrainischen Kulturstiftung und der Stiftung EVZ. Das zweite ukrainische Filmfestival fand vom 7. – 17. Oktober in Berlin, Stuttgart und online statt.
Aus dem Ukrainischen von Kateryna Rietz-Rakul.
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